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Deutsche Geschichte im Bildungsroman

Rolf Scheider siedelt sein ambitioniertes Alterswerk "Marienbrücke" zu weiten Teilen in jenem urdeutschen Kernland an, aus dem die meisten Sagen und Mythen stammen: in Mitteldeutschland, durch das der Riss der Teilung am schärfsten ging.

Von Florian Felix Weyh | 25.10.2009
    "Unter der Treppe, die zu Herrn Goerners Laden führte, wurden von Kindern Murmeln geschoben. Ein Glasbucker besaß den Wert von drei oder fünf Tonkugeln, je nach Art seiner Zeichnung. Der Boden hinter den Zementstufen von Herrn Goerners Laden hatte eine leichte Schräge zur Hauswand hin. Mit dem Sand, der sich aus dem morosen Rauputz herauskratzen ließ, wurde die Fläche geebnet, anschließend wurden Vertiefungen geformt. Auf den Gehwegplatten waren die Felder für Himmel und Hölle aufgemalt, mit weißer Schulkreide, die Mädchen sprangen darin, beidbeinig, einbeinig, je nach der Regel und hinter einem Bündel ineinandergehängter Sicherheitsnadeln her, das sie immer wieder aufhoben, um es sofort in ein anderes Feld zu werfen."

    Eine Kindheit in Deutschland, vor unserer Zeit. Die dargebotene Szenerie lässt auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts schließen, als Kinder noch "Himmel und Hölle" spielten und sich genügsam mit Murmeln vergnügten. Der "morose Rauputz" stützt diese Vermutung, denn als Universaladjektiv fürs Verwitterte, Verfallende, Schäbige findet sich "moros" kaum noch im zeitgenössischen Sprachgebrauch, ebenso wenig wie die "Morosität" in ihrer lexikalischen Urbedeutung als Verdrießlichkeit und mürrische Laune. Gesprochen wird so in alten Büchern und vielleicht auch in Dörfern westlich der Linie Halle-Magdeburg bis zum Harz, wo das Ostfälische überlebte:

    "Der Kerl hob die linke Hand und redete: Lat dik man. Da fiel ihm offenbar ein, dass Jacob zwar gebürtig war aus dem niederdeutschen Lübeck, aber aufgewachsen in Chemnitz, wo die Leute mitteldeutsch, besser obersächsisch sprachen, weswegen sich Jacob immer noch schwertat mit ostfälischem Platt. Der Kerl sagte also: Lass dich man. Sagte: Des jeht sich schon in Ordnung. Ich will dich schon immer mal helfen. Musste dich nu nich Angst haben. Hierauf fiel er doch wieder in die angestammte Redeweise zurück, denn er schloss: Do buten is all öwer, min Kind."

    Im imaginären Städtchen Grotenweddingen, unweit entfernt vom ebenfalls erfundenen Bad Sipten, lebt der Junge Jacob Kersting. Die Wahl der Orte und des Idioms ist dabei keineswegs nur der Biografie des Autors geschuldet, der im Harz aufwuchs und in Halle an der Saale studierte. Nein, wie Thomas Mann im "Doktor Faustus" mit Kaisersaschern, so verlegt auch Rolf Schneider in seinem ambitionierten Alterswerk - noch einmal die deutsche Geschichte von 33 bis 89 im Bildungsroman nacherzählen! - weite Teile des Geschehens in jenes urdeutsche Kernland, aus dem die meisten Sagen und Mythen stammen: Mitteldeutschland, durch das der Riss der Teilung am schärfsten ging. Ausgerechnet dort, wo Deutschland mit Fachwerkhäusern und intakten mittelalterlichen Städten seiner romantischen Identität mühelos gewahr werden konnte, zerschnitt die Mauer das Land in zwei Hälften. So liegt Schneiders Grotenweddingen im Osten, Bad Sipten im Westen - und das schicksalhafterweise noch nicht mal durchs Kriegsgeschehen bedingt, sondern als Folge politischer Entscheidungen. Zunächst nämlich marschieren die Amerikaner ein, dann überlassen sie den Briten das Terrain, um es schließlich zugunsten der Roten Armee zu räumen. Allerdings können sich die Bewohner Grotenweddingens bis zum Mauerbau relativ gefahrlos für ein Leben im Westen entscheiden, ohne dabei ihre Geburtsregion verlassen zu müssen; im Fluchtfall - ein Gang über die grüne Grenze - sind ihre Biografien also nicht von so nachhaltigen Brüchen bedroht, wie sie beispielsweise Pommern oder Sachsen erleiden. Für den Roman "Marienbrücke" spielt dieser Umstand eine nicht unwesentliche Rolle, nötigt sie den Hauptfiguren doch eine Haltung in der Staatenfrage ab: Man bleibt in der DDR, weil man ein Motiv dafür hat - während man relativ wenige Gründe braucht, sie zu verlassen, es reicht die allgemeine materielle und geistige Misere. Das Motiv zu bleiben, verlagert sich damit in ideologische Gefilde:

