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Deutsch-französischer Roman
Ungewöhnliche Familiengeschichte

2012 landete die Fernsehmoderatorin Anne Gesthuysen mit ihrem niederrheinischen Familienroman "Wir sind doch Schwestern" einen Bestseller-Erfolg. In ihrem zweiten Roman "Sei mir ein Vater", in dem eine Französin am Niederrhein landet, führt Gesthuysen uns vor, was Frauen zustande bringen können, die sich gegen die Männergesellschaft stellen.

Von Christoph Vormweg | 30.08.2016
    Die Journalistin und Autorin Anne Gesthuysen an ienem Stehtisch im Flur des Deutschlandfunks.
    Die Journalistin und Autorin Anne Gesthuysen zu Gast im Deutschlandfunk. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Nach dem Niederrhein von innen nun also der Niederrhein von außen. Wie fühlt sich eine Pariserin im schwarzen Existenzialisten-Look, die es 1986 im Rahmen des Schüleraustauschs für Monate nach Xanten verschlägt? "Nazis, Winter und behaarte Beine": Mehr hat Lilie nicht erwartet. Und sie leidet sofort unter dieser – so wörtlich - "unmelodischen Sprache, die sich anhörte wie ihr Labrador Bull, wenn er auf einem Knochen herumkaute."
    Anne Gesthuysen bezeugt in ihrem Roman "Sei mir ein Vater" schon auf den ersten Seiten ihre Fähigkeit zur Selbstironie. Denn ihr Alter Ego, Hanna Terhöven, wird als "Landpomeranze" eingeführt: mit null modischem Durchblick. Doch Achtung: Man sollte niederrheinische "Landeier" nie unterschätzen. Denn Kulturschocks sind bekanntlich "pädagogisch wertvoll". In diesem Fall für beide. Hanna blickt über den Tellerrand der Provinz hinaus, und Lilie, die aus chaotischen Familienverhältnissen stammt, findet zum ersten Mal Rückhalt. Und das ausgerechnet in Hannas Mercedes fahrendem Wirtschaftswundervater Hermann.
    Fragen über Fragen, die Hermann wieder auf Trab bringen
    "Ich habe kein Sendungsbewusstsein. Ich beschreibe nur. Das Thema "Vater und Väter" ist in meinem Umfeld ein überraschend wichtiges Thema. Es gibt Freundinnen, die ich habe, die haben keinen greifbaren Vater, sind "alleinerziehend aufgewachsen". Ich kenne aber auch Freundinnen, die tatsächlich allein Kinder erziehen und damit ihre Probleme haben, weil irgendwann fangen die Kinder an, nach einem Vater zu fragen. Ich habe aber auch festgestellt, dass es die Möglichkeit gibt, dass Kinder offenbar irgendwann - und zwar egal welchen Geschlechts - irgendwo nach dieser Vaterfigur verlangen, vielleicht einfach nur, weil sie es bei den anderen sehen, dass es sehr bedeutend und sehr wichtig ist - auf der anderen Seite aber es auch Möglichkeiten gibt, sich einen Ersatzvater zu suchen. Das hat bei meiner Freundin funktioniert, die sich meinen Vater als eine Art Ersatzvater genommen hat, auch da ist der Roman "Sei mir ein Vater" sicherlich der Realität entsprechend. Das war so. Die hat sich nach einem Vater sehr dringend gesehnt und hat ihn in meinem Vater gefunden, der ihr Gastvater war."
    Und diese Bindung hält auch 2007 noch, als Lilie längst selbst alleinerziehende Mutter eines Sohnes ist. Als sie erfährt, dass Hermann bald an Krebs sterben wird, reist sie sofort nach Xanten. Dort erzählt sie von ihrem letzten Malheur: dem Einbruch in ihre Pariser Wohnung. Da sie den Täter überraschte, floh er ohne Beute. Möglicherweise hatte er es auf ein wertloses Bild in ihrer Abstellkammer abgesehen. Fragen über Fragen, die den angeschlagenen Hermann wieder auf Trab bringen. Er will lieber "seinen letzten Krimi" erleben als im Bett auf den Tod warten.
    "Ich hatte zu Beginn Angst davor, dass es tatsächlich zu sehr nach Krimi aussehen könnte. Und in der ursprünglichen Fassung habe ich tatsächlich mal den Krimi nach Seite 20 aufgelöst (lacht), weil ich so ein bisschen dachte: Ach nee, das ist ein anderes Buch und davor hatte ich ein bisschen Angst. Ich finde, da muss man sich zu viel Gedanken darüber machen, wie man so etwas konstruiert. Dann habe ich in Rücksprache auch mit meiner wunderbaren Lektorin festgestellt: Also, na ja, entweder man macht es oder man macht es nicht. Aber man kann es nicht nach 20 Seiten auflösen. Das geht nicht. Eigentlich: Krimi würde ich es gar nicht nennen, sondern es ist ein Rätsel, ein kleines Rätsel, das wie eine Schnitzeljagd ist und verhilft, die Recherche über Georgette Agutte und Marcel Sembat weiter zu treiben."
