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Deutsche Nation
Optimistischer Blick auf die Geschichte

Seit wann gibt es überhaupt das Konzept Nation und wie ist es entstanden? Dieser Frage geht der Frankfurter Historiker Andreas Fahrmeir in seinem Buch "Die Deutschen und ihre Nation - Geschichte einer Idee" nach. Für völkische Parolen sieht er kaum eine Chance.

Von Eva-Maria Götz | 05.10.2017
    Fotografiert vor der Fußball-EM im Juni 2016: Deutschlandfahnen schmücken den Eingang zu einem Haus.
    Wir leben in einer Zeit, in der aus zwei nach dem Weltkrieg verbliebenen Staaten wieder ein Land geworden ist, das sich in einem pluralistischen Europa verortet und seine Grenzen nicht anzweifelt. (picture alliance / dpa)
    "Nationen sind immer Ideen darüber, wie die politische Welt geordnet sein sollte, wie sie geordnet sein könnte oder wie sie geordnet ist", meint Andreas Fahrmeir, Professor für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. "Und im Laufe der Zeit verändert sich bei jeder Nation die Vorstellung davon, was die Nation ausmacht, wer dazu gehören soll und wer nicht."
    Mit Beginn der frühen Neuzeit waren zwar aus den wilden Germanenhaufen, als den der Römer Tacitus die kämpferischen, trinkfesten, kulturell etwas zurückgebliebenen Einwohner Mitteleuropas bezeichnet hatte, Glieder eines Reiches geworden. Karl der Große gründete im Jahr 800 ein Imperium, das wir heute als "Heiliges Römisches Reich deutscher Nation" kennen. Doch obwohl sich im östlichen Teil dieses Reiches allmählich die deutsche Sprache herausbildete, hatte der Namenszusatz "deutscher Nation", den das heterogene Staatengebilde seit dem 15. Jahrhundert innehatte, eine andere Bedeutung als heute.
    "Wobei Nation einerseits meint so etwas wie eine Abstammungs- und Sprachgemeinschaft- in der Regel von außen gesehen. Die deutsche Nation beschreibt sich selbst weniger häufig als deutsche Nation als dass sie halt charakterisiert wird als deutsche Nation von südlich der Alpen oder westlich des Rheins."
    Lange Zeit spielte der Oberbefriff "deutsch" keine Rolle
    Und in diesem Gebiet wohnten Franken ebenso wie Bajuwaren, Teutonen und andere Völker, für die der Oberbegriff "deutsch" über lange Zeit keine Rolle spielte. Der Wunsch zu erklären, wie Pluralität in die Welt kommt, entstand erst mit Beginn der Aufklärung. Wenn alle Menschen gleich sind, warum zerfällt die Menschheit dann in so viele kulturelle, sprachliche, sittliche Ausprägungen?
    "Und damit ist die fast naturwissenschaftliche Frage in der Welt nach der biologischen Anthropologie der Nationen und dem Zusammenhang dieser biologischen Anthropologie mit sprachlichen Entwicklungen beispielsweise. Hier greift man auf die klassische Nationenkartografie Europas zurück, um erstmal Kategorien zu haben, deren Entstehung man dann untersuchen kann. Damit wird die Nation noch nicht sehr stark zu einem administrativen Konzept, aber sie wird zu einem plötzlich objektivierten Forschungsgegenstand."
    Doch je mehr die nationalen Eigenheiten als Erklärungsmuster für charakterliche, kulturelle Unterschiede Gültigkeit bekommen, umso mehr muss man sich abgrenzen, sich vergleichen, eine Hierarchie herausbilden.
    "Man fängt an, das im 18. Jahrhundert besonders zu wenden dahingehend, dass das Deutsche vielleicht die ursprünglicher, flexiblere oder der Philosophie zugeneigtere Sprache sei, die entweder immer schon an der Spitze der Nation gestanden haben könnte, (ohne dass es jemand gemerkt habe, muss man dazu sagen) oder die sich jetzt an die Spitze einer neuen Nationenhierarchie entwickeln könne."
    Wer gehört dazu? Und vor allem: wer nicht?
