Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Deutsch-türkisches Online-Medium
"Özgürüz heißt, wir sind frei"

Correctiv.org und der ehemalige "Cumhuriyet"-Chefredakteur Can Dündar sind heute mit dem türkisch-deutsche Medium "Özgürüz" online gestartet. Der Anspruch sei, von Deutschland aus eine kritische Berichterstattung zu machen, die in der Türkei kaum mehr möglich sei, sagte Markus Grill, Chefredakteur des Recherchezentrums Correctiv, im DLF.

Markus Grill im Gespräch mit Karin Fischer | 24.01.2017
    Der türkische Journalist Can Dündar (l) nimmt am 23.01.2017 in Berlin an der Eröffnung des Online-Mediums "Özgürüz" in deutscher und türkischer Sprache der Plattform Correctiv teil.
    "Wir haben einerseits Kollegen in der Türkei, mit denen wir arbeiten, aber andererseits Kollegen in Deutschland, die aus der Türkei kommen", sagte Markus Grill von Correctiv.org. (dpa / Maurizio Gambarini)
    Karin Fischer: Seit Mitternacht ist sie online, die neue Zeitung "Özgürüz", eine Zeitung in Deutschland für die Türkei, für die sich das Recherchezentrum Correctiv.org mit dem ehemaligen "Cumhuriyet"-Chefredakteur* Can Dündar und dem Journalisten Hayko Bagdat zusammen getan hat. Eine digitale Exilzeitung für türkische Themen, auf Türkisch und deutsch, finanziert durch Spenden und Stiftungsgelder. Ihr Ziel: Den in der Türkei bedrohten investigativen Journalismus wieder zu beleben, so schreibt es Can Dündar auf der aktuellen Startseite. Und er nennt dort auch Zahlen: Von allen inhaftierten Journalisten dieser Welt säßen 80 Prozent in türkischen Gefängnissen. Über Özgürüz spreche ich mit Correctiv-Chefredakteur Markus Grill, Herr Grill, Sie starten an einem historischen Datum an diesem 24. Januar und mit einem sehr symbolischen Titel.
    Markus Grill: Zunächst zum Datum. Heute vor genau 24 Jahren wurde Ugur Mumcu umgebracht, einer der bekanntesten investigativen Journalisten in der Türkei, und das haben die Kollegen, Can Dündar und Hayko Bagdat, gesagt, das ist ein gutes Datum, um diese Redaktion, die unabhängigen freien Journalismus für die Türkei machen will, aus dem Exil, aus Deutschland heraus zu starten. Der Name "Özgürüz" heißt "Wir sind frei", und "Wir sind frei" ist sozusagen das Kontraprogramm zu dem letzten Tweet, den Can Dündar abgesetzt hat, bevor er ins Gefängnis gegangen ist. Der hieß nämlich, wir sind verhaftet. Das war das letzte Zeichen von ihm, bevor er im Jahr 2015 ins Gefängnis kam, und jetzt der erste neue Begriff.
    Der Anspruch ist, dass diese Redaktion von hier, von Deutschland aus kritische Berichterstattung macht, eine Berichterstattung, die heute in der Türkei so gut wie nicht mehr möglich ist unter dem Regime von Erdogan, nämlich die Menschen in der Türkei mit echten, mit wahrhaftigen, mit geprüften Informationen zu versorgen und nicht mit Propaganda.
    "Es ist nicht ganz einfach, Journalisten in der Türkei für dieses Projekt zu gewinnen"
    Fischer: Was sind Ihre Inhalte, und unter welchen Bedingungen schreiben türkische Journalisten für die Online-Seite und von wo aus?
    Grill: Wir haben jetzt neben Can Dündar und Hayko Bagdat drei weitere Kollegen. Es ist eine Redaktion mit fünf Leuten, die jetzt von uns, von Correctiv.org, von den Räumen aus arbeitet in Berlin. Daneben gibt es mehrere Journalisten, die frei für uns arbeiten. Ich gebe zu, es ist nicht ganz einfach, Kollegen, Journalisten in der Türkei für dieses Projekt zu gewinnen, und viele Journalisten haben große Angst, wenn sie mit uns zusammenarbeiten, wenn sie mit uns kooperieren, sofort die Repression des Staates zu spüren. Man muss sich klar machen: In der Türkei sitzen zurzeit 150 Journalisten im Gefängnis. Seit dem Umsturzversuch im Sommer letzten Jahres wurden 170 Redaktionen, Webseiten, Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen geschlossen. 2.000 Journalisten können seitdem nicht mehr ihrem Beruf nachgehen. Unter Erdogan herrscht keine Pressefreiheit, es herrscht eine Friedhofsruhe.
    Das heißt, wir haben einerseits natürlich Kollegen in der Türkei, mit denen wir arbeiten, aber andererseits auch Kollegen hier in Deutschland, die aus der Türkei kommen, die früher in der Türkei gelebt haben, und dazu, muss man sagen, haben sowohl Can Dündar als auch Hayko Bagdat ein riesiges Netz von Followern, auch von Kontakten. Es ist ganz unvergleichbar mit Journalisten in Deutschland. Can Dündar zum Beispiel hat auf Twitter 3,8 Millionen Follower. Es gibt überhaupt keinen deutschen Journalisten, der nur annähernd so viele Follower hat. Das ist auch eine Möglichkeit, erstens an Informationen zu kommen und zweitens dann auch wieder diese Informationen, wenn man etwas streuen oder senden will, unters Volk zu bringen.
    "Wir haben viele Rückmeldungen heute aus der Türkei bekommen"
    Fischer: Can Dündar schreibt das, was Sie gesagt haben, heute auch, nämlich die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei sei im "Belagerungszustand", und natürlich meint er damit, dass sozusagen Krieg herrscht zwischen wahrheitsliebender Publizistik und der türkischen Regierung Erdogan. Kann man die Seite in der Türkei denn überhaupt lesen?
    Grill: Ja, man kann sie lesen. Wir haben viele Rückmeldungen heute aus der Türkei bekommen von Menschen dort, die diese Seite lesen können, aber das ist natürlich keine Garantie auf Dauer. Die türkische Regierung hat auch bisher schon versucht, das Internet einzuschränken. Erdogan hat vor Kurzem wörtlich sogar gesagt, Twitter werden wir ausrotten. Es gibt andere Beispiele, wo er die Übertragungsraten, die Datengeschwindigkeit reduziert hat, damit man über Facebook nicht mehr so viel kritische Nachrichten bekommen kann.
    Fischer: Um welche Themen kümmert sich die Redaktion jetzt zuerst?
    Grill: Die wichtigsten Themen sind natürlich die geplanten Verfassungsänderungen in der Türkei, die dem Staatspräsidenten noch viel mehr Macht einräumen wie bisher schon geplant. Darüber gibt es ein Referendum, eine Volksabstimmung im April. Das ist sicher ein wichtiges Datum, über diese geplanten Veränderungen zu informieren, darauf aufmerksam zu machen. Und dann ist natürlich auch der Anspruch, investigative Geschichten zu machen, Dinge zu enthüllen, Korruption in der Regierung, in der Wirtschaft zu enthüllen, die bisher einfach nicht bekannt sind, das was die herausragenden Journalisten, die jetzt bei uns sind, Can Dündar und Hayko Bagdat, schon früher gemacht haben. Das ist auch ihre bisherige Tätigkeit gewesen und da wollen sie anknüpfen und das wollen sie fortsetzen jetzt von Deutschland aus.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    * Im Audio heißt es irrtümlich, Dündar sei Verleger gewesen.