    Wir folgen einem zweispurigen Plot
    Nichts geht ohne Tanten bei Anne Gesthuysen. In den Blickpunkt ihres Romans "Sei mir ein Vater" rückt auf einer zweiten Erzählebene Lilies Ururgroßtante Georgette Agutte. Sie ist die Tochter jenes erfolglosen, noch vor ihrer Geburt gestorbenen Künstlers, der das ominöse Bild gemalt hat. Womit wir beim nächsten Über-Vater wären. Denn die kleine Georgette schreibt ihrem nie gekannten Erzeuger rührende, sehnsuchtsvolle Briefe ins Jenseits. Mehr noch: Sie ist voller Ehrgeiz und will sein künstlerisches Erbe antreten. Und so wird aus Georgette Agutte eine respektable, heute aber in Vergessenheit geratene Malerin des Impressionismus.
    Wir folgen also einem zweispurigen Plot: auf der einen Seite der zuweilen etwas überkonstruiert wirkenden Spurensuche unserer drei Laien-Detektive, die von Xanten nach Frankreich aufbrechen, um vor Ort zu recherchieren; auf der anderen einer bewegenden Frauenbiografie der Belle Époque. Anne Gesthuysen führt uns vor, was Frauen zustande bringen können, die sich gegen die Männergesellschaft stellen. Georgette schafft es nicht nur an die École des Beaux-Arts, wo Ende des 19. Jahrhunderts nur Männer studieren dürfen. Sie setzt sich auch gegen die für Frauen demütigenden Scheidungsgesetze durch und heiratet in zweiter Ehe ihre große Liebe: den sozialistischen Politiker und Kunstkenner Marcel Sembat.
    "Ich bin von Haus aus Journalistin und habe mich zunächst mit den Freiheiten sehr schwergetan. Wenn ich sage: Ich habe sehr viel recherchiert, dann war das für mein Gefühl immer noch zu wenig, weil ich dachte: Eigentlich müsste ich jetzt erst mal anfangen, ein kunsthistorisches Studium zu absolvieren, dann Politikwissenschaften (lacht), spezialisiert auf das Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg und im Ersten Weltkrieg – und dann hat mich irgendwann auch wieder meine Lektorin erlöst und gesagt: Entschuldige, es ist ein Roman - und es bleibt ein Roman. Ich habe also, glaube ich, schon viel recherchiert und habe dann gesagt: Ich will aber, dass diese Figuren leben. Ich will, dass das Menschen auch lesen können, die keine Lust haben, eine Abhandlung über Frankreich des beginnenden 20. Jahrhunderts zu hören oder zu lesen."
    Auch ein bisschen Exotik darf nicht fehlen
    Eingängigkeit ist Trumpf im Roman "Sei mir ein Vater". Anne Gesthuysen will unterhalten, anrühren, zum Lachen bringen, also ein "breites" Lesepublikum ansprechen. Wichtiger als stilistische Finesse ist ihr ein flotter, dialog- und pointenreicher Plot. Über die zum Teil dramatische Liebesgeschichte von Georgette Agutte und Marcel Sembat macht sie so eine mitreißende Epoche in leichter Form transparent – eine Epoche, die geprägt ist von sozialem Engagement, von künstlerischem Aufbruch, von politischen Grabenkämpfen und mörderischen Intrigen. Dabei erzählt Anne Gesthuysen das Leben von Georgette Agutte ruhiger und distanzierter als das der ihr folgenden Laien-Detektive.
    "In der Zeit der Belle Époque, da habe ich mir Albernheiten erspart. Das sind sehr ernsthafte, intellektuelle Menschen gewesen. Ich wollte denen natürlich ein bisschen Leichtigkeit mitgeben, aber nicht die Leichtigkeit, wie wir sie heute haben. Im Grad der Leichtigkeit, der Möglichkeit zur Albernheit unterscheiden sich die beiden Zeitebenen. Manchmal ist die Sprache der Belle Époque ein bisschen gestelzt. Das liegt daran, dass ich tatsächlich viel recherchiert habe, Tagebücher gelesen habe, und dann manche Szenen auch mehr oder weniger übersetzt habe – und dabei kommt dann eben tatsächlich so eine etwas ältere Sprache heraus. Ich bin keine Historikerin und dann hätte ich es lächerlich gefunden, als hätte ich den Klang der Sprache drauf - aber so ein bisschen in der Andeutung soll das so sein."
    In den 2007 spielenden Passagen dagegen sucht Anne Gesthuysen - trotz oder gerade wegen Hermanns bevorstehendem Tod – immer wieder das Witzige, die Reibereien des Alltäglichen, die deutsch-französischen Unterschiede. Auch ein bisschen Exotik darf nicht fehlen. So entführt uns ihr Roman "Sei mir ein Vater" bis nach Guadeloupe, wo Lilies Erzeuger lebt. Der Roman wird indirekt zu einem Plädoyer gegen die paradoxe, den Krankenhäusern viel Geld einbringende Methode, unheilbare Krebspatienten bis zum Ende kurieren zu wollen. Denn der robuste Hermann will das irdische Dasein bis zur letzten Minute auskosten und genießt es, seinen Mercedes – gerade in Frankreich mit seinen Tempolimits – noch einmal voll auszufahren. Auch das gehört zu den vielen deutsch-französischen Klischees, mit denen Anne Gesthuysen humor- und liebevoll spielt.
    Anne Gesthuysen: "Sei mir ein Vater"
    Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2015. 422 Seiten, 19,99 Euro