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Deutsch-Französischer Krieg vor 150 Jahren
"Dieser Krieg hat die Machtverhältnisse umgekehrt"

Bis zum Ausbruch des Krieges sei Frankreich die stärkste Militärmacht auf dem Kontinent gewesen, sagte Historiker Andreas Wirsching im Dlf. Das sei mit dem Krieg 1870/71 zu Ende gegangen. Das kleindeutsche Reich sei schließlich militärisch stärker gewesen - bis in den Zweiten Weltkrieg hinein.

Andreas Wirsching im Gespräch mit Christoph Heinemann | 25.06.2020
Der letzte französische Kaiser Napoleon III. (l) in einer zeitgenössischen Darstellung während einer Unterredung mit Fürst Otto von Bismarck in Donchery nach der Schlacht bei Sedan.
Napoleon III mit Fürst Otto von Bismarck in Donchery nach der Schlacht bei Sedan in einer zeitgenössischen Darstellung (picture alliance / dpa)
Vor 150 Jahren standen sich Franzosen und Deutsche schwer bewaffnet gegenüber. Auslöser damals war der Streit zwischen Frankreich und Preußen um die Thronfolge in Spanien. Morgen vor 150 Jahren hätte das spanische Parlament den Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen als König bestätigen sollen. Der Termin sollte zunächst geheim bleiben. Durch einen Fehler bei der Entschlüsselung einer telegrafisch übermittelten Botschaft wurde die Sache öffentlich.
Frankreich war alarmiert. Die geplante Inthronisierung eines Hohenzollern in Madrid weckte in Paris Ängste. Mehrfach sprachen französische Diplomaten bei Preußens König Wilhelm I. vor, der sich in Bad Ems zur Kur aufhielt. Schließlich verweigerte der Monarch den französischen Gesandten eine letzte Audienz. Die Sache hatte sich aus seiner Sicht erledigt, denn der Hohenzollern-Prinz hatte seine Kandidatur für den spanischen Thron zurückgezogen.
Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck spitzte eine entsprechende telegrafische Mitteilung bewusst zu, um Frankreich als Aggressor darzustellen.
Professor Andreas Wirsching lehrt neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und er leitet das Institut für Zeitgeschichte. Im Dlf sagte er, dass sowohl Frankreich als auch Deutschland ein Interesse an dem Krieg hatten.
Andreas Wirsching, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte, blickt am 06.03.2017 im Anschluss einer Pressekonferenz zum Projekt "Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit" im Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München (Bayern) in die Kamera
Andreas Wirsching, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München (Matthias Balk / dpa)
"Sie wollten den Krieg"
Christoph Heinemann: Wer hatte ein Interesse an diesem Krieg?
Andreas Wirsching: Der Krieg 1870/71 fand auch deswegen statt, weil beide Seiten ein Interesse an dem Krieg hatten. Ich rede dabei jetzt nicht unbedingt von den Völkern, aber von den Regierungen. Für Preußen und mit Bismarck an der Spitze war es schon relativ klar, dass man diese deutsche Einheit, die ja viele wollten, durch einen Krieg möglicherweise gegen Frankreich gewissermaßen mit Blut und Eisen, wie Bismarck ja schon in einem berühmten Satz gesagt hatte, hinkriegen könnte, und für Frankreich, insbesondere für das napoleonische System, war der Krieg eine Prestige-Frage.
Man wollte nach der Niederlage von Österreich 1866 bei Sadowa (oder im Deutschen sagte man bei Königgrätze) – das sind zwei unterschiedliche Orte. Seitdem hatte sich die Macht ziemlich verschoben zwischen Preußen und Österreich. Preußen war mit dem Norddeutschen Bund zu einem wirklich ernst zu nehmenden Konkurrenten geworden und das wollte man eine Strecke weit rückgängig machen in Frankreich.
Abgesehen davon ist das napoleonische System unter Napoleon III. auch in der innenpolitischen Krise, und es ist häufig in solchen Situationen so, dass man außenpolitischen Erfolg suchte. Deswegen hat Napoleon III. ziemlich gezielt dann auch den Krieg gewollt und insofern sind da zwei Interessen aufeinandergeprallt.
Heinemann: Waren 1870 Schlafwandler unterwegs?
