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Der Zweite Weltkrieg oder: Gesellschaften im Ausnahmezustand

Das 20. Jahrhundert war das blutigste in der Menschheitsgeschichte. Leider ist die Diskussion über die Ursachen, Manifestationen und Konsequenzen politischer Gewalt allzu oft auf den eigenen Nationalstaat verengt worden. Unsere fünfteilige Serie befasst sich deshalb mit der "politischen Gewalt im 20. Jahrhundert" in einem europäischen Kontext.

Von Dieter Langewiesche | 22.08.2010
    In der dritten Folge hören Sie nun einen Essay von Dieter Langewiesche zum Thema "Der Zweite Weltkrieg oder: Gesellschaften im Ausnahmezustand". Der Autor lehrte bis 2008 mittlere und neuere Geschichte an der Universität Tübingen und war auch Prorektor der neugegründeten Universität Erfurt.



    Der Zweite Weltkrieg oder: Gesellschaften im Ausnahmezustand
    Von Dieter Langewiesche

    Seit Menschen Kriege führen - das taten sie immer, von den Anfängen bis heute - richtet sich die Kriegsgewalt auch gegen die Zivilbevölkerung. Nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges schienen die Mächtigen in den Staaten Europas jedoch umzudenken. Der Krieg wurde zum Staatsgeschäft, die Zivilbevölkerung sollte unter den Kämpfen der Armeen möglichst wenig leiden. So das Ideal. Verwirklicht wurde es nie, doch die Idee des gehegten Krieges begrenzte die Gewalt und wurde zur Grundlage des Völkerrechts.

    Rückfälle in den ungehegten Krieg, der keine Regeln achtet und die Zivilbevölkerung einschließt, als Opfer und Täter, gab es immer wieder. So zu Beginn des 19. Jahrhunderts im spanischen Aufstand gegen Napoleon. Damals entstand das Wort Guerilla für einen Krieg, in dem jeder und jede zum Feind wird. Diese Atmosphäre der allseitigen Gewalt hat Francisco de Goya zu bedrückenden Bildern gestaltet. Keine Wiederholung einer derart entgrenzten Kriegsgewalt - darauf zielten die Staaten und ihre Militärstrategien im Europa des 19. Jahrhunderts. Mit Erfolg. Die Idee des Volkskrieges, der keine Privatheit kennt und deshalb auch keine Nichtkombattanten, hatte in den nationalen Öffentlichkeiten Europas zwar Hochkonjunktur, doch die europäischen Kriege des 19. Jahrhunderts folgten dieser Idee nicht. Im Gegenteil, sie zielten darauf, kämpfende Truppe und Zivilbevölkerung voneinander zu trennen. Jedenfalls in Europa. In den Kolonialkriegen europäischer Staaten gab es diese Gewaltbegrenzung nie.

    Dass auch in Europa die künftigen Kriege nicht als Militärduelle vor den Toren der Zivilgesellschaft ausgetragen würden, lernten die Europäer im Ersten Weltkrieg. Damals wurde das Wort Heimatfront geprägt. Die Zivilgesellschaft musste tun, was das Militär für die Kriegführung verlangte. Heimatfront bedeutete aber auch, dass die Kriegsgewalt unmittelbar in das zivile Leben eindrang: Städte wurden beschossen und bombardiert, Zivilisten deportiert und exekutiert. Auch der Seekrieg unterschied nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten, wenn die britische Marine eine Seeblockade durchführte und Deutschland U-Boote gegen Handelsschiffe einsetzte, um die wirtschaftliche Kriegsfähigkeit des Feindes zu lähmen. Die Front konnte überall sein, der Krieg drohte, total zu werden.

    Totaler Krieg, dieser Begriff, der damals entstand, erfasst die neue Kriegserfahrung: Der Krieg fordert jeden Einzelnen, ob Soldat oder Zivilist, Mann oder Frau, alle haben ihm zu Diensten zu sein, auch die Wirtschaft - eine Gesellschaft im Ausnahmezustand.

    Neu war das nicht, wenn man nur weit genug in die Geschichte zurückblickte oder in der eigenen Zeit über Europa hinausschaute. Diese Art von Krieg, die den Europäern auf eigenem Boden fremd geworden war, kehrte 1914 zurück nach Europa. Wozu totaler Krieg fähig ist, erfuhren die Menschen in voller Schrecklichkeit jedoch erstmals im Zweiten Weltkrieg.

