Freitag, 19. April 2024

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Deutsch-britische Handelskammer zu Brexit
"Chance, dass es noch eine Seitenvereinbarung gibt"

Ulrich Hoppe von der Deutsch-Britischen Handelskammer glaubt nicht, dass Großbritannien ohne Vertrag aus der EU austreten wird. "Das können sich beide Seiten nicht erlauben", sagte er im Dlf. Auch wenn die EU den Brexit-Vertrag nicht nachverhandeln wolle, gebe es Hoffnung auf eine Zusatzvereinbarung.

Ulrich Hoppe im Gespräch mit Dirk Müller | 30.01.2019
    Die britische und die EU-Flagge vor dem Parlamentsgebäude in London
    Die britische und die EU-Flagge vor dem Parlamentsgebäude in London (imago stock&people / Alberto Pezzali)
    Die jüngste Entscheidung im Unterhaus sorge für eine kleine Verschnaufpause, so Hoppe im Dlf. Es bestehe die Chance, dass bei Gesprächen zwischen Brüssel und der britischen Regierung etwas Neues herauskäme, zum Beispiel eine Zusatzvereinbarung, die die konservativen Abgeordneten, die den Brexit-Vertrag bisher abgelehnt hätten, dafür stimmen lasse.
    Die Aussage der Abgeordneten, dass sie einen No-Deal verhindern wollten, sei ein wichtiges Signal für die Wirtschaft, ein Stück Hoffnung, dass es eine Einigung mit der EU geben könnte, so Hoppe weiter. "Ich gehe davon aus, dass es irgendeinen Deal geben wird, dass es nicht ohne einen Deal einen Austritt Großbritanniens aus der EU geben wird, das können sich beide Seiten nicht erlauben."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Der No-Deal steht vor der Tür, der Brexit ohne Abkommen. Er wird immer wahrscheinlicher. Unruhige, unsichere Zeiten für alle Beteiligten, für alle Betroffenen. Erst recht auch für die Betriebe, für die Unternehmer und auch für die großen Unternehmen. Was kommt auf die Wirtschaft zu? Was kommt auf den Handel zu? Das weiß keiner so genau – wie auch? Von Milliardenrisiken reden Experten, Milliardenverluste möglicherweise. Wir haben die Sorgen, Ängste und Befürchtungen, das berichten viele. Exporteinbrüche, Zollkosten, endlose Lkw-Staus, Turbulenzen in der Luft, auf der Schiene, und Turbulenzen auch auf dem Wasser. Chaos also. Unser Thema mit Ulrich Hoppe, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-britischen Handelskammer. Guten Morgen nach London!
    Ulrich Hoppe: Guten Morgen!
    Müller: Herr Hoppe, fließt wenigstens die Themse noch?
    Hoppe: Die Themse fließt noch, und die Entscheidung gestern Abend im Parlament, diese zwei Abstimmungen, die durchgegangen sind, geben so eine ganz kleine Verschnaufpause, denn das Abgeordnetenhaus hat sich zwar nicht bindend, aber auch so, dass es nicht den No-Deal-Brexit will. Und Theresa May hat jetzt noch den Auftrag bekommen, mit Brüssel noch nachzuverhandeln wegen des Backstops.
    Müller: Wir haben das im Deutschlandfunk eben schon thematisiert, Herr Hoppe. Aber Brüssel will offenbar ja keine Zugeständnisse mehr am Vertrag machen, vielleicht noch mit einem Zusatzpapier, wie auch immer definiert. Sind Sie da wirklich optimistisch, dass da was Neues noch herauskommen kann?
    Hoppe: Ich denke, da ist eine Chance da, dass da noch was Neues herauskommen kann, dass es dann auch eine Seitenvereinbarung gibt. Die EU hat natürlich ja klar gesagt, sie will das Abkommen nicht mehr aufschneiden. Aber dass man dann noch Zusatzvereinbarungen treffen kann, die vielleicht dann die konservativen Abgeordneten, die beim ersten Mal nicht für das Austrittsabkommen gestimmt haben, dann doch dafür stimmen lässt. Wie groß diese Chance ist, das bleibt abzuwarten.
