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Des Lebens nicht sicher

53 türkische Journalisten wurden seit Gründung der Türkischen Republik ermordet. "Reporter ohne Grenzen" wirft dem Staat vor, mit dem Straftatbestand "Beleidigung des Türkentums" die Lebensgefahr für Journalisten zu erhöhen.

Von Susanne Güsten | 05.02.2007
    Die Redaktionsräume der Tageszeitung "Evrensel" liegen in Istanbul nur ein paar Straßen weit von der armenischen Wochenzeitung "Agos" im Stadtteil Sisli. Als der "Agos"-Chefredakteur Hrant Dink dort vor zweieinhalb Wochen erschossen wurde, war Fatih Polat, der Chefredakteur von "Evrensel", innerhalb von wenigen Minuten bei seinem ermordeten Freund und Kollegen. Anders die Staatsanwaltschaft, wie Polat berichtet:

    "Die Staatsanwaltschaft von Sisli verfolgte Hrant Dink mit größter Aufmerksamkeit, sie belauerte ihn regelrecht und klagte ihn wegen Beleidigung des Türkentums an, obwohl ihre eigenen Experten dafür keine Hinweise sahen. Doch als Hrant Dink ermordet wurde, brauchte dieselbe Staatsanwaltschaft eine dreiviertel Stunde, um am Tatort aufzutauchen, obwohl ihre Amtsräume ganz in der Nähe liegen. Hrant Dink lag eine Stunde lang auf der Straße, ich war dabei."

    Fatih Polat nahm auf dem Pflaster vor dem Redaktionsgebäude von "Agos" nicht zum ersten Mal Abschied von einem ihm nahestehenden Kollegen. Der junge "Evrensel"-Reporter Metin Göktepe, den Polat ausgebildet hatte, wurde 1996 von der Polizei erschlagen. Und der Journalistik-Professor Ahmet Taner Kislali, von dem er selbst ausgebildet worden war, wurde 1999 von einer Autobombe zerrissen. 53 türkische Journalisten wurden seit Gründung der Türkischen Republik ermordet. Für Journalisten wie Fatih Polat gehört die Lebensgefahr zum Alltag:

    "Wir bekommen immer wieder Drohungen, das ist jetzt auch nicht anders als sonst. Wir sind nunmal eine Zeitung, die sich ganz offen zur Kurdenfrage, zur Armenierfrage, zur Meinungsfreiheit und anderen Themen äußert, und da kommt das immer wieder vor. Auch Prozesse gibt es immer wieder gegen uns, aber überrascht werden wir davon schon lange nicht mehr."

    Vor allem nach dem Anti-Terror-Gesetz wurden Polats Zeitung und ihre Redakteure früher angeklagt. Erst im Dezember rügte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof wieder eine solche Verurteilung des Blattes. Überlebt hat die linke Tageszeitung diese Urteile nur, indem sie sich immer wieder selbst auflöste und unter neuem Namen neu gründete.

    Das Anti-Terror-Gesetz wurde im Zuge des türkischen EU-Beitrittsprozesses inzwischen reformiert, doch volle Pressefreiheit gibt es in der Türkei noch immer nicht. Unbequeme Journalisten werden heute mit dem Paragrafen 301 des Strafgesetzbuches verfolgt, der die Beleidigung des Türkentums verbietet. Hrant Dink, der im Januar ermordete Chefredakteur von "Agos", war der erste Journalist, der rechtskräftig nach dem Paragrafen 301 verurteilt wurde. Die meisten solchen Verfahren gelten aber wieder einmal der kleinen linken Zeitung von Fatih Polat:

    "Ein Prozess nach Paragraf 301 läuft derzeit gegen uns, fünf oder sechs solcher Prozesse gab es bereits. Neulich wurden an einem einzigen Tag vier Prozesse gegen uns eröffnet, und zwar von der Staatsanwaltschaft Sisli, die auch Hrant Dink angeklagt hatte. Bei diesen Prozessen ging es um unsere Berichterstattung über Ereignisse im Kurdengebiet - also gar nicht um wertende Kommentare, sondern um unsere nachrichtliche Berichterstattung."

    Bisher wurde die Zeitung noch jedes Mal von dem Vorwurf freigesprochen, das Türkentum beleidigt zu haben. Die beanstandeten Berichte seien von der Pressefreiheit gedeckt, entschieden die Gerichte stets. Darauf komme es aber gar nicht an, argumentiert Fatih Polat. Alleine die Existenz des Paragrafen 301 und seiner Strafandrohungen schränke die Pressefreiheit ein:

    "Viele Journalisten und viele Zeitungen in der Türkei praktizieren deshalb Selbstzensur. Man passt sehr auf, was man sagt, man deutet vieles nur an. Der Paragraf beschränkt das Denken, er schränkt die Demokratie ein und er fördert den Nationalismus. Und er motiviert Leute wie den Mörder von Dink, indem er kritische Journalisten offiziell als Verräter brandmarkt."

    Wie türkische Journalisten und Menschenrechtler, so fordern auch internationale Verfechter der Pressefreiheit die Abschaffung des Paragrafen 301. Elke Schäfter, die Geschäftsführerin von "Reporter ohne Grenzen" in Deutschland:

    "Der Paragraf 301 des neuen Strafgesetzbuches ist aus 'Reporter ohne Grenzen'-Sicht sehr problematisch, er sollte unserer Meinung nach abgeschafft werden, denn er dient dazu, Journalisten, Schriftsteller und Intellektuelle einzuschüchtern, und das kann nicht im Sinne der Türkei sein. Er ist auch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar."

    Dass Journalisten in der Türkei ihres Lebens noch immer nicht sicher sind, das liegt nicht zuletzt am Paragrafen 301, meint Schäfter:

    "Derzeit stehen sechs türkische Journalisten unter Polizeischutz, weil sie Todesdrohungen erhalten, auch Hrant Dink hat Todesdrohungen erhalten, Herr Pamuk erhält Drohungen. An diesen Beispielen sieht man auch den Zusammenhang zwischen dem Paragrafen 301 und dem Klima der Verfolgung und Gewalt, die in der Türkei herrschen."

    Polizeischutz wie der Nobelpreisträger Orhan Pamuk oder prominente Chefredakteure aus größeren Verlagen bekommt die linke Zeitung "Evrensel" nicht - und will es auch gar nicht. Nicht auf die Polizei komme es in der Auseinandersetzung mit der Gewalt gegen Journalisten in der Türkei an, argumentiert Fatih Polat, sondern auf die türkische Bevölkerung selbst und ihren demokratischen Druck von unten:

    "Wenn es nicht diese Massendemonstration bei der Beerdigung von Hrant Dink gegeben hätte, dann wäre der Mord an ihm nicht weiter verfolgt worden, und bei unserem Reporter Metin Göktepe war das genauso. In der Türkei ist das leider immer so, dass die Menschen auf die Straße gehen müssen, damit Morde an Journalisten und Intellektuellen verfolgt werden. Von sich aus, also ohne den Druck von der Straße, macht der Staat das leider nicht."