    "Das Ungestüme, das Wörtern wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Arbeit, Aufbau anhing, rührte ihn an. Obwohl, was Aufbau und Arbeit betraf, es in Grotenweddingen nichts Besonderes zu tun gab, denn das Leben lief hier ab wie zuvor, und wie Gerechtigkeit oder Gleichheit beschaffen sein sollten, hätte er kaum zu sagen gewusst. Man spricht von Ideen, welche eine ganze Gesellschaft revolutionieren; man spricht damit nur die Tatsache aus, dass sich innerhalb der alten Gesellschaft die Elemente einer neuen gebildet haben, dass mit der Auflösung der alten Lebensverhältnisse die Auflösung der alten Ideen gleichen Schritt hält. So stand tröstend im Manifest der Kommunistischen Partei. Das konnte man glauben oder nicht. Abgesehen davon, dass Jacob auch diese Behauptungen nicht völlig begriff. Stattdessen befielen ihn Zweifel. (...) Die Unterschiede zwischen dem, was erreicht werden sollte, und dem, was erreicht wurde, peinigten ihn, denn sie waren groß."

    "Marienbrücke" ist ein komplexer Zeitroman mit großem Figurenensemble. Erzählt wird die Lebensgeschichte des Kunsthistorikers Jacob Kersting, der im Frühjahr 1988 seine erste Westreise nach Wien unternehmen darf. Dort forscht er über den österreichischen Architekten Joseph Hoffmann, einem Vertreter der Wiener Moderne, für den er sich allerdings nicht sonderlich interessiert. Seine Neigungen gelten eigentlich dem belgischen Jugendstilarchitekten Henry van der Velde. Da dieser aber bereits in der DDR monografisch gewürdigt worden ist, muss sich Kersting mit der Wiener Moderne befassen, obwohl ihn der oktroyierte Auftrag weder geistig noch emotional ausfüllt. Das freilich scheint exemplarisch für Kerstings ganzes Leben, einer Existenz unterm Joch staatlich vorgegebener Richt- und Leitlinien, und im grauen Wien des Februars 1988 zieht der Kunsthistoriker Bilanz. Seine Ehe mit der Tochter eines hohen Kulturfunktionärs - und Förderers des Schwiegersohns - ist gescheitert, der Kontakt zum einzigen Sohn gestört. Die beruflichen Aussichten sind mau, so wie das Land insgesamt von einer großen Lähmung befallen ist und seinem Ende entgegentaumelt. Wie ein Film nun spult sich das Leben Kerstings in der Rückblende vor dem Leser ab, begonnen in der Rechts-Diktatur, zur Blüte gekommen in der Links-Diktatur ... doch was für ein Film? Man ist geneigt zu sagen: Flackerndes Schwarz-Weiß mit Untertitel in Frakturschrift, denn das Zeitpanorama wirkt sprachlich wie in der Personenführung seltsam entrückt: Ein Leben ohne Farben, scheint es, ohne Glück, Lachen, spontane Begeisterung. Jacob Kersting verkörpert das Profil eines fremdbestimmten Menschen, dem es nie gelingt, etwas aus sich zu machen. Auch den Eintritt ins Heiligtum des Kapitalismus - die Schalterhalle einer Wiener Bank - schildert Rolf Schneider nicht als prickelndes oder umgekehrt ängstigendes Erlebnis, sondern wie den Übergang in die Vorhalle des Hades:

    "Die in der langen Schalterhalle aufgestellten Computer-Monitore wuschen, so schien es, mit ihren Strahlungen aus den Angestellten alle Natürlichkeit fort. Die junge Beamtin, die schräg gegenüber von Kersting stand, hatte die Aura einer Untoten. Sämtliche Unterhaltungen erfolgten halblaut. Niemand, der nicht gemeint war, konnte von dem Mitgeteilten etwas verstehen. Die geraunten Laute standen für Konten, Beträge, Anlagen, Zinsen, Kredite, und alle verhielten sich, als sei dies etwas Obszönes."