    Aber auch die Aussage der Abgeordneten, dass sie einen No-Deal verhindern wollen, ist auch wichtig für die Wirtschaft als kleines Signal. Da ist also ein Stück Hoffnung da, dass dieser Einigungsprozess mit der EU jetzt doch noch irgendwie zustande kommt. Aber das sind natürlich ganz kleine Schritte. Und man weiß nicht, ob diese ganz kleinen Schritte ausreichen bis zum 29. März oder bis Ende Februar, bis wann das eigentlich dann erledigt sein muss, um so da voranzukommen und den No-Deal komplett auszuschließen.
    Müller: Jetzt haben die Abgeordneten aber auch, Herr Hoppe, gesagt, wir wollen keine Verschiebung, wo man ja vielleicht auch noch ein bisschen Zeit gewinnen könnte. Also die Drucksituation wird jetzt jeden Tag schlimmer?
    Hoppe: Ja. Die Drucksituation wird jeden Tag schlimmer. Das habe ich aber auch immer befürchtet, dass im Endeffekt nur eine Einigung in letzter Sekunde kommen kann. Vorher kriegt Theresa May nicht die Masse ihrer Abgeordneten hinter sich, dass dieser Deal durchs Parlament geht. Und das ist natürlich auch Gift für die Wirtschaft, diese Unsicherheit setzt sich weiter fort. Und auch die Wirtschaft muss sich ja auf alle Szenarien vorbereiten, denn ein No-Deal ist ja nicht auszuschließen. Das hat ja schon eine gewisse Wahrscheinlichkeit, und die kann ich als Unternehmen nicht ignorieren, muss sozusagen jetzt auch die Kosten in Kauf nehmen, was viele Unternehmen schon längst gemacht haben, sich vorzubereiten durch höhere Lagerhaltung, durch Lieferkettenanpassung oder zumindest -durchleuchtung, damit man weiß, wie man auch im Falle eines No-Deals damit umgehen kann.
    Müller: Ist das für Sie schon ausgemachte Sache, egal, was kommt? Ob es einen No-Deal gibt, oder ob es einen regulären, regelkonformen Brexit gibt, wenn man das so formulieren darf? Alles wird auf jeden Fall für alle teurer?
    Hoppe: Alles wird auf jeden Fall für alle teurer. Ich gehe schon davon aus, dass es irgendeinen Deal geben wird, dass es nicht ohne einen Deal einen Austritt Großbritanniens aus der EU geben wird. Denn das können sich eigentlich beide Seiten nicht erlauben, egal, wie hart die Verhandlungspositionen jetzt sind. Also, die höhere Wahrscheinlichkeit liegt deutlich bei einem Austrittsabkommen und einer Übergangsphase. Aber wie gesagt, die Wahrscheinlichkeit eines No-Deals liegt sicherlich so weit bei 20, 25 Prozent.
    "Der Brexit wird auf jeden Fall zu höheren Kosten für die gesamte britische Wirtschaft führen"
    Müller: Sagen Sie jetzt, obwohl die Zeit eben drängt. Das haben Sie ja auch noch einmal ausdrücklich eingeräumt. Aber noch mal zu meiner Frage. Ganz gleich, wie es jetzt ausgeht, ist es ausgemachte Sache, wird es auf jeden Fall so kommen, dass alles teurer wird?
    Hoppe: Ob alles teurer wird, weiß ich nicht. Aber der Brexit wird auf jeden Fall zu höheren Kosten für die gesamte britische Wirtschaft führen und natürlich auch ein Stück weit die Wirtschaft der EU beeinflussen. Aber vorwiegend werden die britische Wirtschaft und der britische Konsument die Kosten des Brexit tragen, wie auch immer er sich gestalten wird. Es wird auf jeden Fall nicht billiger für die britische Volkswirtschaft.
    Müller: Reden wir dann umgekehrt über die deutsche. Sie führen ja die Deutsch-britische Handelskammer an als Hauptgeschäftsführer. Ich verstehe das nicht ganz. Wenn sich in Großbritannien etwas verteuert, muss sich das dann auch nicht in Deutschland verteuern?
