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Deutsch-israelische Literaturtage
Aus dem bundesrepublikanischen Horizont herausblicken

Als Schullektüre ist ihr Roman in Israel verboten, dennoch gehört Dorit Rabinyans "Wir sehen uns am Meer" zu den meist gelesenen Büchern Israels. Jetzt ist die Autorin bei den 10. Deutsch-israelischen Literaturtagen zu Gast. Thema dort ist nicht nur der Nahost-Konflikt, sondern vor allem eines: der Umgang beider Länder mit Migranten.

Von Mirko Schwanitz | 06.11.2016
    Die israelische Schriftstellering Dorit Rabinyan während eines Fotoshootings in Rom.
    Die israelische Schriftstellering Dorit Rabinyan. (imago stock&people)
    Vor einigen Tagen erwartete die israelische Autorin Dorit Rabinyan eine Überraschung. Als sie neulich in Tel Aviv ihren Briefkasten öffnete, habe sie einen Brief von Bundeskanzlerin Merkel vorgefunden. Die habe ihr Buch "Wir sehen uns am Meer" gelesen und sei tief beeindruckt.
    "In meinem Buch geht es um die zentrale Kraft der Vermischung, die Kraft, die aus einer Symbiose von zwei Menschen erwachsen kann, aber auch um die Symbiose unterschiedlicher Nationalitäten, Ethnien – in diesem Fall von Israelis und Palästinensern."
    Dass Dorit Rabinyan mit ihrem Buch über eine unerfüllte Liebe zwischen einer Jüdin und einem Palästinenser zu den deutsch-israelischen Literaturtagen eingeladen wurde, ist kein Zufall. Obwohl in Israel als Schullektüre verboten, wurde der Roman zum meistverkauften Buch dieses Jahres. Und zeigt damit fast exemplarisch, was Literatur in einem tief gespaltenen Einwanderungsland wie Israel zu leisten vermag.
    Utopien zulassen
    Für Deutschland hingegen sei die Erfahrung mit massenhafter Migration, zudem in einer historisch solch kurzen Zeitspanne gewissermaßen Neuland, sagt Heike Friesel vom Goethe-Institut, das die Literaturtage gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung organisiert. Und auch auf die daraus resultierende Spaltung der Gesellschaft, habe die Regierung noch immer keine wirkliche Antwort gefunden.

    "Dort, wo die Regierung mehr und mehr zu versagen droht, da ist es notwendig, das Autorinnen und Autoren diesen Platz einnehmen und Offenheit und Toleranz einfordern. Wir müssen Utopien zulassen. Wir müssen diese Verzagtheit, die sich mehr und mehr breitmacht, nicht zulassen."
    Und so stehe hinter allen Diskussionen der eingeladenen 18 Schriftsteller auch die Frage, was Deutschland von der israelischen Erfahrung im Umgang mit Einwanderung lernen könne, sagt Mitorganisator Christian Röhmer.
    "Uns ist wichtig zu sagen, was passiert ab dem Punkt, wenn ich ankomme in der fremden Heimat. Einmal kommen da Flüchtlinge aus unterschiedlichsten Ländern an, in Israel wie auch bei uns, und gleichzeitig gibt es durch die Gründergeneration eine eigene Flüchtlingserfahrung. Insofern ist der Diskurs, der geführt werden kann durch die Autorinnen und Autoren natürlich ein informierter, also ein durch Erfahrung informierter."
    Es geht um Ängste
    Israel habe seine Flüchtlingspolitik in den letzten Jahren immer wieder geändert, erklärt der Autor Etgar Keret. Es helfe zwar stillschweigend Verletzten des syrischen Bürgerkrieges, nehme aber selbst keine Flüchtlinge aus Syrien auf. Dennoch, sagt Etgar Keret, beobachte man in Israel durchaus mit Empathie die Vorgänge in Deutschland.
    "Weil ich glaube, dass es in beiden Ländern heute um die gleichen Dinge geht. In beiden Ländern geht es letztlich um Ängste. Der Unterschied? Unser Premier ist ein Mann, der die Ängste gezielt nutzt, um die Spannungen in der Gesellschaft zu schüren. Die deutsche Bundeskanzlerin hingegen wird in Israel als jemand wahrgenommen, die eher alles tut, um hochkochende Gefühle zu beruhigen."
    Für die deutsche Lyrikerin Nora Bossong ist ein anderer Aspekt wichtig, nämlich, dass bei einer solchen Begegnung einmal nicht der Nahost-Konflikt im Vordergrund stehe, sondern ein Thema, dass das Publikum hier und jetzt und unmittelbar bewege.
    "Natürlich bringt es sehr viel, wenn wir aus unserem bundesrepublikanischen Horizont hinausblicken. Wir waren bisher ja eher in einer komfortablen Lage. Jetzt sind wir einfach in der Wirklichkeit angekommen."
    Auf die Frage, ob die Deutschen, in dieser Wirklichkeit angekommen, etwas von der israelischen Erfahrung lernen könnten, antwortet Dorit Rabinyan
    "Den Schritt, den Deutschland gegangen ist, empfinde ich als heroisch. Sowohl von den Deutschen als Volk, als auch von seiner Regierung. Aber ich sehe auch, dass es viel Anstrengung kosten wird, mit den Folgen dieser Entscheidung umzugehen. Ich selbst stamme aus einer Einwandererfamilie und ich glaube, wenn ihr etwas lernen könnt, dann vielleicht dies – dass Einwanderung immer wieder passieren und das es immer wieder schwierig sein wird."