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Deutsch-ukrainisches Schriftstellertreffen
„Eine Brücke aus Papier“

Es geht nicht um große Politik, sondern um freundschaftliche und künstlerische Beziehungen beim deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffen "Eine Brücke aus Papier". Nach vier Jahren zogen Literatinnen und Literaten aus beiden Ländern nun eine erste Bilanz.

Von Katrin Hillgruber | 25.10.2019
Der ukrainische Schriftsteller und Übersetzer Juri Andruchowytsch
Einer der Paten des Treffens: der ukrainische Schriftsteller und Übersetzer Juri Andruchowytsch (dpa/picture alliance/Peter Endig)
Seit den Studentenkrawallen der 1960er-Jahre sind revolutionäre Momente in Schwabing selten geworden. Das änderte sich am Mittwochabend, als die bekannteste Buchhandlung der Leopoldstraße von Ukrainerinnen und Ukrainern förmlich überrannt wurde. Sie waren gekommen, um ihre Landsleute Taras und Jurko Prochasko zu hören - und roten Krimsekt zu trinken. Und so sah sich der Buchhändler Michael Lemling mit einer Lage konfrontiert, die selbst Lenin herausgefordert hätte, der einst unter einem Decknamen um die Ecke in der Kaiserstraße wohnte.
"Irgendwas ist anders. Und plötzlich kommt hier ein Moment der Spontaneität ins Rollen, mit dem wir nicht gerechnet haben. Sie sind einfach spontan vorbeigekommen, viel zahlreicher, als das normalerweise der Fall ist. Was heute Abend wirklich passieren wird: Ich weiß es auch nicht. Ich sehe aber die angekündigten Personen."
Nach vier Treffen in der Ukraine ist das Schriftstellerprojekt "Eine Brücke aus Papier" an seinen Ursprungsort München zurückgekehrt. Der Initiatorin Verena Nolte ging es darum, Bilanz zu ziehen:
"Wir sind ja von hier aus aufgebrochen. Ich bin auch oft gefragt worden: Was macht ihr da in der Ukraine?"
Gemeinsame Reisen
Von der ersten Begegnung im Jahr 2015 in der galizischen Kulturmetropole Lemberg ist die "Brücke aus Papier" immer weiter nach Osten gezogen. Es folgten das zentralukrainische Dnipro, wo einst unter strengster Geheimhaltung sowjetische Raketen produziert wurden, und das architektonisch herausragende Charkiw, die Hauptstadt der Sowjetukraine, deren geistige Elite im Stalinismus ausradiert wurde. Politisch brenzlig war das Treffen im August letzten Jahres in Mariupol, unweit der von prorussischen Separatisten besetzten Gebiete. Kurz darauf kam es zu einem militärischen Zwischenfall im Asowschen Meer. Die Autorin Noemi Schneider verarbeitete ihre Mariupol-Eindrücke zu lakonischen Versen:
"Im Meer soll man nicht baden. / Die Luft besser nicht einatmen. / Platanen rauschen im sauren Regen. / Die Vögel sind fort. /Im Stahlwerk fliegen Funken. Was tun? / Gedichte in den Sand spucken. / Und auf bessere Zeiten hoffen."
Stärkung der ukrainischen Kulturszene
Als Paten der "Brücke aus Papier" gelten die Schriftsteller und Musiker Juri Andruchowytsch aus Galizien und Serhij Zhadan aus Charkiw. Sie wollen mit deutscher Unterstützung die Kulturszene der Ukraine stärken, die seit 2014 von einem nicht erklärten Krieg zermürbt wird, aber auch zu einem neuen Zusammenhalt gefunden hat. Undenkbar wäre das Brücke-Netzwerk ohne engagierte Übersetzerinnen und Übersetzer wie Jurko Prochasko. Der Lemberger Germanist bescherte dem vollbesetzten Lyrik-Kabinett mit Oleh Kozarew eine echte Entdeckung, einen Ecce-Poeta-Moment.
"Oleh Kozarew steht mit seinem lyrischen Namen gleichermaßen fest in diesem wunderbaren Boden, auf dieser schwarzen ukrainischen Erde der Steppe bei Charkiw, wo er auf die Welt gekommen ist. Das Agrarische liegt ihm genauso wie das Avantgardistische. Er vermag die Vegetation in seiner Lyrik aufzufangen genauso gut wie Meteorologie, wie Erotik, wie Liebe, wie Industrie, wie Geschichtsläufe. Er ist authentisch - und das auch seit über zwanzig Jahren."
"Wie tanzt die gewaschene Wäsche im Wind, / Schwarz und weiß! / Schwarz und weiß / Und wie die ersten Gewächse aus der Erde die Hände recken / Als ob sie den Rhythmus klatschen sollten, / Schwarz und weiß!"