    Hoppe: Es wird teurer für Unternehmen in Großbritannien, hier zu produzieren, Dinge zu machen, weil sie durch die Beschränkung der Einwanderung nicht mehr die Fachkräfte haben werden in dem Ausmaß wie bisher. Zollkontrollen et cetera, das sind administrative Kosten, die auf die Unternehmen zukommen. Und ein Stück weit ist natürlich dann auch die EU betroffen davon, dass wir im Endeffekt den britischen Markt nicht mehr so bedienen können, dass da die Unternehmen Verluste haben, und dass unter Umständen auch zum Teil der Exporteur von Deutschland nach Großbritannien gewisse Kosten dieser administrativen Mehrbelastungen mit übernehmen muss.
    Müller: Also Zollkosten auch beispielsweise.
    Hoppe: Beispielsweise auch. Das hängt ein bisschen davon ab, wie das zukünftige Verhältnis sich mit Großbritannien regeln wird. Dann ist auch die Frage, wie sich Regularien auf Dauer entwickeln werden. Das sind ja die höheren Kosten, wenn die Normen ein Stück weit auseinanderlaufen und dann Unternehmen die Produkte immer anpassen müssen für unterschiedliche Märkte in Europa. Aber die Auswirkungen für die deutsche Wirtschaft bei einem geordneten Brexit sind deutlich geringer als für die britische Wirtschaft.
    "Das bekommt die deutsche Wirtschaft ohne große Probleme hin"
    Müller: Da haben wir ja viele Monate etwas anders im Tenor auch diskutiert. Wir haben viele Warnsignale ja auch gehört und Warnrufe, und da war auch von Katastrophe und Chaos die Rede. Sie haben jetzt mehrfach "ein Stück weit" gesagt, habe ich jetzt nicht mitgeschrieben, wie oft. Es überrascht mich ein bisschen, dass Sie sagen, gut, wenn das jetzt regulär und regelkonform abläuft, dann kriegt die deutsche Wirtschaft das ohne große Probleme hin. Ist das so?
    Hoppe: Ja. Das bekommt die deutsche Wirtschaft dann ohne große Probleme hin. Da gibt es ja Studien auch von einigen Wirtschaftsforschungsinstituten. Bei einem geordneten Brexit ist die deutsche Wirtschaft wahrscheinlich so um 0,1 bis 0,2 Prozent Wachstum davon beeinflusst.
    Müller: Darf ich Ihnen da noch mal zwei Zahlen nennen, die wir gestern gefunden haben: 75.000 deutsche Arbeitsplätze sollen gefährdet sein. Das haben wir jedenfalls so nachgelesen. Und 750.000 Arbeitsplätze, wenn das stimmt, sind vom Handel mit Großbritannien dementsprechend abhängig. Handelsvolumen: 122 Milliarden Euro. Und da gibt es ja schon Kritiker und Experten, die da sagen, das wird Milliarden kosten. Sie sind aber da offenbar viel gelassener.
    Hoppe: Wenn wir sagen, das sind 122 Milliarden – das Bruttoinlandsprodukt der Deutschen ist 3.000 Milliarden. Wenn der Handel jetzt nicht ganz so stark wächst oder ein bisschen schrumpft, macht das dann insgesamt für die deutsche Volkswirtschaft nicht den großen Effekt aus. Einzelne Unternehmen natürlich, die sind zum Teil da ganz massiv von beeinflusst. Aber makroökonomisch wird es für die deutsche Volkswirtschaft bei einem geordneten Brexit nicht allzu teuer werden.
    Müller: Gehen wir mal von konkreten Unternehmen aus. Sie kennen da viele. Sie kennen mittlere Betriebe, größere Betriebe, kleine Betriebe. Pharmaindustrie, habe ich gelesen, das sind wieder die großen, aber auch kleine Zulieferer – ist das ein Problem, die Pharmaindustrie?
    Hoppe: Die ganzen Industrien, die in internationalen Wertschöpfungsketten arbeiten, die sind natürlich beeinflusst. Man hat ja von BMW gehört, dass die die Werksüberholung vorziehen auf den Tag nach dem Brexit, also nach dem 29. März, weil sie nicht wissen, wie der Brexit ausgeht, und es ihnen sozusagen eine Anpassungszeit noch mal von drei bis vier Wochen gibt, wie lange auch immer die Werksüberholung da dauern wird, das weiß ich jetzt nicht mehr genau.