    Die Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert bringen die Notwenigkeit mit sich, sich mit der Konstituierung einer Nation auseinanderzusetzen, in der Zölle nicht die Wirtschaft bremsen und in der eine einheitliche Verfassung dem Wunsch des Bürgertums nach individueller Freiheit Rechnung trägt. Der Deutsche Bund, der nach dem klanglosen Untergang des Heiligen Römischen Reiches im Jahr 1806 entsteht, kann das nicht einlösen. Und das Deutsche Reich, das 1871 gegründet wird, auf wesentlich kleinerem Territorium? Andreas Fahrmeir widerspricht Tendenzen der Geschichtsschreibung, diesen Staat als späte, aber zwangsläufige Erfüllung deutscher Nationenträume zu sehen. Denn einerseits:
    "Es gibt einen deutschen Staat, die deutsche Nation kann sich dem mehrheitlich zugehörig fühlen, dieser Staat hat zwar nationale Minderheiten in den Polen und den Dänen und den Franzosen in Elsass-Lothringen, aber die werden sich schon assimilieren."
    Aber anderseits gibt der Frankfurter Historiker zu bedenken:
    "Hardliner unter den Anhängern des Nationenbegriffs werden natürlich argumentieren, nichts davon ist erreicht, es gibt noch wahnsinnig viele Leute, die sprachlich, kulturell zur deutschen Nation gehören, die außerhalb der Grenzen sind, nämlich in der Habsburger Monarchie. Und die Nationenbildung ist noch lange nicht abgeschlossen."
    Wer gehört dazu? Und vor allem: wer nicht? Das sind die Fragen, die sich als roter Faden durch die verschlungenen Pfade deutscher Nationalstaatsbildung ziehen. Wie ist der Status von sprachlichen, religiösen Minderheiten wie zum Beispiel von Juden? Haben sie gleiche Rechte oder werden sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, verfolgt, ermordet? Und welche Begründung legt sich die Mehrheitsgesellschaft für das jeweilige, in der deutschen Geschichte immer wieder stark unterschiedliche Handeln zurecht? Biologisch-rassische? Kulturelle? Wirtschaftliche? Eine Nation ist kein Monolith, sondern eine Gesellschaft, deren Selbstverständnis sich ständig wandelt. Im 20. Jahrhundert beherrscht wie nie zuvor die Vorstellung von der Nation als Abstammungsgemeinschaft den intellektuellen Diskurs und das politische Handeln.
    "Die zunehmende Biologisierung von Nationsvorstellung, die Identifizierung von Minderheiten, die scharfe Abgrenzung nach Osten, die Annahme, man habe ein zu kleines Territorium, die Annahme, die deutsche Kultur sei allen anderen europäischen Kulturen überlegen, das sind Argumentationsmuster, die sich im Kaiserreich rausbilden, in der Weimarer Republik radikalisieren, und die im Nationalsozialismus absolut dominant werden."
    Unterschiedliche Situation im Vergleich zu den 20er-Jahren
    Und heute? Wir leben in einer Zeit, in der aus zwei nach dem Weltkrieg verbliebenen Staaten wieder ein Land geworden ist, das sich in einem pluralistischen Europa verortet und seine Grenzen nicht anzweifelt. Aber:
    "Sozusagen die Vorstellung davon, was definiert Deutscher zu sein, bleiben stark orientiert an den Leitlinien, die sich in der Weimarer Republik herausgebildet haben. Es hat sehr lange gedauert, bis man die Einbürgerung einigermaßen erleichtert hat, bis man Elemente automatischer Einbürgerung eingeführt hat, und die Frage, ob Einbürgerungsstaatsbürgerschaft und Abstammungsstaatsbürgerschaft irgendwie gleich gewichtet werden sollen, ist ja immer noch kontrovers. Und die Debatte über den Doppelpass zeigt es ganz deutlich."
    Im Prinzip ist dahinter die Vorstellung verborgen: Es kann nur eine Staatsbürgerschaft geben und die muss durch Abstammung definiert sein. So in der dritten oder vierten Generation kann man mal darüber nachdenken, ob das vielleicht ok ist.
    Im Hinblick auf das Erstarken nationalistischer Tendenzen auch in Deutschland bleibt Andreas Fahrmeir dennoch optimistisch: Für völkische Parolen, wie sie zum Beispiel in der AfD wieder auftauchen, gäbe es - anders als in der Weimarer Republik - weder ein konsensfähiges nationales Narrativ noch eine irgendwie geartet wissenschaftliche Legitimität.
    "Insofern glaube ich, artikuliert es eine politische Befindlichkeit, aber es hat nicht die Chance, zur dominanten Idee zu werden. Und das unterscheidet die Situation heute in fundamentaler Art und Weise von der in den 20er-Jahren."