    Wie viele Menschen in diesem Krieg weltweit getötet worden sind, lässt sich nicht genau ermitteln. 60 Millionen ist eine realistische Schätzung. Die meisten von ihnen starben nicht als Soldaten; sie kamen als Zivilisten um. Die höchsten Verluste erlitt die Sowjetunion; bis zu 28 Millionen Menschen, so nimmt man heute an. Die westlichen Gebiete des sowjetischen Imperiums verloren durch Krieg und Besatzung, Massenmorde, Deportationen und Flucht bis zu 25 Prozent ihrer Bevölkerung. In Westeuropa waren es etwa zwei Prozent.

    Gewalt im Zweiten Weltkrieg, das deuten diese Zahlen an, hat viele Gesichter. Welche sie zeigte, hing vor allem von der Region ab, in der man lebte oder als Soldat eingesetzt war. Innerhalb des europäischen Kriegsraumes waren die Überlebenschancen für alle, Soldaten und Zivilisten, im Osten weitaus geringer als im Westen. Das östliche Europa wurde zum Hauptraum der Gewalt und des Todes. Alle Formen von Gewalt wurden dort ins Extrem getrieben. Dieser Raum des Krieges und der Kriegsverbrechen steht deshalb im Mittelpunkt unserer Betrachtung.

    Wer mit der Gegenwart radikal bricht, muss zu radikaler Gewalt greifen. Diese historische Grundregel finden wir bestätigt in dem unterschiedlichen Ausmaß der Gewalt, die im Zweiten Weltkrieg in den verschiedenen Regionen Europas verübt und erlitten wurde. Weil das nationalsozialistische Deutschland die staatliche und gesellschaftliche Ordnung in Polen und in der Sowjetunion gänzlich zerstören wollte, führte es gegen diese Staaten und die Menschen, die ihnen lebten, einen gnadenlosen Vernichtungskrieg. Er zielte von Beginn an darauf, Teile der einheimischen Bevölkerung auszurotten und die anderen zu Heloten im Dienste einer künftigen deutschen Herrenschicht herabzudrücken. Hitler verlangte diesen Lebensraum- und Ausrottungskrieg, die deutsche Militärführung ermöglichte ihn und führte ihn. Was von ihr in der Sowjetunion erwartet wurde, hatte ihr Hitler am 30. März 1941 unmissverständlich verkündet. Als Kern dieser Rede vor etwa 250 Generälen hielt Generaloberst Halder fest:

    "Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander. ... Kommunismus ungeheure Gefahr für die Zukunft. Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. ... Es handelt sich um einen Vernichtungskampf. ... Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz.

    Die neuen Staaten müssen sozialistische Staaten sein, aber ohne eigene Intelligenz. Es muss verhindert werden, dass eine neue Intelligenz sich bildet. Hier genügt eine primitive sozialistische Intelligenz.

    ... Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen. ... Die Führer müssen von sich das Opfer verlangen, ihre Bedenken zu überwinden."

    Das taten sie. Gegen Polen, im ersten der deutschen Vernichtungskriege, gab es zwar noch Widerspruch im Offizierskorps, doch er verhallte in den eigenen Reihen. Gegen die Sowjetunion gab es diese Skrupel nicht mehr. In welche Art von Krieg die deutsche Wehrmacht ihre Soldaten nun führte, zeigen die Befehle der Oberkommandierenden vom November 1941:

    "Der Ostfeldzug muss anders geführt werden als z. B. der Krieg gegen die Franzosen. Es ist uns in diesem Sommer immer klarer geworden, dass hier im Osten zwei innerlich unüberbrückbare Anschauungen gegeneinander kämpfen: Deutsches Ehr- und Rassegefühl, jahrhundertealtes deutsches Soldatentum gegen asiatische Denkungsart und ihre, durch eine kleine Anzahl meist jüdischer Intellektueller aufgepeitschten primitiven Instinkte ...

    Dieser Kampf kann nur mit der Vernichtung des einen oder des anderen enden; einen Ausgleich gibt es nicht. ... Wir sind die Herren dieses Landes, das wir erobert haben."

