Freitag, 29. März 2024

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Deutsche Einheit

Romane müssen wie Nationen einen Anfang haben. Und doch ist der Anfang von Joachim Lottmanns Buch, "Deutsche Einheit", so verschoben, nachträglich und hauruckhaft wie der der deutschen Nation. Der Autor bedient sich eines bewährten Mittels, um literarische und politische Formfragen zu entdramatisieren: Er schreibt von der Unmöglichkeit, über Deutschland zu schreiben, und zu diesem Zweck versetzt er seinen Ich-Erzähler ins wiedervereinigte Berlin. Sein westsozialisierter Protagonist treibt sich als motorisierter Promeneur und Stipendiat diverser Literaturhäuser Mitte der neunziger Jahre in der restituierten Hauptstadt herum. Dort sucht er Stoff für seinen Roman, und das sind in erster Linie Menschen, die ihn faszinieren können. Sehr schnell stellt sich heraus, daß der Deutsche als solcher, von welcher Seite der Mauer er auch stammen möge, Lottmanns Helden nicht eben begeistert. An repräsentativen Orten deutscher Häßlichkeit wie der Wannsee-Villa empfindet er repräsentativen Ekel. Von lauwarmen Bezichtigungen des Nationalcharakters ist das Buch geradezu durchsetzt. Lottmanns Alter ego flüchtet sich auf die Reichstagswiese, die zur Zeit des Christo-Spektakels das Ziel ausländischer Touristen ist: "Endlich wieder normale Leute, freie Menschen, mündige Bürger, Leute, die über dem Hals noch etwas anderes hatten als den Freßapparat."

Ingeborg Harms | 19.10.1999
    Vergangenheitsbewältigung als reflexhafter Kleinbürgerhaß steigert sich anläßlich einer ICE-Panne zur Selbstpersiflage des rechtenden Künstlers. Der vollbesetzte Zug rückt ihm auf den Leib: "Die Menschen waren übereinandergestapelt, Kinder waren darunter, Hunde übergaben sich schweigend, niemand griff ein." Die von einem defekten Zug lahmgelegte Reisegesellschaft verwandelt sich unter Lottmanns übertreibender Feder in einen KZ-Transport, dem der Erzähler mit abgründigem Abscheu begegnet. Im

    Zweifelsfall ist der Held von "Deutsche Einheit" mehr Ästhet als Moralist. Sein Klappmesser-Witz trifft jeden, der eine schlechte Figur macht. "Der getretene Blick des HB-rauchenden Schnauzbarts mit den Tätowierungen, den langen Haaren hinten und dem wolligen Pony vorn" wird ebenso zur Moments-Ikone wie "ein Rauschebart mit Zopf, Easy-Rider-Brille, ungewaschener Freizeitkleidung (Œsports wear), alten Turnschuhen, Bierbauch, achtundvierzig Jahre geschätzt".

    Der ästhetische Anspruch des einheitssuchenden Helden erstreckt sich auch auf das Ausdrucksvermögen seiner Mitmenschen. Statt, wie man es von einem Erzähler erwarten würde, anstelle und für sie zu erzählen, macht er die rhetorische Kapazität seiner Objekte zum Maßstab ihrer Erzählwürdigkeit. Um "Ossis" kennenzulernen, spricht er im Zugrestaurant, wie es heißt, den "nächsten besten" an. Der Mann ist höflich und steht dem insistenten Frager zwei Stunden lang Rede und Antwort. Der unspektakuläre Lebenslauf und die biedere Vortragsweise seines Tischnachbarn nehmen den Erzähler gleich gegen alle Deutschen ein: "Aber alles, was er sagte, kannte man schon. [...] Maxim Biller hatte einmal gesagt, er verstünde nicht, warum die Deutschen so wenig über ihre Geschichte (die selbsterlebte) schrieben. [...] Nun dachte ich, daß die Deutschen womöglich Geschichte gar nicht individuell erlebten - jedenfalls klang alles gleich".

    Die strenge Auslese, die der hinhörende Erzähler trifft, ist nur konsequent für ein Buch, das zugleich kurzweilig und eine Bestandsaufnahme dessen sein will, "was der Fall war". Obwohl das erklärte Ideal des Protagonisten eine bloße Mitschrift des Realen, "platte Sprechsprache", ist, verzichtet der Erzähler nicht auf die Überformung. Auf seine humorvolle Präsentation hält er sich sogar einiges zugute. Gerade im Witz sieht er nämlich die "klitzekleine Brechung, die aus einem Untertanen einen Menschen" macht und die mit dem jüdischen Element aus dem deutschen Wesen verschwand. So ist es kein Wunder, daß Lottmanns Helden eine Begegnung mit Marcel Reich-Ranicki zu dem Ausruf bewegt: "Auch ich bin dein Landsmann, auch wenn ich kein Jude bin, auch meine Heimat ist das Wort".

    Menschen gefallen dem Berlin-Forscher vor allem, wenn sie weiblich, jung und noch magerer als Kate Moss sind. Dann bescheinigt er ihnen großzügig poetisches Erzähltalent und eine "mimisch, gestisch, rhetorisch und choreographisch" dramatisierte Vortragskunst. Fassungslos hingegen nimmt er zur Kenntnis, daß zwei Ostberlinerinnen, die ihn um einen Zuschuß für Pommes angehen: "eene Mark hamwa schon, aber die kosten zwei Mark fuffzich", mit dem abgestaubten Kleingeld tatsächlich zum Imbißstand wandern. Die Deckungsgleichheit von Rede und Sein ist aus der Perspektive dieses Sprachartisten skandalös und obszön. Deshalb tritt er unermüdlich für die Redefreiheit ein, weist seine Kritiker im voraus auf die "herrlich falschen Stellen" und politischen Inkorrektheiten hin. Wenn es aber darum geht, weibliche Gunst durch einen ideologisch einwandfreien Vortrag zu erschleichen, dankt er seinem Vorbild Woody Allen. In der Politik gilt seine Bewunderung der geschmeidigen Dialektik eines Gregor Gysi, unter den Kollegen schätzt er das russische Junggenie Vladimir Sorokin, der die Literatur absolut setzt, und den Amerikaner Bret Easton Ellis, der in seinen blutrünstigen Romanen jedes Tabu der aufgeklärten Welt bricht.