Wirsching: Schlafwandler ist ja der Begriff von Christopher Clark für den Beginn des Ersten Weltkrieges. Das kann man mit Sicherheit nicht sagen. Die preußische Regierung, Bismarck und vor allem auch der preußische Generalstabschef, der ältere Moltke, die wussten schon ziemlich genau, was sie da wollten. Sie wollten den Krieg und waren nun absolut das Gegenteil von Schlafwandlern in der Hinsicht.
Ob die französische Regierung mit Kaiser Napoleon III. vorneweg so genau gewusst haben, auf was sie sich da einlassen, da wäre ich mal nicht so sicher. Aber man hat den Krieg auf jeden Fall einkalkuliert und wollte ihn. Insofern wäre der Begriff Schlafwandler da, glaube ich, irreführend.
Emser Depesche: Keine Fake-News
Heinemann: War die Emser-Depesche das, was man heute eine Fake News nennen würde?
Wirsching: Nein, das würde ich nicht sagen. Das war nicht Fake News. Es war ja keine Falschmeldung in dem Sinne. Es war eine, von Bismarck mit dem Willen zum Krieg versehene Kürzung eines Telegramms, was er von dem Umfeld von Wilhelm I., dem preußischen König, bekommen hat. Und was er gemacht hat war, dass er durch reine Weglassung von Text eine massive Beleidigung konstruiert hatte – eine Beleidigung, die Wilhelm I. gegenüber den Gesandten des napoleonischen Frankreichs ausdrücken sollte. Es geht ja darum: Die Franzosen – das war, wenn man so will, ein Fehler – wollten eine dauerhafte Bestätigung schriftlich haben, dass das Haus Hohenzollern niemals mehr einen spanischen Thronkandidaten aufstellen würde. Das hat dann Wilhelm I. abgelehnt und dann wollten sie das noch schriftlich haben, und dann hat Wilhelm I. gesagt, nein, das macht er nicht. Und diesen Text, den hat Bismarck so, man kann sagen, geschickt in seinem Sinne gekürzt, dass daraus quasi ein Affront gegenüber Frankreich wurde, und das war dann letztlich der Anlass auch zum Krieg. Aber Fake News würde ich nicht sagen. Es ist eine Bearbeitung einer internen Meldung.
Heinemann: Zuspitzung.
Wirsching: Eine Zuspitzung durch Weglassung, die dann entsprechend gewirkt hat.
Heinemann: Wie blickten die Franzosen auf Preußen und seine Bundesgenossen und umgekehrt die Menschen im späteren Deutschen Reich auf Frankreich?
Wirsching: Das ist eine sehr interessante und auch komplexe Frage. Was die Letztere betrifft: Frankreich galt bei vielen Deutschen, gerade auch im bürgerlichen Lager und unter den protestantischen Eliten insbesondere schon als ein Staat, der eine lange Tradition der Aggression verkörperte, geradezu als ein Raubstaat Deutschland gegenüber, gerade auch einem ohnmächtigen Deutschland gegenüber, insbesondere im 17. Und 18. Jahrhundert. Während es natürlich gleichzeitig teilweise in denselben Schichten auch eine sehr hohe kulturelle Verehrung für Frankreich gab. Das ist nicht so eindimensional zu sehen und umgekehrt ist es genauso. In Frankreich – es gibt die berühmte Vorstellung eines geistigen Deutschlands von Madame de Stael vom Beginn des 19. Jahrhunderts und das setzt sich auch fort. Man hat in Frankreich durchaus auch die geistesgeschichtliche Tradition, vorneweg auch Goethe und die Philosophen in Deutschland gesehen, die man durchaus auch geschätzt hat. Insofern ist das eine sehr uneindeutige Beziehung zwischen beiden, wenn man so will, Kulturen, die dann aber durch den Krieg ziemlich durcheinandergewirbelt wurde.
"Frankreich hat unter Ludwig XIV. eine Expansionspolitik betrieben"
Heinemann: Wie entstand das Gefühl einer Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland?
Wirsching: Auch das ist interessant. In Deutschland, vor allem in Preußen, aber nicht nur in Preußen, hatte man den Eindruck, dass schon Ludwig XIV. schon im 17. Jahrhundert etwa durch den pfälzischen Erbfolgekrieg im Grunde den Deutschen Unrecht getan hatte. Da geht es dann insbesondere in der Tat um Elsass und Lothringen. Durch diese sogenannte Reunions-Politik hat Ludwig XIV. es durch eine ziemlich klare Machtpolitik geschafft, diese ursprünglich, vor allem, wenn man an das Elsass denkt, ja durchaus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation angehörigen Territorien an Frankreich zu binden.