    Zugleich aber bereiteten die Armeebefehle die Soldaten darauf vor, im russischen Winter, für den sie nicht ausgerüstet waren, ausharren zu müssen. Die Versorgung werde gesichert. - Wie? Darüber ließen die Oberbefehlshaber der Ostfront niemanden im Unklaren:

    "Die Ernährungslage der Heimat macht es erforderlich, dass sich die Truppe weitgehendst aus dem Lande ernährt und dass darüber hinaus möglichst große Bestände der Heimat zur Verfügung gestellt werden. Besonders in den feindlichen Städten wird ein großer Teil der Bevölkerung hungern müssen."

    Verhungern war gemeint, wie sich bald zeigte. Später sprach ein hoher Offizier, der Oberquartiermeister der Heeresgruppe Mitte, offen davon, russisches Land durch "Kahlfraß" in eine "Wüste" zu verwandeln. Für diese "Geopolitik des Hungers", wie man sie treffend genannt hat, warben die Armeebefehle vom November 1941 bei den Soldaten um Verständnis, indem jede Gegenwehr des Kriegsgegners mit dem stärksten Feindbild belegt wurde, das damals in Deutschland zur Verfügung stand: bolschewistisch-jüdisch.

    "Die Bekämpfung eintretender Ernährungsschwierigkeiten ist der Selbstverwaltung der Feindbevölkerung zu überlassen. Jede Spur aktiven oder passiven Widerstandes oder irgendwelcher Machenschaften bolschewistisch-jüdischer Hetzer ist sofort erbarmungslos auszurotten. ... Es ist die gleiche jüdische Menschenklasse, die auch unserem Vaterlande durch ihr volk- und kulturfeindliches Wirken so viel geschadet hat ... und die Träger der Rache sein will. Ihre Ausrottung ist ein Gebot der Selbsterhaltung. Wer als Soldat an diesen Maßnahmen Kritik übt, hat kein Gedächtnis für die frühere ... verräterische Tätigkeit jüdisch-marxistischer Elemente in unserem eigenen Volke."

    Die Wehrmachtsführung machte sich zum ideologischen Komplizen der nationalsozialistischen Machthaber und zum Vollstrecker ihres Vernichtungswillens. Das bezeugen diese Befehle aus der Frühphase des Krieges gegen die Sowjetunion. Sie entgrenzten und enthemmten die Kriegsgewalt, rissen unverhüllt Gewaltgrenzen nieder, die auch im Krieg zu gelten haben.

    Bolschewismus und Judentum, dieses Feindbild, das zur Vernichtung aufrief, lag den Befehlen an die Armeen der Ostfront zugrunde - ein ideologischer Gleichschritt mit den nationalsozialistischen Machthabern auf dem Weg in einen Krieg, der radikal brach mit jener Tradition jahrhundertealten deutschen Soldatentums, die ein Armeebefehl beschwor. Den Kern der Mordorganisation im Osten bildete der SS-Polizeiapparat, doch er und die vielen zivilen Institutionen, die an den Gewaltexzessen und der wirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten Gebiete mitwirkten, blieben auf die Zusammenarbeit mit der Wehrmachtsführung angewiesen. Sie war bereit dazu. Deshalb konnte die deutsche Wehrmacht zur "Schwertspitze des Unrechtssystems" werden, wie es ein Experte formuliert hat.

    In welchem Ausmaß die Soldaten an den deutschen Kriegsverbrechen beteiligt waren, ist in den letzten Jahren intensiv erörtert worden. Die Masse der Soldaten wurde an der Front eingesetzt, doch die Hauptzone verbrecherischer Gewalt war das eroberte Hinterland; so hat man argumentiert. Diese strikte Trennung der Verantwortungsräume überzeugt jedoch nicht. Denn die Fronttruppen übernahmen auch Aufgaben hinter der Front. Beispielhaft untersucht hat man das an der 253. Infanterie-Division, die von Beginn an bis Mai 1945 ununterbrochen im östlichen Kriegsraum eingesetzt war. Am Vernichtungskrieg und seinen Gewaltexzessen war sie mit allen ihren Einheiten aktiv beteiligt:

    * an der Ermordung von sowjetischen Kriegsgefangenen im Umfeld von Gefechten und durch gezielte Hungerpolitik im Arbeitseinsatz und in Lagern - eines der dunkelsten Kapitel deutscher Kriegsgewalt im Osten;

    * an der Partisanenbekämpfung, die vielfach zum Vorwand diente, Zivilisten zu töten und ganze Orte zu zerstören;

    * an der Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung für den Völkermord;

    * an der Ausplünderung des Hinterlandes durch die Nachschubeinheiten, die weiterzogen, wenn ein Gebiet ausgeräumt war, kahlgefressen;

    * an der Verschleppung von Männern und Frauen aus eroberten Gebieten in die Zwangsarbeit an der Front und in der deutschen Kriegswirtschaft, die ohne sie zusammengebrochen wäre.