    Mit einem Generalmißtrauen gegenüber dem Diskurs der Deutschen gewappnet, zieht Lottmanns Metropolen-Abenteurer nicht von ungefähr die Theaterkantine dem Bühnenraum der höchsten deutschen Bildungsanstalt vor. Der verstaubte Pausenraum des Theaters am Schiffbauerdamm wird zum Fixpunkt seiner Eskapaden, dort studiert er anhand der "gutmütigen" Bühnenarbeiter das Wachsfigurenkabinett des Sozialismus und trifft auf andere Verirrte, die wie er die etablierten Treffpunkte der frischgebackenen Hauptstadt meiden. Als es ihn doch einmal in eine Vorstellung des Berliner Ensembles verschlägt, betrachtet er das Gebotene mit dem Gleichmut eines weitgereisten Schamanenforschers: "Der Vorhang hob sich zur gewohnten Effekthascherei und Rumbrüllerei. [...] Immer wurde gebrüllt ‹ das konnten solche Schauspieler echt gut, das hatten sie richtig gelernt ‹ oder geflüstert/gewispert, also unnatürlich war es in jedem Fall. [...] Immer wieder dieses sinnlose Losbrüllen, sinnlose Anpacken des Gesprächspartners, was normalerweise niemand täte, um dann die wulstigen Lippen ganz nah an das Ohr des anderen zu pressen und wieder zu flüstern/wispern."

    Dabei ist die Erhabenheitsästhetik der sozialistischen Dramaturgie Lottmann gar nicht so fremd. Denn bei ihm paart sich die jakobinische Sehnsucht nach Unschuld und Ursprünglichkeit mit dem rabiaten Impuls des Suppenkaspers, der anderen mit süßlichem Lächeln das Tischtuch vor der Nase wegzieht. Einen Ausflug nach Marzahn unternimmt der kulturmüde Held auf dem Trittbrett der S-Bahn und atmet in der "größten Plattenbau-Wolkenkratzer-Siedlung der Welt" erleichtert auf. Vom "menschlich-allzumenschlichen Detailkram" im Westen der Stadt, von der "Stilvielfalt der Häuser, alle Jahrhunderte durcheinander, den Schildern, Vergnügungsdampfern, Fahrrädern, Zusammenrottungen, Pennerlagern" hat er Kopfschmerzen bekommen. Der Osten hingegen ist verwaist: "Die Wirkung war: Licht. Sonne. Urwald. Weite. Das Fehlen des sonst üblichen historisch-zivilisatorisch-humanen Zeichengewitters lenkte den Blick auf nichthumane Zeichen, gab also der Vegetation eine ungeheure Wucht und Präsenz. Ergo: Inka-Stadt im Dschungel."

    Lottmanns angestrebte "Deutsche Einheit" verwirklicht sich in einem Beischlaf des Helden mit einer aus Marzahn stammenden Kellnerin des Café Kranzler. Sie ist das frische junge Mädel, auf das alle gewaltigen Reformbewegungen dieses Jahrhunderts setzten. Der Erzähler fühlt sich ihnen näher als den Nachlaßverwaltern der politischen Experimente, die im Literarischen Colloquium am Wannsee endlos diskutieren. Für den Berufsdandy und modernen Monsieur Swann steht am Ende die Tat. Mit Mut zur Geschmacklosigkeit bringt er die fein austarierten Verhaltensnormen des intellektuellen Establishments durcheinander. Auf eine Kontaktanzeige hin lernt Lottmanns Dichter die frühere Miß Dresden kennen: einen Haudegen mit dickem Berliner Dialekt. Als er sie bei einem Stipendiatenessen einführt, wird er im Colloquium zur Unperson. Doch das ist ihm gerade recht. Denn als Schriftsteller ist er ein Zeichensetzer, und Zeichen, sofern sie über den Status quo hinausweisen, sind per se eine Belästigung. Wo schenkelklopfendes Einverständnis herrscht, wie im stillgelegten ICE-Zug, kommt mit den Zeichen auch jede Spur von Sexualität abhanden: "Man konnte nicht sagen, wer Mann und wer Frau war, der ganze Volkskörper verkam zu einer glucksenden, feisten, erotikfreien Ost-Zone".

    Lottmanns Lob der Rhetorik beschränkt sich nicht auf das gesprochene Wort. Sein Protagonist ist auf der Suche nach Menschen, die an sich selber Zeichen setzen, weil sie durch ihre Differenz zum Volkskörper Anstoß und Verlangen erregen. Der Einheitsroman sollte zunächst "Alles Lüge" heißen. Das hat einen doppelten Sinn. Zum einen widmet er sich den Klischees und Übereinkünften in den selbstgenügsamen Gesellschaften diesseits und jenseits der einstigen Mauer. Doch zum anderen lebt er selbst von der Inszenierung des Absurden und Unerhörten, von der Wirklichkeit als Versuchsanordnung.

    "Alles Lüge" ist ein beliebter Kommentar zur Ex-DDR. Joachim Lottmann wertet in "Deutsche Einheit" die Lüge als befreiende Möglichkeitsform auf und läßt sie sehr sexy erscheinen. In diesem Sinne ist er die bessere Treuhand, auf die man lange vergeblich gewartet hat.