Das wurde schon im 19. Jahrhundert als Raub gewissermaßen angesehen, was unhistorisch ist, denn in der frühen Neuzeit waren solche Ringtausche beziehungsweise überhaupt territoriale Erwerbungen durch den Anspruch auf Erbschaften völlig gang und gäbe. Das hat jede Großmacht gemacht, das hat auch Preußen gemacht, das hat gerade auch Österreich gemacht. Insofern ist das eine Verzerrung, eine historische, aber sie hat im 19. Jahrhundert gewirkt. Man hat gedacht, hier ist eine schon lange Tradition am Werke, die Frankreich zum Aggressor gegenüber Deutschland macht, und das Ergebnis des deutsch-französischen Krieges 1870/71 hat das umgedreht und durch die Annexion Elsass-Lothringens durch das Kaiserreich ist eine offene Wunde auch geschaffen worden in Frankreich, die dann doch, muss man sagen, mit der Rivalität, der Großmacht-Rivalität zusammen bis tief ins 20. Jahrhundert gewirkt hat. Das ist dann auch sekundär natürlich als Erbfeindschaft geradezu ideologisiert worden.
Heinemann: Wieso haben Franzosen und Deutsche jahrhundertelang um das Elsass und um Lothringen gestritten?
Wirsching: Die Problematik ist, dass Elsass und Lothringen mit den drei wichtigen Bistümern Metz, Toul und Verdun zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörten. Frankreich hat unter Ludwig XIV. eine Expansionspolitik betrieben, auch durch mehrere Kriege, vor allem pfälzischer Erbfolgekrieg, spanischer Erbfolgekrieg, und hat durch die Behauptung von Rechtstiteln, über deren Validität dann zu streiten ist, es geschafft, mit einer Mischung aus Rechtstiteln und auch der Androhung von Gewalt – Frankreich war der Stärkere, das ist gar keine Frage – diese Territorien an Frankreich zu binden oder Frankreich geradezu einzuverleiben, und das ist von den damaligen Reichsständen vom Heiligen Römischen Reich nolens volens akzeptiert worden, ist aber im 19. Jahrhundert eine offene Frage. Sie wird auch im Zeitalter des Nationalismus, als er im 19. Jahrhundert erst richtig beginnt, zu einer alten neuen Wunde gemacht, die dann 1870/71 quasi selbstverständlich als Kriegsziel auch stattfindet, dass man sagt, Elsass-Lothringen muss "zurück nach Deutschland".
Das haben die Franzosen natürlich vollständig anders gesehen und deswegen gibt es dann die Geschichte von 1870/71 zu 1914-_18 bis 1940-_44. Das ist fast eine Tragödie, kann man sagen, in diesem deutsch-französischen Verhältnis.
"Bei dem Krieg gibt es zwei Phasen"
Heinemann: Bildet der deutsch-französische Krieg eine Ursache des Ersten Weltkrieges?
Wirsching: Eine Ursache, glaube ich, schon, weil mit dieser Annexion Elsass-Lothringens in Frankreich gewissermaßen ein Revanche-Bedürfnis verstetigt wird. Es gibt ja den berühmten französischen Satz, immer daran denken, nie davon sprechen. Das Revisionsbegehren, was Elsass-Lothringen betrifft, ist eine Konstante in der französischen Politik. Das wusste natürlich auch die deutsche Diplomatie und das blockiert andernfalls vielleicht mögliche Ausgleichsmöglichkeiten zwischen diesen beiden Ländern. Insofern ist das schon mit ein Grund für die Konstellation, die dann am Ende zum Ersten Weltkrieg führt, dass man einen ganz klaren deutsch-französischen Dualismus hat. Das ist eine axiomatisch gesehene Feindschaft, hat auch Bismarck selber so gesehen. Da lässt sich nichts machen, das ist eben so, und das ist durch Elsass-Lothringen zementiert worden.
Heinemann: Erinnert die Militärtechnik und die Kriegführung von 1870/71 eher an die napoleonischen Feldzüge, oder weist sie bereits auf den Ersten Weltkrieg hin?
Wirsching: Die Frage ist in der Forschung nicht ganz unumstritten. Es gibt schon Teile der Militärgeschichte, die sagen, das hat schon Elemente eines totalen Krieges. Was ist ein totaler Krieg? Ein totaler Krieg ist der, der die, in der Vergangenheit dann schon immer wieder auch akzeptierten Grenzen zwischen dem Zivilen und dem Militärischen überschreitet und beides im Grunde verknüpft.