    Das freilich hat alles seine Gründe, denn der blasse, initiativlose Jacob Kersting, dem Rolf Schneider nicht ohne Hintersinn den Nachnamen eines Biedermeiermalers verliehen hat, reagiert mit seiner Schildkrötentechnik, möglichst überall den Kopf einzuziehen und sich keine Blößen zu geben ...

    "Ein sonderbarer, aus jahrelanger Vorsicht entstandener Automatismus veranlasste ihn, die tatsächlichen Härten des Lebens in der DDR zu beschwichtigen."

    ... vor allem auf den charakterlichen Gegenentwurf des lauten, permanenten Aufbegehrens seines Vaters Robert. Wo der Sohn zaudert oder als mutloser Mitläufer der Parteilinie folgt - etwa bei einem Universitätsausschluss eines Junge-Gemeinde-Mitglieds -, bezieht der Vater Stellung ... und zwar permanent auf der Seite der Unterlegenen. Im Dritten Reich arbeitet er gegen die Nazis, indem er sich in einem Rüstungsbetrieb als Saboteur versucht, in der Nachkriegszeit gegen die Russen, weil er den verlassenen Betrieb in eine Kooperative zur Produktion von Haushaltsgütern umwandelt. Sein Vorbild ist dabei der italienische Anarchist Enrico Maltesta, dessen freigeistige Umtriebe in den Augen der Russen pure Konterrevolution bedeuten. So kollidiert Robert Kersting gleich wieder mit der Staatsmacht und erkennt - anders als der Sohn - die strukturelle Gleichheit der ausgeübten Gewalt von Nazis und Kommunisten. Als der Sohn, mutterlos bei diesem überragenden Vater aufgewachsen, schließlich in die FDJ eintritt, kommt es zum einzigen, allerdings nachwirkenden Zusammenstoß:

    "Als Robert Jacobs blaues Uniformhemd mit dem Symbol der aufgehenden Sonne am Ärmel fand, rief er im Befehlston, der Fetzen sei augenblicklich zu entfernen. Jacob blickte ihn an. Er sagte nichts. Er schüttelte bloß den Kopf. Es war das erste Mal, dass er sich seinem Vater auf diese Art widersetzte. Robert zeigte sich sprachlos, für eine Sekunde. Dann begann er zu brüllen. Es kam zu einem Streit, der nur kurz währte, da Jacob keine passenden Antworten einfielen, doch Robert hätte sowieso nicht auf Antworten geachtet, er brüllte, seine Stimme überschlug sich, bis er, auf dem Höhepunkt seiner Wut, nach einem umherliegenden Küchenmesser griff und damit nach Jacob warf."

    Dieses Messer zerschneidet das Band zwischen den beiden, und während der Vater nach vielen Niederlagen in der DDR schließlich als westdeutscher Gewerkschaftsfunktionär ernüchtert zum Realitätsprinzip findet, nimmt Jacob die repressiven gesellschaftlichen Umstände im Sozialismus hinter einem Schleier wahr, als ob sie ihn nichts angingen. Zur Strafe holt ihn der Vater-Sohn-Konflikt in umgekehrter Rollenverteilung wieder ein. Sein Sprössling David gerät nach dem anarchistischen Großvater und entwickelt eine Haltung der prinzipiellen Widersetzlichkeit, für die in der DDR nur eine Richtung existierte:

    " Es gibt keine vernünftige Ordnung mehr. Alles muss sich ändern, gründlich, andere Leute müssen her. Wir brauchen eine Elite.
    Elite?
    Ja.
    Kein sehr guter Begriff.
    Doch,
    Wie soll sie aussehen, deine Elite?
    Stark und wehrhaft. Diese Scheißgleichmacherei gehört abgeschafft. Es gibt nämlich oben und unten, Idioten und Genies, es gibt sie überall, so ist die Natur. Hier soll es nicht so sein, aber du siehst, was dabei herauskommt. Die blanke Katastrophe. Dabei ist es doch schön, unser Land. Es lohnt sich, dafür zu bluten und zu sterben.
    Was redest du da.
    Der Satz stammt aus einem Buch. (...)
    Jetzt begann der Polizist zu husten, er krächzte, seine Stimme überschlug sich, mehrfach, es war der trockene Brechhusten eines Rauchers. David deutete mit dem linken Daumen auf ihn und flüsterte: Das Beängstigende in der Maske des Lächerlichen.
    Bitte?
    Wieder ein Zitat. Wieder von Jünger.
    Wovon redest du?
    Ich rede von dem großen deutschen Schriftsteller Ernst Jünger. Sein Buch heißt In Stahlgewittern.
    So was liest du?
    Ja.
    Was findest du darin?
    Alles, was sie uns hier vorenthalten.
    Woher hast du das Buch?
    Woher, fragte David grinsend, hast du deine Bücher über Wien? "