    In der Endphase des Krieges schließlich gingen Front und Hinterland ineinander über. Auf dem Rückzug wurden arbeitsfähige Zivilisten deportiert, wer nicht mehr zur Zwangsarbeit fähig war, auf das Gefechtsfeld abgeschoben. Die Politik der verbrannten Erde hinterließ ein zermartertes Land.

    Wer über Gewalt im Zweiten Weltkrieg spricht, kann über den Völkermord an den Juden Europas nicht schweigen. Der Krieg ermöglichte ihn, und reguläre Truppen waren daran beteiligt. Von den mehr als 6 Millionen ermordeten Juden Europas - etwa drei Viertel von ihnen hatten in Polen und der Sowjetunion gelebt - wurden ca. 1,8 Millionen erschossen. Vor allem daran hatten Truppen Anteil. Und nicht nur deutsche Truppen. Als Beispiel sei Rumänien erwähnt, ein Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschlands

    Bei der "Rebarbarisierung der Staatenbeziehungen in Südosteuropa", wie man die Wirkung deutscher Kriegspolitik in dieser Region charakterisiert hat, spielte der Antisemitismus eine wichtige Rolle. Er förderte auch die ideologische Gleichschaltung und die Gewaltbereitschaft in den dortigen Gesellschaften, die den Krieg nutzten, ihre jüdischen Nachbarn der Vernichtung preiszugeben.

    Im Machtbereich der deutschen Wehrmacht hatten vor allem die Oberbefehlshaber die Truppen auf das Feindbild Judentum ausgerichtet. Das begann nicht erst im Krieg gegen Polen und die Sowjetunion. Schon nach dem schnellen Sieg über Jugoslawien - nach nur elf Tagen kapitulierte die jugoslawische Armee am 17. April 1941 - schon damals hatte die deutsche militärische Führung mit ihren Befehlen einen faktisch rechtsfreien Raum geschaffen, um den militärisch organisierten Widerstand der Partisanen und Milizen zu brechen. Riesige Verhaftungswellen, Niederbrennen von Orten, Massenexekutionen von Geiseln - bis Herbst 1941 wurden unter Führung der Wehrmacht mehr als 20.000 serbische Zivilisten erschossen. Zur Abschreckung von Partisanen sollten grundsätzlich "sämtliche Juden" und "alle Kommunisten" in den betreffenden Orten als Geiseln verhaftet werden, hatte der Kommandierende General in Serbien am 10. Oktober angeordnet. Jüdische Frauen und Kinder waren zu internieren.

    Die Bekämpfung der Partisanen und die Ermordung der Juden wurden von der deutschen militärischen Führung in Serbien bewusst verbunden. Wehrmachtseinheiten führten Massenerschießungen der verhafteten jüdischen Männer durch; ca. 7000 jüdische Frauen und Kinder wurden in einem Konzentrationslager bei Belgrad inhaftiert und durch SS-Formationen ermordet. Ab März 1942 setzten sie dafür einen Vergasungswagen ein. Juden, die aus dem deutschen Besatzungsgebiet des zerschlagenen Staates Jugoslawien nicht rechtzeitig fliehen konnten, hatten keine Überlebenschance. Ihre Leichen fand man nach Kriegsende nicht. Ein deutsches Spezialkommando hatte sie 1943 verbrannt.

