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Des Autors Wiederkehr ins Werk

Der französische Philologe und Philosoph Jaques Rancière beklagt in seinem ambitionierten Essay "Die Stumme Sprache", dass die Herrschaft des Konsens' der Literatur wie der Demokratie schade.

Von Beatrix Langner | 10.03.2011
    In dem Band "Die Stumme Sprache" liegt der Fokus naturgemäß auf den "Widersprüchen der Literatur". Die Entmündigung des Lesers und Zuschauers und die Entmündigung des Bürgers haben in Rancières Augen ein und denselben Ursprung: die Konsolidierung eines trügerischen gesellschaftlichen Konsens', der uns den Kontrast zwischen Armen und Reichen, stummen Minderheiten und akkreditierten Lobbys oder - auf die Literatur und Künste übertragen - der toten Schrift und der Dichterstimme vergessen lasse.

    Schuld daran gibt Rancière der Demokratie als Herrschaftsform, die dem Volk durch politische Kompromisse seine Stimme abgehandelt, das heißt, sie der Schrift des Gesetzes überantwortet und damit seine sinnliche Präsenz in eine schweigende Masse verwandelt habe.

    "Die Demokratie ist die Herrschaft der Schrift, wo die Perversion des Buchstabens identisch ist mit dem Gesetz der Gemeinschaft."

    Aber was ist dann Literatur? Ganz offensichtlich nicht mehr dasselbe, was im 18. Jahrhundert davon gesagt wurde. Zwischen Voltaire, der Literatur gleichsetzte mit dem, was in der Antike "Grammatik" hieß, also dem System der schönen respektive geschmackvollen Werke der Geschichte, Rhetorik, Dichtung und Kritik, und Maurice Blanchot, für den Literatur nichts anderes als die Möglichkeit zu schreiben bedeutete, erweist sich Rancière vor allem als ein lesender Autor in der französischen Tradition strukturalistischer Lektüren. Victor Hugos "Buch aus Stein", Flauberts "Buch über nichts" und Blanchots Literaturbegriff "im Zeichen des Steins, der Wüste und des Heiligen" werden mit normativen Ästhetiken vor der "ästhetischen Revolution" der Romantik konfrontiert, die das Ich in die schöne Rede einführte.

    Von Charles Batteux bis Viktor Sklovskij erscheint entlang der ästhetischen Diskurse die Literatur als Geschichte ihres Widerspruchs zwischen individuellem Pathos und Weltbuch, Abbild und Eindruck, Poetizität und Individualität.

    "Die Literatur als Ausdruck des individuellen Genies und die Literatur als Ausdruck der Gesellschaft sind die zwei Versionen desselben Textes, sie drücken ein und dieselbe Wahrnehmungsweise der Werke der Schreibkunst aus."

    Warum merkte das denn aber bis jetzt keiner? Politische Kunst, soziale Kunst, warum sind sie in den letzten 50 Jahren derart in Verruf geraten? Und warum beklagen wir, dass Literatur nicht mehr als Faktor der sozialen Ausdifferenzierung wahrgenommen wird? Weil, so antwortet Rancière, die Herrschaft des Konsens' der Literatur wie der Demokratie schade.

    In Deutschland werden jedes Jahr etwa 100.000 Bücher gedruckt; unter dem Rubrum Literatur circa. 30.000 Titel, davon circa. 13.000 belletristische Erstauflagen, nicht viel anders in Frankreich und Italien. Die Frage, wie viel davon und was überhaupt als Literatur zu bezeichnen sei, ist also nicht ganz abwegig. Der Widerspruch zwischen dem "Fleisch" des lebendigen Worts und der totalitären Schrift der Gesetze ist in seinen Augen derselbe wie der zwischen der Straße und dem Parlament.
    Selbst einem demonstrationsfreudigen Volk wie den Franzosen ist klar, dass die Stimme des Volks und der Buchstabe der sie repräsentieren sollenden Verfassung einen unauflösbaren Widerspruch darstellen.

    "Die Demokratie ist nämlich nicht ein System, das sich bloß durch eine unterschiedliche Verteilung der Macht bestimmt. Sie ist tiefer gehend als eine bestimmte Aufteilung des Sinnlichen definiert, als eine spezifische Neuverteilung ihrer Orte."

    Rancière zeigt sich als Schüler Foucaults, wenn er den Begriff der Repräsentation zum Dreh-und Angelpunkt seiner Überlegungen macht und ihm das romantische, subjektivistische, fluidale Moment des stummen, vagabundierenden Worts entgegenhält, das er aus Derridas Postulat der verdoppelten Schrift und von Blanchot übernommen hat.

    Die nichtrepräsentativen, nichtmimetischen Momente sind es demnach, die Rancière für fähig hält, einer der Beliebigkeit, dem Konsum und den "schmarotzenden Diskursen" ausgelieferten und gezähmten Literatur wieder den Geist der Rebellion, der sozialen Unruhe einzuhauchen.
    "Die Literatur existiert eigentlich nur als Fiktion der Literatur", sagt Rancière, nämlich "als der unendliche Übergang von einem Rand zum andern, vom Leben zum Werk und vom Werk zum Leben, vom Werk zum Diskurs über das Werk. Ein ständiges Übergehen, das sich jedoch nur vollzieht, wenn es den Riss sichtbar beläßt".

    Dieses Offenhalten des Widerspruchs ist es, wofür Rancière arbeitet. Es geht ihm nicht darum, im koketten Gestus der Poststrukturalisten den verborgenen Ursprung der Schrift im gesprochenen Wort nur zu beklagen wie Derrida und dessen Schüler. Ebenso wenig will er fiktionale Erzählweisen wie in dem berühmten Satz von Proust "Die Marquise ging um fünf Uhr außer Haus", gegen symbolistische Poetiken des l'art pour l'art ausspielen.

    Rancière versteht sich vielmehr als Mediator, als Brücken- oder Schwellenphilosoph des 21. Jahrhunderts, der zwischen Sartres "literature engagée" und Mallarmés "poésie pure", poststruktualistischen und marxistischen Lektüren den Übergang in die gesellschaftliche Praxis sucht. Mit andern Worten: Mehr als 40 Jahre nach Roland Barthes viel zitiertem "Tod des Autors" verkündigt Rancière nun dessen Wiederkehr ins Werk. Das aufrührerische Moment im Regime des allmächtigen Konsens ist das Ich.

    Wohlan, der nächste Aufstand der schweigenden Mehrheit wird nicht mit Marxens Kapital, sondern wohl mit Hölderlins Hyperion und Rilkes Duineser Elegien in der Tasche losbrechen.
    Darin drückt sich ein beachtliches Curriculum des 1940 geborenen Philosophen aus, lag doch Rancières philosophische Kinderstube in den Redaktionsräumen der von Loius Althusser geleiteten marxistischen Zeitschrift "Lire le Capital". Seine Bücher sind keine Spaziergänge, weder für seine Übersetzer noch für Leser.

    Subtile Lesarten wechseln mit kritischen Paraphrasen von Derrida, Deleuze oder Foucault und professoraler Weitschweifigkeit aufkosten argumentativer Deutlichkeit. Offenbar ist der Abschied von den Konsensen einer in die Krise gekommenen Demokratie selber nur noch als Kompromiss und bunte Pralinenmischung zu haben.

    Jacques Rancière: "Die stumme Sprache, Essay über die Widersprüche der Literatur". Aus dem Französischen von Richard Steurer, Diaphanes Verlag Berlin 2010, 214 Seiten, 19,90 Euro.