    Das ist die spannendste Stelle in "Marienbrücke", an der Konflikte nicht unter den Teppich gekehrt, sondern auf die Spitze getrieben werden ... freilich auch eine untypische Passage auf über 400 Seiten. Dialog kommt sonst nur noch ein einziges Mal in ähnlich bezwingender Weise vor, bei Jacob Kerstings Versuch nämlich, seinem Leben selbstbestimmt eine andere Wendung zu geben. In München - schon das ein unerhörter Akt, denn eigentlich erlaubt ihm sein Auftrag nicht, Österreich zu verlassen - trifft er einen Kunstbuchverleger und erkundet tastend und zögerlich die Möglichkeiten einer Westexistenz. Doch da gerät er an den Falschen, einen typischen Salonlinken, wie er nicht nur 1988 die westdeutsche Verlagsszene bevölkerte:

    " Wieso wollen Sie überhaupt, fragte er.
    Er halte es nicht mehr aus, sagte Kersting.
    Schön, sagte der Verleger. Irgendwie verständlich. Irgendwie auch nicht. Kersting gehe es doch gut dort drüben. Oder? Kersting habe einen Namen, er habe zu tun, er könne sogar reisen. Die Umstände dort drüben seien ein bisschen muffig, keine Frage, andererseits, das Leben dort laufe entschieden ruhiger ab, kein Vergleich mit dem Stress hierzulande, und vermutlich wisse Kersting gar nicht, worauf er sich einlasse. Darf ich ehrlich sein, fragte der Verleger.
    Bitte, sagte Kersting.
    Wir leben hier, sagte der Verleger, in einer elenden Welt. Alles Kommerz. Wer sich verweigert, geht unter. "

    Von derlei satirischer Zuspitzung läse man gern mehr im Roman, doch Rolf Schneider will mit seinem Alterswerk auf etwas anderes hinaus. Die Rahmenhandlung 1988 garniert das eigentliche Erzählwerk nur, das von den 40ern bis in die 60er-Jahre hineinreicht, jene Zeit, in der Schneider selbst jung gewesen ist. Hier greift er schon beim Personal in die Vollen, lässt Nazi-Lehrer und kommunistische Konvertiten im Dutzend aufmarschieren, führt über einen ganzen Seitenstrang hinweg den Aufstieg und die Zerrüttung von Jacobs Klassenkameradin Geesche vor, die sich zunächst als Hexe inszeniert - hier schlägt der mitteldeutsche Mythenreichtum zu Buche -, dann eine engagierte Christin in der Jungen Gemeinde wird, um schließlich als fanatische FDJ- und Parteifunktionärin reihenweise Mitschüler und Mitstudenten ans Messer zu liefern. Am Ende lässt der Autor diesen Inbegriff des schrankenlosen, in seiner Überanpassung höchst aggressiven Opportunismus in der Psychiatrie enden, während die gewöhnlichen Mitläufer von Nazi- und/oder Kommunistenideologie fast allesamt ihr Auskommen im Westen finden. Das eben war ja die Tragödie der SED-Herrscher, dass sie sich nicht auf die Lippenbekenntnisse der Systembejaher verlassen konnten. Andererseits: Welches System kann das schon? Wie ein boshafter Kommentar in alle Richtungen endet ein Nazi-Pimpfenführer und späterer Dozent für Marxismus-Leninismus als Presseoffizier bei der Bundeswehr. Der Kapitalismus, der nicht nach Motiven fragt, sondern nur nach Funktionsfähigkeit, hat eben den Vorteil, auf keinen Treueschwur bauen zu müssen.

    "Alle Diktaturen werden irgendwann nachlässig und verschlampen. Sie müssen nur lange genug existieren."

