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Deutsch-Französischer Krieg von 1870/71
Verdrängter Sieg, verklärte Niederlage

Mit ihm begann das Deutsche Kaiserreich und in Frankreich die Dritte Republik. Dennoch ist der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 heute fast vergessen. Dabei hat er auch 150 Jahre nach der entscheidenden Schlacht von Sedan noch ganz konkrete Auswirkungen, die in beiden Ländern spürbar sind.

Von Anne Françoise Weber | 01.09.2020
Niederwalddenkmal, errichtet 1877-1883 zur Erinnerung an die Neugründung des deutschen Kaiserreichs 1871. Bildhauer Johannes Schilling, Architekt Karl Weißbach. Mittelteil: Bronzerelief mit dem Aufbruch in den deutsch-französischen Krieg 1870/1871 mit König Wilhelm von Preußen (ab 1871 Kaiser Wilhelm I.) zu Pferd und den deutschen Fürsten und Generälen, unten Personifikationen des Rheins und der Mosel. Bronze. Rüdesheim, Deutschland, Hessen, am Rhein.
Aufbruch in den Deutsch-Französischen Krieg: Bronzerelief am Niederwalddenkmal mit König Wilhelm von Preußen (ab 1871 Kaiser Wilhelm I.) zu Pferd und den deutschen Fürsten und Generälen (akg / Bildarchiv Steffens)
"Wir stehen hier auf der unteren Terrasse vor dem Germania- oder Niederwalddenkmal. Um uns herum trotz Corona-Zeiten sehr viele Menschen. Es ist die Frage, warum kommen die Menschen hierhin? Hauptsächlich erstmal, würde ich behaupten, wegen des Ausblicks: Wenn sie nach unten schauen, haben sie einen fantastischen Blick ins Rheintal. Aber sie schauen sich auch dieses Denkmal an und ich bin mir nicht sicher, ob alle so verstehen, was sie dort sehen. Es ist ein historistisches Denkmal vom Ende des 19. Jahrhunderts. Der Anlass dafür war der Krieg mit Frankreich 1870/71…"
…und bei diesem Krieg, das weiß Touristenführerin Gabriele Schlimmermann, kann sie wenig Kenntnisse voraussetzen, wenn sie ihren Besuchsgruppen das Nationaldenkmal am Niederwald oberhalb von Rüdesheim erklärt. Seit 1883 steht dieses 38 Meter hohe Denkmal hier in einer alten Parkanlage. Auf dem reich verzierten Sockel reckt eine riesige Frauenfigur aus Bronze, Germania, eine Krone in den Himmel, die andere Hand mit dem Schwert hält sie gesenkt.
Preußische Truppen bei der Schlacht von Sedan am 1. September 1870 (Illustration): Gefallene und verwundete französische Soldaten vor der heranrückenden preußischen Garde
Ein prägender, aber fast vergessener Krieg
Bis heute sind sich Historiker uneins, wer 1870 den Deutsch-Französischen Krieg begann. Deutschland wurde dadurch zum Kaiserreich geformt, Frankreich zur Dritten Republik. Ein Rückblick auf diesen Krieg, an den heute kaum jemand mehr denkt.
'Wacht am Rhein' - ein "unsägliches Lied"
Unter ihr zeigt ein Relief Kaiser Wilhelm I., der noch als König im Juli 1870 in den Krieg gegen Frankreich zog, umgeben von Generälen, deutschen Fürsten und dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. Er war der Architekt des deutschen Kaiserreichs, das im Januar 1871 im französischen Versailles ausgerufen wurde.
"Darunter sind dann fünf Strophen der 'Wacht am Rhein', ein unsägliches Lied. Das können wir nicht singen, sage ich dann sofort. Wenn man ältere Leute dabei hat, das ist mir schon passiert, dass die dann laut die 'Wacht am Rhein' gesungen haben. Das ist ein Lied von Schneckenburger von 1840, das war damals so eine Art inoffizielle Nationalhymne. Es richtet sich gegen Frankreich, aber man wollte nicht provozieren. Die schlimmste Strophe hat man kurzerhand rausgelassen."