    Für dieses Vernichtungswerk in Serbien und auch im Banat, engstens verbunden mit der Partisanenkämpfung, wurden die deutschen Besatzungstruppen im September 1941 durch die 342. Infanterie-Division verstärkt, deren 12.000 Mann zuvor in Frankreich ihren Kriegsdienst geleistet hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Juden in beiden Teilen Frankreichs, dem besetzten und dem unbesetzten, bereits massiv entrechtet worden, die Vorbereitungen zu ihrer Ermordung hatten aber noch nicht begonnen. Trotz aller Gewalt, die auch hier alltäglich war, bedeuteten in Frankreich Krieg und deutsche Besatzungsherrschaft etwas anderes als in Serbien. Als 1941 die Infanterie-Division dorthin verlegt wurde, blieb sie zwar Besatzungstruppe in einem eroberten Land, wie zuvor in Frankreich, doch sie kam in einen Raum mit einer anderen Form von Gewalt: exzessiver und brutaler. Und sie trafen hier auf den organisierten Widerstand durch jenen Teil der Bevölkerung, der die Kriegsniederlage des jugoslawischen Staates nicht akzeptierte.

    Dass sich die deutschen Soldaten reibungslos in den Vernichtungsapparat ihres Militärs einfügten, den sie in Serbien vorfanden, dafür sorgten ihre Kommandeure. Deren Befehle stellten einen Freibrief für rechtlich ungezügelte Gewalt aus. So befahl der Divisionskommandeur bei einem Einsatz, alle Orte "restlos niederzubrennen und von der Bevölkerung zu räumen. Jeglicher Lebensunterhalt ist zu vernichten. Vieh ist ... abzuführen." Die Massenerschießungen von Zivilisten begründete der Divisionsstab als "Sühne für deutsche Verluste". Diesem Rechtfertigungsversuch widersprechen die Zahlen jedoch eindeutig. Der Divisionsbericht für die ersten zwei Wochen in Serbien bilanzierte: 1127 Zivilisten erschossen, 21.440 in Lager verbracht; im Kampf 88 Gegner getötet; eigene Verluste: EIN Toter.

    Die Soldaten hatten keinen Einfluss darauf, in welchen Raum sie kommandiert wurden. Der Einsatzraum entschied jedoch über die Art der Gewalt, die man ihnen abverlangte. Als man sie von Frankreich nach Serbien verlegte, wurden sie einem Besatzungsregiment eingegliedert, das sie zu ungezügelter Gewalt gegen die Zivilbevölkerung anhielt, um den militärisch organisierten Widerstand der Partisanen zu brechen und die dort lebenden Juden zu vernichten. Militärische Kriegsgewalt verkam unverhüllt zu Mordgewalt; die Vernichtung der Juden geschah hier arbeitsteilig durch Wehrmacht und SS-Formationen.

    Gewalt im Zweiten Weltkrieg zielte im östlichen Europa immer auch auf Zerstörung der Gesellschaftsordnung. Diese Form von Gewalt mit all ihren katastrophalen Folgen erlitt im Zweiten Weltkrieg als Erstes das polnische Volk. Verübt wurde sie von beiden Staaten, die Polen angriffen und unter sich aufteilten, Deutschland und die Sowjetunion. Das Ergebnis hat man als "soziale Degradierung" eines ganzen Volkes charakterisiert. Jeder fünfte polnische Staatsbürger kam im Zweiten Weltkrieg um.

    Die Verhältnisse und die Gewaltintensität entwickelten sich in den Teilungsgebieten unterschiedlich. Doch generell gilt: Mit dem Sozialstatus stieg die Gewalt, die der Einzelne erlitt. Mit der Vernichtung der Eliten sollte die polnische Gesellschaft gewissermaßen enthauptet werden. In den Gebieten Polens, die bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion unter deren Herrschaft standen, richtete sich die Gewalt vor allem gegen das Offizierskorps. 45 Prozent der Offiziere wurden getötet. Katyn ist das Symbol für die sowjetische Vernichtungspolitik.

    Diejenigen westlichen Gebiete Polens, die das Deutsche Reich sich formell einverleibte, traf die Vernichtungsgewalt deutscher Herrschaft am stärksten. Hier wurde die polnische Gesellschaft mit extremer Gewalt zerstört: kollektive Enteignungen, systematische Vernichtung der Bildungsschichten, riesige Deportationen. Die deutschen Herren erzwangen eine zwangsnivellierte polnische Gesellschaft, während im sogenannten Generalgouvernement die polnische Gesellschaft eine höhere Chance zu überleben besaß. Da dieses Besatzungsgebiet in geringerem Maß von der deutschen Verwaltung durchdrungen wurde, blieb zumindest ein Teil der polnischen Institutionen bestehen, wie Handelskammern oder Wohlfahrtseinrichtungen der katholischen Kirche, in den unteren Rängen der Verwaltung wurden Polen weiterbeschäftigt, und die Enteignungen geschahen nicht so radikal. Nur deshalb konnte hier ein polnischer Untergrundstaat entstehen, der von der Exilregierung in London finanzielle Hilfe und schließlich auch Waffen erhielt. Polnischer Untergrundstaat - das hieß vor allem: eine polnische Armee mit besoldeten Offizieren und Unteroffizieren als Kern der Widerstandsbewegung und polnische Schulen, in denen illegal unterrichtet wurde.