    ... lässt Schneider einen alten Emigranten sagen, um die Erträglichkeit des Lebens in der DDR - die ja doch für 16 Millionen Menschen mehr oder minder gegeben war - auf einen Punkt zu bringen. Fügt aber sogleich an:

    " Macht sie das besser? "

    Nein, das macht die Diktatur als Herrschaftskonzept nicht besser, es erklärt nur, warum sie ein Menschenalter lang andauern kann. Deformiert sind dann alle, die nichts anderes kennenlernen durften. Während Jacob Kersting in seiner abgeduckten Haltung noch halbwegs unbeschadet durch die Zeitläufte kommt und nur in puncto Lebensfreude Abstriche machen muss, wird seinem Schwiegervater Creyenveldt das Rückgrat systematisch gebrochen. Er, der ohne Studium zum brillanten Kunsthistoriker avancierte und ob seiner freien Rede von den Studenten bewundert wird, wandelt sich nach einer erzwungenen Selbstbezichtigung zum stromlinienförmigen Funktionär. Damit nicht genug, auch Creyenveldt trägt einen Januskopf, überzieht er doch einen befreundeten Maler in einem pseudonym gezeichneten Artikel mit "Formalismus"-Vorwürfen, in deren Folge der Maler jegliche öffentliche Unterstützung verliert. Dieser Abgrund an menschlicher Schwäche, der auf jeder zweiten Seite in "Marienbrücke" klafft, könnte Material für eine große Tragödie liefern. Rolf Schneider unterläuft dieses Projekt jedoch selbst, indem er stilistisch die größtmögliche Distanz zum Stoff sucht. Im Wien des Jahres 1988, mitten im modernen Leben, wirken Sätze wie folgende nur umstandshuberisch:

    " An diesem Mittag hatte sich die Serviererin vermittels Kohle einen Katzenschnurrbart ins Gesicht gemalt. Sie trug eine Mütze mit Katzenohren und hinten am Gürtel einen stoffenen Katzenschwanz, dessen Spitze in einer Mausefalle klemmte. Die erfolgreichste Theaterproduktion in der Stadt war seit mehreren Jahren eine musical comedy, in deren Handlung ausschließlich Katzen auftraten. "

    Ohne den Roman ins Triviale zu ziehen, hätte Schneider auch schlicht sagen können: "Die Serviererin trug ein Cats-Kostüm." Und wenn Jacob Kersting eine Kunstausstellung besucht, wirkt die ans 19. Jahrhundert angelehnte Erzählweise altväterlich verschroben:

    " Sie bediente sich des in Mode gekommenen Verfahrens der inszenierten Räume. Kersting mochte diese Technik nicht, da sie, war er überzeugt, die Massen bloß anzog infolge ihrer kulinarischen Beliebigkeit. Sie opferte die Aufklärung dem Augentrug. "

    So bleibt am Schluss ein großes, zeithistorisches Panorama übrig, das den Leser nicht wirklich berührt, und bei dem er das Gefühl nicht los wird, es so oder anders bereits gelesen zu haben. Sicher: Diese Autorengeneration - Rolf Schneider ist Jahrgang 1932 - hat viel durchlitten. Die Erfahrung zweier Diktaturen und mehrerer radikaler Umbrüche dürfte historisch einmalig sein. Individuell bleibt der Drang nachvollziehbar, am Ende noch einmal alles persönlich zu erzählen - aber genau das, die ganz persönliche Handschrift, vermisst man in "Marienbrücke". Ein bisschen kommt der Roman wie sein Held daher: zaghaft, sich in Sprachkonstrukte flüchtend, wo Stellungnahmen zu erwarten wären. Am Ende stürzt sich - oder fällt - Jacob Kersting von der Wiener Marienbrücke in die Donau. Natürlich überlebt er, denn so viel Entschiedenheit passte nicht zu seinem Leben, über das er in einer Wiener Diskussionsrunde selbstkritisch sinniert:

    " Seine kulturgeschichtlichen Erfahrungen schienen ihm bloß als andere Darstellungsform seines biologischen Alters, und das war hier nicht gefragt. "

    Spiegelt der Satz auch die resignative Haltung des Autors wider? Das wäre ein bitteres Resümee, zugleich ein Irrtum. Die Nachgeborenen wollen durchaus Erfahrungen vernehmen, sie sind nur von jüngeren Autoren verwöhnt, die schreibseminarerprobt ähnliche Stoffe lukullischer und mit mehr Empathie servieren. Irgendwo zwischen dem freien Fabulierstrom der Nichtdabeigewesenen und Rolf Schneiders umfangreichem Zeitzeugen-Tableau läge das Ideal. Doch zugegeben: Ideale werden in der Literatur selten erreicht.

    Rolf Schneider: "Marienbrücke"
    Osburg Verlag, 414 Seiten, 19,95 Euro