Rüdesheim: Niederwalddenkmal oberhalb der Stadt, 
Blick auf das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim (picture alliance /Georg Knoll)
Annexion von Elsass und Teilen Lothringens
Ein weiteres Relief zeigt, dass die "Wacht am Rhein" mit dem Krieg von 1870/71 eigentlich überholt war: Vater Rhein übergibt dort sein Wachthorn an Tochter Mosel, da nun dieser Fluss mancherorts nahe an der Grenze zu Frankreich floss – denn mit dem Frankfurter Frieden von 1871 annektierte Deutschland das Elsass und Teile Lothringens. Ein folgenschwerer Schritt, der auch noch den Friedensschluss nach dem 1. Weltkrieg prägen sollte. Doch eine kurze Umfrage unter Besuchern und Besucherinnen an diesem Sommertag zeigt, dass die Haltungen zu diesem deutsch-französischen Krieg vor 150 Jahren sehr unterschiedlich sind:
"Das hat man schon noch im Kopf. Mutter und Großmutter, die ham uns das auch erzählt. Wir haben halt in der Schule aufgepasst, ne?"
"Schule war ja damals auch noch, da wurde das alles durchgenommen."
"Mir ist in Erinnerung geblieben, dass es über die Jahrhunderte einige Kriege gab, aber der ist nicht besonders prägnant in Erinnerung geblieben, nein."
"Also wurde jetzt auch nie im Geschichtsunterricht behandelt oder so."
"Naja, früher war das wohl ein Siegesdenkmal, klar, beim gewonnenen Krieg, aber jetzt für mich ist das eher so ein Einheitsdenkmal."
"Das ist ein Nationaldenkmal. Also ehrlich gesagt kotzt es mich langsam an, was in diesem Land abgeht, und ich bin kein Nazi. Warum sollen wir keinen Nationalstolz haben oder sonst irgendwas? Da sind Hunderttausende dafür gestorben, dass wir hier jetzt stehen können und ein Interview machen können. So seh ich das."
140.000 getötete französische Soldaten
Historiker dürften das anders sehen als dieser Besucher mit dem großen "Gott mit uns"-Tattoo auf der Brust - jedenfalls war das Gebiet um Rüdesheim im Krieg von 1870 nicht umkämpft, und die Zahl der getöteten deutschen Soldaten wird höchstens auf 48.000 geschätzt. Frankreich allerdings, auf dessen Territorium sich der ganze Krieg mit Ausnahme einer ersten Schlacht bei Saarbrücken abspielte, hatte rund 140.000 getötete Soldaten zu beklagen.
Steffen Domschke, lokaler Vertreter der hessischen Schlösser- und Gärtenverwaltung, hat schon beobachtet, dass die Germania Menschen mit besonders deutschnationaler Gesinnung anzieht:
"Wir haben schon – nicht so intensiv, aber doch ab und an mal - Gruppen, Studentenvereinigungen, mal Jugendliche zu gewissen Tagen. Ganz typischer Tag ist Christi Himmelfahrt, der so genannte Männertag, wo dann die so genannten Männer dann hier meistens schon sehr angetrunken ankommen hier, und dann es auch Gruppen gibt, die sehr rechtsextremistisch angehaucht sind. Man sieht das schon mal an der Art der Kleidung und an der Art und Weise, was sie für Sätze von sich geben. Das gibt es schon."
"Es ist ja nicht die Absicht gewesen von Bildhauer Johannes Schilling zu betonen, dass man auf ewig Feind sein wird mit den Franzosen", erklärt Elisabeth Weymann, Pressesprecherin der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen. Allerdings:
"Ich habe mal ne Gruppenführung beobachtet, da wurde gesagt, die Germania ist nach Frankreich ausgerichtet – es gibt tatsächlich auch ein Buch von einer Historikerin, und da steht das eben auch drin, mangels gründlicher Recherche, dass die Germania eben noch zum alten Feind in Anführungsstrichen ausgerichtet ist. Das hat mich ein bisschen erschrocken, denn irgendwann müsste man mal darüber hinaus sein, dass man sowas immer wieder von alten Autoren abschreibt."
