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Deutsch-polnisches Projekt
Schulbuch gegen nationale Ressentiments

Das erste deutsch-polnische Geschichtsbuch soll Schülern beider Länder helfen, sich von Stereotypen zu befreien. Die Autoren rücken Verbindendes in den Vordergrund, um einen gemeinsamen Blick auf die Vergangenheit zu entwickeln. Doch bis zu seinem Erscheinen war es ein langer und steiniger Weg.

Von Otto Langels | 14.11.2016
    Zwei Kinder halten eine polnische und eine deutsche Fahnen in den Händen
    Zwei Kinder halten eine polnische und eine deutsche Fahnen in den Händen (picture-alliance/dpa/Patrick Pleul)
    Angesichts des lange Zeit feindseligen und schwierigen Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen ist es nicht verwunderlich, dass von der Idee eines gemeinsamen Geschichtsbuches bis zur Veröffentlichung des ersten Bandes ein Jahrzehnt verging. Ein polnisch-deutsches Geschichtsbuch ist auch im 21. Jahrhundert unter dem Dach der EU noch eine heikle Mission, sonst wären wohl kaum die Außen- und Kultusministerien der beiden Nachbarstaaten, die Bildungsministerien aller deutschen Bundesländer, ein Steuerungs- und ein Expertenrat sowie ein Autorenteam in das Projekt eingebunden. Das Impressum enthält rund sechzig Namen.
    Erste Bemühungen um ein deutsch-polnisches Geschichtswerk habe es bereits in den 1930er-Jahren gegeben, berichtet Igor Kakolewski vom polnischen Zentrum für Historische Forschung in Berlin; er ist wissenschaftlicher Koordinator des aktuellen Schulbuch-Projekts.
    "1933 entstand in Warschau eine Schulbuch-Unterkommission. Und diese Unterkommission hat später mit der Unterstützung des polnischen Außenministeriums dazu beigetragen, dass die ersten polnisch-deutschen Schulbuchgespräche in den Jahren 1937 und 1938 zustande kamen."
    Der deutsche Überfall auf Polen machte jedoch sämtliche Bemühungen für lange Zeit zunichte, bis 1972 Historiker und Geographen im Zuge der neuen Ostpolitik Willy Brandts eine Deutsch-Polnische Schulbuchkommission gründeten. Doch erst nach den politischen Umbrüchen in Osteuropa und dem EU-Beitritt Polens nahm das deutsch-polnische Geschichtsbuch konkrete Gestalt an.
    Keine der Regierungen hat hineingeredet, heißt es
    Das Projekt wird von beiden Regierungen finanziert, aber, so betont Igor Kakolewski, es gebe keine politische Einflussnahme. Ob auch die neue polnische Regierung an dieser Linie festhält, bleibt abzuwarten. Igor Kakolewski: "Es gab natürlich viele unterschiedliche Perspektiven von den polnischen und deutschen Autoren. Und einer von diesen Knackpunkten sozusagen war natürlich die Geschichte des Deutschen Ordens. Der Deutsche Orden schon im 19. aber auch Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde zur Metapher der Preußen, der Deutschen und dann des NS-Regimes."
    Der Deutsche Orden ist in der polnischen Erinnerungspolitik gleichbedeutend mit Expansion und Gewaltherrschaft, während deutsche Historiker die kulturellen Verdienste des Ordens für Ostmitteleuropa hervorheben. Die unterschiedlichen Positionen haben die Schulbuch-Autoren in einem gemeinsamen Text zusammenzufassen versucht:
    "Innerhalb weniger Jahre wurde das Gebiet unterworfen, christianisiert und unter die Herrschaft deutscher oder einheimischer Fürsten gestellt. Wer sich nicht unterwarf und taufen ließ, verlor seinen Besitz und wurde vertrieben."
    Unterschiedliche Sichtweisen thematisiert
    Mit kurzen Texten, Karten, Fotos, Zitaten, Grafiken, Zeichnungen und Zeitleisten wird Schülerinnen und Schülern Geschichte anschaulich vermittelt. Der Schwerpunkt liegt, entsprechend dem Titel des Buches, auf Europa, aber die Kapitel zur Ur- und Frühgeschichte beleuchten auch Mesopotamien, das alte Israel und Ägypten.
