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"Der Zweck der Regierung ist das Wohl der Menschheit"

Der englische Staatsphilosoph John Locke war der Erste, der die Idee der Volkssouveränität ausführlich begründete. Sein 1690 erschienenes Standardwerk "Two Treatises of Government" prägt bis heute das politische Denken der westlichen Welt.

Von Michael Kuhlmann | 27.08.2012
    Der englische König Georg III. kochte vor Wut. Da glaubten ein paar Hinterwäldler jenseits des Atlantiks, sie könnten sich mit ihren "Vereinigten Staaten" selbstständig machen. Und sie begannen ihr Pamphlet mit starken Worten.

    Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden. Dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden. Worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Dass zur Versicherung dieser Rechte Regierungen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten.

    Die Präambel zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Bis heute beruft sich die Weltmacht USA auf dieses geistige Fundament. Ausgerechnet ein Brite hat bei der Formulierung Pate gestanden: der Philosoph John Locke. Das Bekenntnis zu Freiheit und Gleichheit von Geburt her, zu Menschenrechten und zur Volkssouveränität – die Amerikaner hatten es geradezu von Locke abgeschrieben. Und so prägen John Lockes "Two Treatises of Government" von 1690 de facto bis heute das politische Denken der westlichen Welt. Die Rechte des Einzelnen standen schon am Beginn von Lockes Überlegungen. Alle Menschen, so schrieb er, hätten von Natur aus das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum.

    Das große Ziel liegt im friedlichen und sicheren Genuß ihres Eigentums. Das große Mittel dazu sind die Gesetze, die in der Gesellschaft erlassen worden sind. So ist das erste Gesetz aller Staaten die Begründung der legislativen Gewalt.

    Einer Volksvertretung – würde man heute vereinfacht sagen. So zu denken, war 1690 in Lockes England noch ungewöhnlich. Noch wenige Jahrzehnte zuvor hatte sich das Parlament mit der Krone einen blutigen Bürgerkrieg um die Macht geliefert. Erst in der Glorious Revolution von 1688 kamen die Volksvertreter endlich voran: Ein neuer König, Wilhelm III., schien nun vorerst in die Schranken gewiesen. Ganz stabil aber war die Lage immer noch nicht; und so veröffentlichte John Locke sein Manuskript, das er schon länger in der Schublade hatte. Das Parlament war nun also die Nummer eins im Staatsgebilde. Aber – so Locke – die Macht hatte es vom Volk nur zu treuen Händen erhalten. Einzig um die elementaren Rechte der Bürger zu schützen. Nur so viel Staat wie nötig, sagt Locke zwischen den Zeilen. Und er schränkt noch weiter ein:

    Bei der Schwäche der menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen, würde es eine zu große Versuchung sein, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch noch die Macht in die Hände bekämen, diese Gesetze zu vollstrecken.

    Also braucht es neben dem Parlament eine separate vollstreckende Gewalt, eine Exekutive. Sie ist teilweise Werkzeug des Parlaments; teilweise darf sie sich umgekehrt in die Parlamentsarbeit einmischen. Heute spiegelt sich das im Miteinander von US-Präsident und Kongress oder von Deutschem Bundestag und Bundesregierung. Diese Gewaltenteilung hatte Locke nicht erfunden; und er entwickelte nur ein rudimentäres Modell. Aber er war der Erste, der die Dinge zusammenbrachte: einen rational und nicht mehr religiös begründeten Staat. Rechtssicherheit und Freiheit für alle. Und eine Machtbalance aus Legislative und Regierung.

    Der Zweck der Regierung ist das Wohl der Menschheit. Was ist aber nun am besten für die Menschheit: dass das Volk immer dem schrankenlosen Willen der Tyrannei preisgegeben ist? Oder dass die Herrscher zuweilen mit Widerstand rechnen müssen, wenn sie im Gebrauch ihrer Gewalt maßlos werden und sie zum Verderben ihres Volkes anwenden?

    Damit meint Locke auch die Legislative – denn das Parlament könnte auch Gesetze erlassen, die dem Volk schaden. Zum Beispiel könnte es maßlos die Steuern erhöhen oder die bürgerliche Freiheit einschränken. Hier kommt die Volkssouveränität wieder ins Spiel. Und das nicht nur, indem das Volk seine Vertreter alle paar Jahre wählt. Sondern das Volk hat noch viel weitergehende Rechte.

    Wann immer die Gesetzgeber bestrebt sind, dem Volk sein Eigentum zu nehmen oder das Volk in Sklaverei unter ihre willkürliche Gewalt zu bringen, versetzen sie sich dem Volk gegenüber in einen Kriegszustand. Die Legislative verwirkt durch einen solchen Vertrauensbruch die Macht. Die Macht fällt an das Volk zurück, das dann ein Recht hat, seine ursprüngliche Freiheit wiederaufzunehmen und durch die Errichtung neuer Legislative für seine eigene Wohlfahrt und Sicherheit zu sorgen.

    Das bedeutet, dass das Volk sogar das Machtsystem verändern kann: Es kann sich, notfalls auch mit Gewalt, eine neue Verfassung geben. Das war 1690 selbst in England noch so starker Tobak, dass Locke die "Two Treatises of Government" sicherheitshalber anonym veröffentlichte. Erst nach seinem Tod 1704 sprach es sich herum, wer das Buch geschrieben hatte. Denker des 18. Jahrhunderts, die wie der Staatstheoretiker Charles de Montesquieu geistig die Französische Revolution vorbereiteten – sie alle haben die "Two Treatises" studiert. In Deutschland freilich blieb das Interesse bis ins 20. Jahrhundert gering. Die einen mäkelten zu Recht, dass Locke als Denker einem Immanuel Kant eben doch nicht das Wasser reichen konnte. Den anderen – und das waren wahrscheinlich mehr – passte Lockes Idee vom souveränen Volk nicht. Es war eben ungleich bequemer, seine Verantwortung an den Obrigkeitsstaat abzugeben. Lockes Philosophie aber prägt den Grundgesetzartikel 20 – wonach die Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Und wenn sich heutige Staatsphilosophen nur noch recht selten ausdrücklich auf John Locke berufen, dann liegt das vor allem daran, dass seine Ideen die Verfassungen aller westlichen Demokratien bis in die Gegenwart prägen.

    John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung
    Herausgegeben von Walter Euchner. Suhrkamp Verlag, 361 Seiten, 15,00 Euro
    ISBN: 978-3-518-27813-0