Bildhauer verhinderte Ausrichtung gen Frankreich
Denn noch bei der Aufstellung verhinderte Bildhauer Schilling, dass die Germania stärker gen Frankreich gedreht wurde, wie es so mancher Mitbetreiber des Denkmals gern gehabt hätte. Schon damals also standen sich Menschen gegenüber, die Hetze gegen den angeblichen Erbfeind Frankreich betrieben, und andere, die doch lieber im Einvernehmen mit den französischen Nachbarn leben wollten.
Genau diesen Zwiespalt zwischen Verfeindung und Verflechtung der beiden Länder hat die deutsche Historikerin Mareike König zusammen mit ihrer französischen Kollegin Elise Julien in einem Buch über die deutsch-französische Geschichte zwischen 1870 und 1918 beschrieben. Sie weiß, wie eng die grenzüberschreitenden Beziehungen auch noch nach dem Krieg waren – und doch:
"Im Kaiserreich hat dieser militärische Sieg über Frankreich und damit die Gründung des Kaiserreichs eine fast sakrale Bedeutung, und damit eigentlich auch alles Militärische, was man unter anderem in dieser Verherrlichung von Moltke sieht, aber eben auch in dem Gedenken an die Toten, die ihr Leben gelassen haben, um das Kaiserreich zu einen und den Feind zu besiegen."
Erinnerungen an den Sedantag
Erinnert wurde daran vor allem am so genannten Sedanstag, dem 2. September. Denn am 1. September 1870 schlugen die deutschen Truppen das französische Heer im nordfranzösischen Sedan entscheidend – am folgenden Tage kapitulierte Kaiser Napoleon III. persönlich und übergab König Wilhelm seinen Degen. Das französische Kaiserreich war am Ende – doch der Krieg noch lange nicht.
Denn die von deutscher Seite erhobene Forderung nach den Gebieten Elsass und Lothringen, die bis zur Eroberung durch Ludwig XIV. im 17. Jahrhundert deutsch gewesen waren, wollte die neu gegründete III. Republik nicht akzeptieren. Sie kämpfte weiter gegen die vorrückende deutsche Armee, und erst der Januar 1871 brachte einen Waffenstillstand. Paris wurde noch im März einige Tage von den Deutschen symbolisch besetzt, was zum Aufstand der Pariser Kommune führte.
Friedensvertrag in Frankfurt/Main
Am 10. Mai 1871 wurde in Frankfurt am Main endlich der Friedensvertrag unterzeichnet, wenige Tage später die Pariser Kommune niedergeschlagen. Doch gerade dieser Teil der Geschichte ist hierzulande wenig bekannt, weiß Historiker Tobias Arand, der in einem dicken Buch die Ereignisse des Krieges in Einzelschicksalen nacherzählt:
"In der späteren Wahrnehmung des Krieges der Deutschen endet der Krieg irgendwie bei Sedan. Das sind die Wochen von August bis September, in dem die großen siegreichen Schlachten geschlagen werden – Woerth, Spichern, die drei Schlachten rund um Metz - das bietet einen guten Ansatzpunkt für Erinnerungskultur im Kaiserreich. Was danach kommt, der schmutzige, hässliche Krieg an der Loire im Herbst und Winter, die Raubzüge ganzer Landstriche, die Besetzung und Belagerung von Paris, all diese Dinge, die eher schon in die Kriegsführung des 20. Jahrhundert verweisen, unschön und hässlich, die werden im Kaiserreich später gern verdrängt, so dass die Erinnerungskultur, das historische Gedächtnis des Kaiserreichs beim Sedan eigentlich aufhört."
