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Deutlich überhoben

Mit ihrem dritten Roman "Jacobs Room" begann Virginia Woolf ihre experimentelle Phase: keine linear erzählte Geschichte, sondern eine Charakterstudie aus verschiedenen Perspektiven. Morton Subotnicks Adaption für die Musiktheaterbühne bleibt ähnlich experimentell, überhebt sich aber gleichzeitig an ihrem eigenen Anspruch.

Von Wolf-Dieter Peter | 06.08.2010
    Ein junger Mann allein in seinem Zimmer, Platon lesend, doch dann Stimmen hörend. Sie erinnern ihn an schreckliche Kindheitserlebnisse: Da kamen nämlich Männer und "sie brachten Finsternis". Noch schlimmer für den kleinen Jacob: Vater und Großvater wurden auf Lkws weggebracht. Soldaten schossen. Die Mutter floh mit ihm und versteckte ihn. Dann musste Jacob miterleben, wie die Mutter gefangen, gequält und in einem Moment der Stille durch einen Einzelschuss getötet wurde. Ein Trauma ...

    Morton Subotnick lässt dazu vielgestaltige elektronische Synthesizerklänge im Surround-Sound schwirren. Aus dem schwarzen, leeren Raum der Bregenzer Werkstattbühne taucht dementsprechend auch keine reale Welt auf. Regisseurin und Ausstatterin Mirella Weingarten hat ins Zentrum eine quadratische weiße 6x6-Meter-Fläche gebaut: Zimmerboden, übergroßes Bett – vor allem aber irreale Ebene für die Bewusstseinsströme von Jacobs Trauma. Denn Jacobs heller Tenor wird von je einem Sopran und Mezzosopran sowie einer Bassstimme umgeben.

    Sie alle sind in zunächst bronzenfarbene Kutten gekleidet – zeitlos undefiniert. Auch ihr Dasein ist nicht fixiert: Die Fläche kann nach allen Seiten kippen – ausbalanciertes Leben ist nicht möglich. Dazu flimmern computeranimierte Lichtpixel, projizierte Kostümkutten führen ein Eigenleben auf der Fläche. Zu all dem spielen aber auch mehrfach vier Celli und ein dem Cembalo angenähertes Keyboard unter Ari Meyers Leitung Minimal-music-Phrasen ...

    Und hier beginnen die Zweifel am Werk: Subotnick, der von elektronischer Musik fasziniert ist, kann keinen Gewinn durch die lebenden Musiker, gar neue Erkenntnisse über das Zusammenwirken von Mensch und Maschinenmusik vorführen. Die drei Stimmen um Jacob setzen vokal via Mikroport alle Verschleif- und Tonentstellungsmittel ein, ohne etwa über Laurie Andersons "Home of the Brave" der 80er-Jahre hinauszuführen. (Musikdramatisch reizvoll wirken lediglich die Klangverstümmlung des Wortes "Mercy – Barmherzigkeit" und die Fortissimoklage aller vier Stimmen im Schlussteil.)

    Für die Bühnenwirkung kommt hinzu, dass Subotniks Texte zwar oftmals metaphorisch dunkel daherkommen, aber sich nie auf die Höhe von Paul Celans "Todesfuge" erheben. Anfängliche Holocaustassoziationen werden durch die Nennung von anderen Massenmordorten wie Nanking, Ankara, dem armenischen Deirez-Zor oder der argentinischen Plaza del Mayo relativiert.

    Doch wenn Subotnick dann auch noch anfängt, die Worte des "Vater Unser" anklagend umzubiegen, stellt sich als Finaleindruck ein: Da überhebt sich einer in den 90 Minuten seines Opus deutlich. Im Kontext der in Bregenz zu entdeckenden Weinbergwerke wirkt denn auch Subotnicks mehrfaches "Nicht vergeben" nicht zukunftsweisend.

    Zentrales Verdienst der diesjährigen Bregenzer Festspiele bleibt also: die Entdeckung des polnisch-jüdischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg. Das "Weinberg-Symposium" – es waren eher nur "Salon-Gespräche" - zeigte: die musikwissenschaftliche Erfassung, erst recht die Würdigung Weinbergs stehen ganz am Anfang.

    Doch die Bereicherung der westlichen Bühnenwelt durch Weinberg machte der junge griechische Dirigent Teodor Currentzis mit seinem Ensemble "MusicAeterna" aus Nowosibirsk sensationell klar: große und tiefe Symphonik, farbige Ballettmusiken – alles in atemberaubenden musikalischen Gratwanderungen (mit vulkanischen Gipfeln, schwermütigen Leidenstönen, abgründiger Verlorenheit), in Currentzis' elektrisierender Zeichengebung und im hörbar mitgerissenem Musizieren des Ensembles – zurecht gab es Jubelorkane.