    Für die Juden Polens und Europas wurde das Generalgouvernement zum Raum der extremsten Vernichtungsgewalt. Hierher wurden die Juden aus dem westlichen Teil Polens abgeschoben oder sie gingen, weil sie hofften, hier überleben zu können. Im Dezember 1939 ordneten die deutschen Behörden an, die Juden im Generalgouvernement zu kennzeichnen, ihre Konten zu sperren und ihr Vermögen zu erfassen. Die Gettoisierung und die Beraubung der Juden begannen. Ab 1941 wurde das Generalgouvernement dann zum Zentralraum für die deportierten Juden Europas auf ihrem Weg in die Vernichtungslager.

    Die Kriegsgewalt, mit der das nationalsozialistische Deutschland europäische Staaten seit 1939 überzog, machte auch Deutschland zu einem Raum der Gewalt.

    Mit dem Krieg begann für die deutschen Juden die Verschärfung ihrer systematischen Entrechtung, die bereits 1933 eingesetzt hatte. Im Februar 1940 wurden erstmals Juden deutscher Staatsangehörigkeit aus Deutschland deportiert - ins Generalgouvernement; nur wenige von ihnen haben überlebt. Bessere Chancen hatten die Juden, die im Oktober desselben Jahres aus Baden, der Pfalz und dem Saargebiet in den nicht besetzten Teil Frankreichs abgeschoben wurden. Dort kamen sie in Internierungslager. Einem Teil von ihnen gelang es auszuwandern, zu fliehen oder mit Hilfe von Franzosen im Untergrund zu überleben. Im Jahr darauf,im Oktober 1941, setzte die systematische Deportation aus dem deutschen Reichsgebiet ein. Dem bürgerlichen Tod in Deutschland folgte nun der physische Tod in den Vernichtungslagern der eroberten Gebiete im Osten. Der Krieg hatte diese Radikalisierung der Gewalt von der Entrechtung zum Genozid ermöglicht. Auch die Euthanasiemorde an geistig und körperlich behinderten Menschen in Deutschland wird man der Kriegsgewalt zurechnen müssen. Der Ausnahmezustand Krieg - dieser Krieg - machte möglich, was ohne ihn selbst in einem Unrechtsstaat wie dem deutschen vielleicht nicht gewagt worden wäre.

    Die meisten Deutschen sahen das damals anders. Kriegsgewalt war für sie die Gewalt, die ihnen als Zivilisten von den Kriegsgegnern angetan wurde. Sie litten zunächst vor allem unter der Bombardierung von Städten durch die britische und amerikanische Luftwaffe.

    Mit Luftangriffen meinten die Militärstrategen auf allen Seiten, einen Weg gefunden zu haben, eine Wiederholung der enorm verlustreichen Stellungsschlachten des Ersten Weltkriegs vermeiden zu können. Bombenangriffe auf die Zivilbevölkerung, um den Krieg zu verkürzen. In einer deutschen Denkschrift von 1937 hieß es, der künftige Luftkrieg werde nicht darauf zielen, "die Arsenale der wirtschaftlichen Technik zu zerstören, als vielmehr sie zu entvölkern. ... Die rücksichtslose Durchführung der Bombenangriffe [wird] in der Bevölkerung den Schrecken bis zur Panik steigern können." Diese Strategie verfolgte die deutsche Luftwaffe bei der Bombardierung von Warschau, Rotterdam und anderen Städten.

    In England entschloss man sich nach längeren Debatten Mitte 1940 ebenfalls zu diesem "moral bombing", dem Zerbomben der Moral der Zivilbevölkerung. In den Worten des britischen Premierministers Churchill vom Juli 1940:

    "Es gibt etwas, das den Gegner zurückzuwerfen und niederzuschlagen vermag, das ist ein alles vernichtender und alles ausrottender Luftkrieg mit ganz schweren Bomben von England aus gegen das deutsche Heimatgebiet. Wir müssen den Feind mit diesem Mittel überwältigen, sonst sehe ich keinen Ausweg."