Der letzte französische Kaiser Napoleon III. (l) in einer zeitgenössischen Darstellung während einer Unterredung mit Fürst Otto von Bismarck in Donchery nach der Schlacht bei Sedan.
"Dieser Krieg hat die Machtverhältnisse umgekehrt"
Bis zum Ausbruch des Krieges sei Frankreich die stärkste Militärmacht auf dem Kontinent gewesen, sagte Historiker Andreas Wirsching im Dlf. Das sei mit dem Krieg 1870/71 zu Ende gegangen. Das kleindeutsche Reich sei schließlich militärisch stärker gewesen.
Machtgefüge Europas entscheidend verändert
Das II. französische Kaiserreich und verschiedene deutsche Staaten waren im Juli 1870 gegeneinander in den Krieg gezogen; den Frieden schlossen zehn Monate später die III. französische Republik und das neue deutsche Kaiserreich. Das Machtgefüge Europas war entscheidend verändert. Am Sedanstag 1873 wurde in Erinnerung daran die Berliner Siegessäule eingeweiht. Und sie war längst nicht das einzige Denkmal, erklärt Tobias Arand:
"In jeder Stadt, in jedem kleineren Ort gibt es irgendwo ein Denkmal, das an die Gefallenen dieses Krieges erinnert. Überall gibt es Moltke-Straßen, Sedanstraßen – also er ist noch präsent, aber er wird nicht wahrgenommen, das ist das Interessante daran. Warum er nicht wahrgenommen wird? Ja, weil die beiden Weltkriege in ihrer Wirkung, in der Zahl der Opfer so viel größer und gewichtiger waren, dass das wahrscheinlich in der Tat überlagert worden ist. Dazu kommt, dass sich nach dem 2. Weltkrieg eine Geschichtsdeutung durchgesetzt hat, die diesen Krieg als ein typisches Produkt des preußischen Militarismus bezeichnet hat, der verantwortlich gemacht wurde dann in den Diskursen nach 1945 auch für den Militarismus im 1. und 2. Weltkrieg. Und insofern war diese Deutung, die Deutschen schämen sich dafür, nicht so ganz falsch."
Siegessäule auf dem Großen Stern im Berliner Tiergarten, Straße des 17. Juni.
Siegessäule auf dem Großen Stern im Berliner Tiergarten, Straße des 17. Juni. (picture-alliance/dpa/imageBroker )
"La bataille de Reichshoffen" ist ein französisches Kinderlied mit Bewegungen, das bis heute in Liederbüchern und Playlists zu finden ist. Es verklärt einen verzweifelten Angriffsversuch der französischen Kavallerie in der Schlacht bei Woerth im Nordelsass. In Frankreich ist die Schlacht, die am 6. August 1870 vermutlich 19.000 Todesopfer forderte, fälschlicherweise unter dem Namen des Orts benannt, aus dem die Meldung der Niederlage abgeschickt wurde - Reichshoffen.
Laurent Thurnherr, Direktor des Museums von Gravelotte bei Metz, das dem Krieg von 1870/71 und der Annexion von Elsass-Lothringen gewidmet ist, weiß:
"In allen Ferieneinrichtungen Frankreichs lernt man das Lied von der Schlacht von Reichshoffen, ohne zu ahnen, was das wirklich war. Wir haben diese Populärkultur, die sich aus diesem Krieg speist, ohne wirklich zu wissen, wo er auf einem Zeitstrahl einzuordnen wäre und welche Folgen er hatte."
Wachsendes Interesse in Frankreich
Allerdings beobachtet Thurnherr in den vergangenen Jahren, dass sich mehr Französinnen und Franzosen für den Krieg von 1870/71 interessieren:
"Ganz einfach, weil das französische Bildungsministerium diesen Zeitraum wieder in die Geschichtsbücher aufgenommen hat. Man interessiert sich wieder für das II. Kaiserreich, für die Gründe seines Zusammenbruchs und der Gründung der III. Republik. Und in der öffentlichen Meinung gibt es immer mehr Anknüpfungspunkte. 4 Jahre lang haben wir an den 1. Weltkrieg vor hundert Jahren erinnert. 2018 wollten die Franzosen dann wissen: Warum dieser Krieg? Was geschah davor und warum redet man ständig von einer Revanche?"