    Müller: Also müssen die Arbeiter in Urlaub gehen, einfach so?
    Hoppe: Da gehen die Arbeiter in Urlaub. Das hat BMW dann geregelt, und das gibt ihnen dann Zeit, gewisse Dinge anzupassen nach dem Brexit-Datum, weil man kann sich vorbereiten auf einen Brexit, auch auf einen harten Brexit. Aber der Teufel steckt ja, wie immer, im Detail. Das findet man dann in letzter Sekunde heraus, und deswegen haben da viele Unternehmen Sicherheitspuffer eingebaut oder Lagerkapazitäten eingekauft, damit sie da einfach eine Liefersicherheit auch gegenüber ihren britischen Kunden weiter sicherstellen können.
    Müller: Also Zulieferer, auch die kleinen Zulieferer, wird das ein großes Problem werden, wenn wir bei der Autoindustrie sind?
    Hoppe: Ja, die sind natürlich alle beeinflusst, weil die ja Teil dieser Wertschöpfungskette sind.
    Müller: Okay. Pharma, frage ich noch mal nach, ist das von größerer Dimension, was da wartet, falls der Brexit kommt, oder so, wie er kommt?
    Hoppe: Große Teile der Pharmaindustrie haben sich ja auf den No-Deal auch vorbereitet und extra Lagerkapazitäten angemietet. Da sind sie ja auch von der britischen Regierung zu aufgefordert worden, für mehrere Wochen Extravorräte einzulagern, damit es in jedem Szenario nicht zu Lieferengpässen bei Medizinprodukten oder Medikamenten kommt.
    "Habe ein überwiegendes Gefühl, dass es zu einem Austrittsabkommen kommen wird"
    Müller: Ist das im Grunde das Einzige, weil Sie das auch schon mal gleich zu Beginn unseres Interviews erwähnt haben, ist das das Beste und einzig Probate, was man machen kann, eben größere Lager aufbauen für eine Übergangszeit?
    Hoppe: Um sich auf den No-Deal vorzubereiten, da muss man ja dann kurzfristig die Liefersicherheit sicherstellen. Und da ist natürlich die Lagerhaltung erst mal das wichtigste Mittel, um kurzfristig das zu lösen, sollte es da zu Schwierigkeiten bei den Grenzkontrollen und bei der Grenzabfertigung kommen und da deutliche Verzögerungen entstehen. Natürlich muss man sich auch vorbereiten, indem man zum Teil die Lieferkette anpasst und sich auch alternative Lieferanten sucht, zum Beispiel in Europa dann nicht nur aus Großbritannien, sondern aus anderen europäischen Ländern, und umgekehrt in Großbritannien dann auch, dass sich manche Unternehmen da auch anschauen, kann ich unter Umständen gewisse Produkte auch hier im Land beziehen. Das ist aber im Endeffekt sehr schwierig. Da weiß man ja auch nicht, bei der Vernetzung der Wirtschaft heute, wo da irgendwelche Teile doch noch aus Großbritannien oder auch aus der EU kommen, und wo es da unter Umständen zu Stockungen kommen kann. Das bleibt noch abzuwarten. Das können sich Unternehmen nur anschauen, um da eine gewisse Sicherheit zu haben. Aber die endgültige Sicherheit haben die da bei den Brexit-Vorbereitungen natürlich nicht.
    Müller: Herr Hoppe, zum Schluss unseres Gesprächs Ihr Bauchgefühl: Wie wird das Ganze ausgehen, 29. März?
    Hoppe: Ich glaube schon, dass es zu einem geordneten Brexit kommt. Es kann natürlich auch noch zu einer Verlängerung der EU-Mitgliedschaft kommen. Das haben die Abgeordneten zwar gestern ausgeschlossen, aber da läuft noch ein Stück weit oder eine ganze Menge Wasser die Themse runter, da ist noch was im Fluss. Das bleibt abzuwarten. Ich habe ein überwiegendes Gefühl, dass es da zu einem Austrittsabkommen kommen wird und dass es einen geregelten Übergang für den Austritt Großbritanniens aus der EU geben wird.
    Müller: Ulrich Hoppe, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-britischen Handelskammer in London. Danke für das Gespräch! Ihnen alles Gute.
    Hoppe: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.