    Zu schweren Luftangriffen, die Städte in Trümmer legten, war die britische Luftwaffe erst ab 1942 in der Lage. Was sich nun für die deutsche Bevölkerung änderte, lässt sich an Hamburg erkennen. Als erstmals britische Flugzeuge die Stadt angegriffen, im Mai 1940, kamen "nur" 34 Menschen ums Leben. Danach, bis Jahresende, musste die Hamburger Bevölkerung jede zweite Nacht Schutz vor Luftangriffen suchen, 567 Personen wurden verletzt, 125 getötet. 1943 wurde alles anders; die Gewalt aus der Luft erhielt eine andere Dimension. Was ab dem 25. Juli 1943 in zehn Tagen über Hamburg hereinbrach, hatte niemand erwartet: In sieben Angriffswellen britischer und amerikanischer Bomber fanden 34.000 Menschen den Tod, so die vorsichtigste Berechnung, 125.000 bedurften ärztlicher Versorgung, 900.000 Menschen verloren ihre Wohnung, mehr als die Hälfte des gesamten Wohnraumes in der Stadt war völlig zerstört. Bis zum 14. April 1945, wenige Wochen vor der Kapitulation, folgten noch weitere 65 Luftangriffe auf Hamburg. Über den Krieg entschieden sie nicht. Aber sie trugen dazu bei, die Einstellung vieler Deutscher zum nationalsozialistischen Regime zu verändern.

    In den letzten Kriegsmonaten brach eine bis dahin nicht gekannte Gewalt über die Deutschen herein, über Zivilisten und Soldaten. Denn anders als im Ersten Weltkrieg wurde nun Deutschland selber zum Schlachtfeld. Von Januar 1945 bis zur Kapitulation, in vier Monaten, starben hier mehr deutsche Soldaten als 1942 und 1943 zusammen, und auch die Luftangriffe auf deutsche Städte erreichten den Gipfelpunkt. Als die sowjetischen Truppen die deutsche Ostgrenze überschritten, setzte eine Massenflucht der Zivilbevölkerung ein. Viele kamen um. Sowjetische Soldaten plünderten, töteten und vergewaltigten auf ihrem Vormarsch, bis die sowjetischen Kommandeure die Gewaltwelle stoppten, deren Hauptopfer die Frauen waren. Zuvor hatte die sowjetische Militärführung ihre Soldaten zu ungehemmter Gewalt aufgerufen: "Wehe dem Land der Mörder. Wir werden uns für alles fürchterlich rächen." So ein Befehl Marschall Schukows im Januar 1945.

    Viele Deutsche begingen Suizid aus Furcht vor dem, was sie erwarteten. "... jeder Ort und jedes Dorf erlebte seine eigene Version der Apokalypse", resümierte jüngst ein amerikanischer Historiker diese Gewalterfahrung der Deutschen. Doch zu einem Raum ungezügelter Gewalt wurde Deutschland in den letzten Kriegsmonaten nicht nur für Deutsche. Es kam zu Massenmorden an ausländischen Arbeitern, an Gefängnis- und Lagerinsassen.

    "Das Volk hat kein Vertrauen zur Führung mehr. Es übt scharfe Kritik an der Partei, an bestimmten Führungspersonen und an der Propaganda."

    "Die Bevölkerung ist so nüchtern geworden, dass sich kein Volkssturm mehr inszenieren lässt. Man macht nun auch äußerlich kaum noch mit."

    So heißt es Ende März 1945 im letzten geheimen Lagebericht des Sicherheitsdienstes der SS. Die extreme Gewalt zu Kriegsende hat zu diesem Austritt aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft beigetragen. Doch diese Gewalterfahrung führte auch dazu, dass sich die Deutschen in ihrem Selbstbild nun in eine "Nation von Opfern" verwandelten. Das schuf innere Barrieren gegen die Entnazifizierungspolitik der Alliierten, trug aber zugleich zum Anti-Kriegskonsens in der deutschen Nachkriegsgesellschaft bei. Und schließlich und vor allem: Langfristig wurde die Gewalterfahrung der europäischen Gesellschaften im Zweiten Weltkrieg zu einem der Grundpfeiler des heutigen Europa.