Antworten finden sich in den Räumen des Museums, das Laurent Thurnherr leitet. Es ist ein moderner Kupferbau, in dessen Inneren Uniformen, Gemälde, Videos und Karten das Ausmaß des Krieges und seine Folgen auch für die Region um Metz verdeutlichen.
Gerade erfährt eine Gruppe von Kindern von einem Museumsführer, wie oft das Elsass und Ostlothringen zwischen Frankreich und Deutschland wechselten und welche Konsequenzen das für die Bevölkerung hatte. Sie musste sich nicht nur jeweils auf eine andere Amts- und Schulsprache umstellen, sondern zum Teil auch in einer anderen Armee kämpfen oder ihre Region verlassen. Das ist bis heute spürbar.
"Es gibt auch besondere Gesetze, die nur im Elsass und im Département Moselle gelten, weil sie aus dieser Zeit stammen. Seht ihr, es ist eine besondere Gegend hier, weil sie zwischen Frankreich und Deutschland hin- und hergeschoben wurde…"
"Man lernt viel über den Krieg"
Die Kinder lauschen dem Museumsführer aufmerksam. Sie haben den Besuch hier selbst aus dem Angebot ihrer Ferieneinrichtung ausgewählt. Ein Junge will seinen Freunden davon erzählen:
"Ich werde ihnen raten, herzukommen, denn man lernt viel über den Krieg. Es ist besser, wenn man weiß, was passiert ist, um daraus seine Schlüsse zu ziehen, als unwissend zu bleiben und falsche Schlüsse zu ziehen."
Die junge Historikerin Charlotte Schenique macht gerade ein Praktikum im Museum von Gravelotte. Sie schreibt ihre Doktorarbeit über die Gedenkfeiern, die vor allem zu deutscher Zeit, aber auch noch nach dem 1. Weltkrieg in Elsass-Lothringen begangen wurden. Rund 60.000 Deutsche versammelten sich zu den 25-Jahr-Gedenkfeiern in der Gegend von Metz – heute erntet Schenique für dieses Forschungsthema viel Unverständnis.
"Die meisten Menschen um mich herum reagieren überrascht oder unwissend, denn die Leute kümmern sich nicht mehr um diesen Krieg von 1870. Zu oft wird er mit einem napoleonischen Krieg des 19. Jahrhunderts gleichgesetzt - dabei stellt er schon den Übergang zu den modernen Kriegen im 20. Jahrhundert dar."
Andere Gefühle als die "Innerfranzosen"
Und nicht nur das – bis heute fühlen sich viele Einwohner von Elsass-Lothringen anders als diejenigen, die sie gern als "Innerfranzosen" bezeichnen, erklärt Laurent Thurnherr, der von seiner Großmutter noch den Rat bekam, bloß kein Deutsch zu lernen, weil das die Sprache des Feindes sei:
"Sie finden hier im Gebiet von Elsass und Moselle Traditionen und Lebensweisen, die noch in Zusammenhang mit dieser Annexion stehen. 1919 nach dem Vertrag von Versailles kam der berühmte Robert Schumann in die Nationalversammlung und sagte – ich fasse das mal salopp und allgemeinverständlich zusammen: "Das ist ja nett, uns wieder ins französische Territorium aufzunehmen, aber wir hatten da einige Dinge erreicht, die wir nicht von heute auf morgen verlieren wollen. Er hat mit anderen Abgeordneten aus Elsass und Moselle bis 1923 gekämpft, um dieses lokale Recht zu erhalten." Das umfasst eine besondere Organisation der Krankenkasse, das Notarrecht für den Immobilienkauf, das Jagdrecht, schulischen Religionsunterricht, zusätzliche Feiertage an Karfreitag und am 26. Dezember, ein anderes Vereinsrecht – das sind viele Dinge, die eine andere Funktionsweise bewirken und hier bis heute angewandt werden."