    In der Passage zur Kultur Ägyptens stellen die Autoren Bezüge zur Gegenwart her. Sie beleuchten den Streit um die in Berlin ausgestellte weltberühmte Nofretete-Büste und zitieren dazu den Chef der Ägyptischen Altertumsverwaltung sowie den Präsidenten der Staatlichen Museen zu Berlin.
    "Ich habe Dokumente erhalten, aus denen hervorgeht, dass die Büste unserer Königin von deutschen Ausgräbern 1913 illegal aus Ägypten mitgenommen wurde. Die Deutschen haben damals offenbar wider besseres Wissen den ägyptischen Behörden erklärt, es handele sich um die Gipsfigur einer ägyptischen Prinzessin."
    "Aus unserer Sicht ist hier gar nichts strittig. Man holte zur Rettung der Kulturgüter ausländische Expeditionen ins Land und die finanzierten die Grabungen auf der Basis, dass man die Funde teilte. Eine Rückgabe einfach so aus Großmut halte ich ganz grundsätzlich für nicht vertretbar."
    Einen unterschiedlichen Stellenwert in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur nimmt auch die Schlacht zwischen Griechen und Persern bei den Thermopylen 480 vor Christus ein. Eine kleine griechische Truppe kämpfte damals gegen einen übermächtigen Feind, um den Vormarsch der Perser aufzuhalten. Die NS-Propaganda versuchte Stalingrad noch als "deutsche Thermopylen" zu glorifizieren, doch inzwischen ist der heroische Widerstand der Griechen hierzulande längst ein antikes Drama ohne aktuelle Bezüge. In Polen ist das Ereignis dagegen nach wie vor in den Schulbüchern sehr präsent. Igor Kakolewski:
    "Manche polnische Niederlagen im 19. und 20. Jahrhundert wurden als die polnischen Thermopylen genannt und funktionieren so in der polnischen Erinnerungskultur bis heutzutage."
    Nicht nur aus der bislang dominierenden westlichen Perspektive
    Doch unterschiedliche Sichtweisen sind in dem Schulbuch die Ausnahme. Die Autoren waren sichtlich bemüht, Verbindendes in den Vordergrund zu rücken, um einen gemeinsamen deutsch-polnischen Blick auf die Vergangenheit zu entwickeln. In dem Buch sind zum Beispiel verschiedene deutsche Wörter aufgelistet, die ins Polnische übernommen wurden - und umgekehrt. Igor Kakolewski:
    "Das polnische Wort 'ratusz' kommt aus dem deutschen 'Rathaus'. Das Wort 'burmistrz' kommt aus dem deutschen 'Bürgermeister'. Umgekehrt auch: Das Wort 'granica' bedeutet 'Grenze'. Und das Wort 'Quark' stammt aus dem polnischen 'twaróg'."
    Schulbücher können nationale Ressentiments transportieren und Feindbilder schüren. Dem wollen die Autoren des deutsch-polnischen Geschichtsbuches mit ihrem Gemeinschaftswerk entgegen wirken, eine verdienstvolle, aber mühsame Arbeit. Gerade jetzt, angesichts der fundamentalen Krise in der EU, seien solche Projekte notwendig, ist Igor Kakolewski überzeugt:
    "Als nächsten Schritt soll man vielleicht überlegen, ein gesamteuropäisches Schulbuch für Geschichte zu schaffen. Dies würde zu einer besseren Verständigung in den EU-Ländern führen und unsere gemeinsame europäische Identität immens stärken."
    Ein ebenso ehrenwertes wie schwieriges Unterfangen, wenn man bedenkt, dass allein zehn Jahre vergingen, bis der erste Band des deutsch-polnischen Schulbuches vorlag. Und ob das grenzüberschreitende Projekt zu einer ernsthaften Konkurrenz für die nationalen Geschichtsbücher dies- und jenseits der Oder wird, bleibt abzuwarten.
    Deutsch-Polnische Schulbuchkommission (Hg.): "Europa. Unsere Geschichte. Band 1: Von der Ur- und Frühgeschichte bis zum Mittelalter"
    Eduversum Verlag, Wiesbaden 2016. 256 Seiten, 24,80 Euro.