Bei dem Krieg gibt es zwei Phasen. Die erste Phase ist mit dem 2. September 1870 mit der Schlacht von Sedan und der Gefangennahme Napoleons III. beendet. Das ist eher so ein traditioneller Kabinettskrieg, der kurz und deutlich sein soll. Aber dann ist es ja so - in Frankreich wird ja dann die Republik ausgerufen am 4. September -, dass die republikanische Regierung unter Gambetta und Favre insbesondere den Krieg weiterführen will – nicht zuletzt deswegen, weil die Deutschen auch sagen, wir wollen auf jeden Fall das Elsass und Lothringen haben. Und das führt dann dazu, auch auf den Druck der deutschen Militärs, dass die Deutschen weiterziehen nach Paris und Paris anfangen zu belagern, und das ist ein Feldzug, wo die zivile Dimension dann schon sehr stark in Mitleidenschaft gezogen wird, und da fangen dann auch in der Kriegsführung an, totale Kriegsführungspraxen zu beginnen. Das heißt, das ist ein Wetterleuchten schon für den Ersten Weltkrieg. Das kann man schon sagen.
"Bismarck hatte immer Angst vor einer Intervention der europäischen Mächte"
Heinemann: Warum wurde der deutsche Kaiser in Versailles gekrönt?
Wirsching: Das hat im Wesentlichen zwei Gründe. Der erste ist pragmatisch, weil die deutschen Truppen und vor allem das Hauptquartier, auch das politische Hauptquartier mit Bismarck vorneweg, in Versailles platzgenommen haben. Man ist nach Paris gezogen und die Deutschen haben sich in Versailles niedergelassen. Das war relativ praktisch, weil das ja bekanntlich nahe an Paris ist und auch die Räumlichkeiten und so weiter geboten hat. Das ist eigentlich eher pragmatisch.
Und es war auch so, dass Bismarck in Versailles saß. Er hatte ja immer Angst vor einer Intervention der europäischen Mächte und wollte eigentlich, dass dieser Krieg schnell zu Ende geht, dass diese Intervention nicht stattfinden könnte.
Insofern war das ein pragmatischer Grund, weil die Deutschen nun schon mal in Versailles waren, aber das Ganze hat eine so hohe Symbolik bis hin, dass es im Spiegelsaal stattfand, dem großen Schaufenster Ludwigs XIV. und der französischen Monarchie, dass das auch eine Demütigung ist. Es ist eindeutig auch als Demütigung Frankreichs, als Machtdemonstration gegenüber Frankreich gedacht gewesen, und das beides zusammen gibt diesem 18. Januar 1871 natürlich eine sehr hohe Symbolkraft.
Überlegenheit Deutschlands
Heinemann: Welche Folgen hatte die Gründung des Deutschen Reiches für die Machtverhältnisse und den Frieden in Europa?
Wirsching: Ich glaube, man kann die These schon sehr gut wagen, dass dieser Krieg die Machtverhältnisse umkehrt. Bis dahin war, wenn man mal von Russland mit allen seinen Eigentümlichkeiten und Großbritannien mit seiner Insellage absieht, Frankreich ganz selbstverständlich die stärkste Militärmacht auf dem Kontinent und damit im Grunde eine potenzielle nicht Hegemonialmacht, aber eine Macht, die schon eine Strecke weit sagen konnte, wo es in Europa langgehen sollte. Zumindest war das immer das Ziel.
Das ist mit dem Krieg von 1870/71 zu Ende. Das kleindeutsche Reich ist demographisch, dann auch wirtschaftlich – das zeigt sich sehr schnell – und am Ende auch militärisch deutlich stärker als Frankreich, und im Grunde, wenn man so will, bleibt das eine Strecke weit bis in den Zweiten Weltkrieg hinein so. Natürlich gibt es den Ersten Weltkrieg und den Versailler Frieden, der natürlich wiederum nicht zufällig Versailler Frieden ist, wo die Großmacht Deutsches Reich zwar entwaffnet wird, aber in der Substanz bleibt eine Großmachtstruktur auch nach dem Versailler Frieden in der Weimarer Republik bestehen. Und in dem Maße, in dem sich Deutschland dann erholt, vor allem in den 30er-Jahren, wird diese Überlegenheit, diese strukturelle Überlegenheit Deutschlands gegenüber Frankreich wieder spürbar, und das gehört zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges und der Niederlage Frankreichs von 1940.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.