Und eben die kollektive Erinnerung an diesen Krieg weiterhin wachhalten. Im fernen Paris konstatiert Mareike König vom Deutschen Historischen Institut für Frankreich:
"Die Erinnerung in Frankreich ist eine sehr regionale, lokal getriebene Erinnerung von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Da geht es eben darum, den lokalen Anteil an diesem Krieg, an dem Leiden auch zu dokumentieren, über diese Denkmäler, über Soldatenfriedhöfe und dergleichen."
Immer noch unterschiedliche Ansichten
Immer noch, darin sind sich Mareike König und ihr französischer Historikerkollege Laurent Thurnherr einig, gibt es auf beiden Seiten des Rheins unterschiedliche Ansichten, wer eigentlich die französische Kriegserklärung im Juli 1870 provoziert hat. Laurent Thurnherr kann dieses Auseinanderdriften der nationalen Einschätzungen mit einem Dokumentarfilm auf Arte illustrieren, in dem Experten sagen sollten, wer den Krieg ausgelöst hat:
"Da sieht man den befragten deutschen Professor sehr spontan antworten: 'Frankreich natürlich.' Der französische Interviewpartner – in diesem Fall ich – sagt, ebenfalls ganz spontan: 'Na, Deutschland, also Preußen, Bismarck, der dahintersteckte.' Und der Engländer antwortet: 'Da muss man abwägen. Jede Seite ist ein bisschen verantwortlich für das Geschehen. Wir von unserem englischen Standpunkt aus sagen: Da haben sich alle gesucht und irgendwann gefunden.'"
Kein einfacher Austausch über den Krieg
Aber nicht nur unter Fachleuten, auch unter einfachen Geschichtsinteressierten scheint der Austausch über diesen Krieg nicht einfach, glaubt man Roland Hoyndorf. Er ist der Vorsitzende des Museumsvereins von Woerth – also dem Ort der so genannten Bataille de Reichshoffen – und hat beobachtet:
"Wenn wir mit Deutschen reden, die sich für Geschichte interessieren, dann sprechen sie mit einem gewissen Schuldbewusstsein darüber: Was haben wir euch Franzosen angetan 1870, noch mehr 1939-1945, etwas weniger 1914-18, denn das lag ein bisschen anders. Ich habe Verwandte in Norddeutschland, meine Familie stammt von dort. Wenn ich hinfahre, versuche ich, ein wenig darüber zu reden, aber sie meiden das Thema. Man spürt, dass sie beschämt sind. Natürlich sprechen wir über Europa, wir sind unter uns, wir versuchen, das alles etwas zu entmystifizieren. Aber es ist nicht einfach."
Gabriele Schlimmermann, die Touristenführerin vom Niederwalddenkmal, hat dagegen festgestellt, dass sie sich gar nicht so viele Gedanken machen muss, wenn sie französischen Besucherinnen und Besuchern die große Germania am Rhein zeigt:
"Ich hatte auch schon Franzosen hier und die haben mit diesem Denkmal überhaupt keine Probleme. Ich gehe meistens von unten nochmal hoch, damit man nochmal Details fotografieren kann und dachte: Hm, jetzt musst du da an diesen Seiten vorbei, da sind diese ganzen Schlachten aufgeführt - das war mir einfach peinlich. Eine französische Dame hat das wohl auch gemerkt und dann hat sie mich angeschaut und gesagt: ‚Machen Sie sich keine Sorgen – wir kennen unsere Geschichte.‘ Das fand ich so schön!"

Buchhinweise:
Tobias Arand: 1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Kriegs erzählt in Einzelschicksalen, Osburg Verlag, 700 Seiten

Mareike König / Elise Julien: Verfeindung und Verflechtung. Deutschland und Frankreich 1870-1918, WBG Deutsch-Französische Geschichte, Band VII, 436 Seiten