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"Deutsche Polizei würde in solchen Fällen viel deeskalativer reagieren"

Wilhelm Heitmeyer kritisiert die Aussagen des britischen Premierministers David Cameron, der mit massiver staatlicher Gewalt gegen die Randalierer vorgehen will. Mit Wasserwerfern und Tränengas treffe man Gewalttäter und normale Demonstranten gleichermaßen - und das führe zu Solidarisierungen. Die deutsche Polizei sei dagegen flexibler.

Wilhelm Heitmeyer im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 10.08.2011
    Wilhelm Heitmeyer: Man muss immer unterscheiden zwischen den Hintergründen, also tatsächlich den Ursachen, den Auslösern, der Mobilisierung und der Eskalation. Und wenn man diesen Rahmen aufspannt, dann ist in der Tat zu betrachten, was in den entsprechenden Stadtteilen – ob nun Tottenham oder Brixton oder früher in Bradford, Manningham oder auch in Birmingham – eigentlich los ist: Und wir sehen, dass in der ohnehin schon dramatischen Klassengesellschaft Großbritanniens die Armut, die Ausgrenzung, vor allem die Desintegration natürlich zunimmt und daraus sich eine latente Konfliktstimmung ergibt, die dann zum Teil eben aufgeheizt wird durch die tatsächlich Betroffenen und aber natürlich auch diejenigen, die daraus dann ein Gewaltevent machen. Also das ist eine Mixtur, die man schlecht auseinanderhalten kann.

    Tobias Armbrüster: Inwiefern ist denn Großbritannien noch eine Klassengesellschaft?

    Heitmeyer: Nun, die Spaltung und gerade die Megacity London zeigt das überall, oder wenn Sie in die nordenglischen Städte gehen wie Bradford et cetera, wo die alte klassische Textilindustrie total am Boden liegt und die Verarmungstendenzen offenkundig sind, und dann eben die Inner City von London mit ihrem Bankviertel et cetera – das sind Gegensätze, die außerordentlich dramatisch sind.

    Armbrüster: Aber sind das nicht Gegensätze, die wir auch bei uns in Deutschland haben?

    Heitmeyer: Nein, in dem Ausmaße so nicht. Ich meine, man muss die Integrationssituation in den Gesellschaften, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und in Großbritannien sehen und dabei besonders betonen, dass Integration nicht nur für Zuwanderer ein Problem ist, sondern auch für Alteingesessene sozusagen. Oder anders gesagt: Es gibt auch Desintegrationsprozesse, nicht nur für die Zugewanderten mit ihren schwierigen Bedingungen, sondern auch für Alteingesessene. Und da schneiden wir im Vergleich doch zurzeit noch deutlich besser ab und haben auch mehr Möglichkeiten, solche Dinge in den Griff zu kriegen.

    Armbrüster: Sie haben ja, Herr Professor Heitmeyer, viel die Situationen in sozialen Brennpunkten in Großbritannien und auch in Deutschland verglichen in Ihrer Arbeit. Könnten sich solche Unruhen, wie sie sich zurzeit in Großbritannien ereignen, wie wir sie in den vergangenen Nächten erlebt haben, könnten die sich auch bei uns ereignen?

    Heitmeyer: Da muss man natürlich genau hinsehen, welche Mechanismen wirken eigentlich in solchen großstädtischen Bereichen in Großbritannien oder auch in Frankreich, und dann vergleichen: Gibt es das auch hier? Und da ... Zu diesen Eskalations- und Mobilisierungs- und auch Auslöserphänomenen muss man das genauer betrachten, und da würde ich sagen sind wir zurzeit – zurzeit, man weiß es nie, weil natürlich Aufruhr und Riots sich nicht einfach planen lassen auf der einen Seite –, ...

    Armbrüster: Weil sich was nicht planen lässt?

    Heitmeyer: Ja, solche Riots, also Aufruhr lässt sich nicht einfach planen oder auch anmelden wie eine Protestveranstaltung, sondern da gibt es eine Latenz. Und dann gibt es Signalereignisse, moralisch ausbeutbare Signalereignisse in einer latenten Konfliktstimmung – das kann man in Frankreich, in den Banlieues beobachten, auch jetzt in Großbritannien –, und dann über dieses moralisch ausbeutbare Signalereignis, also die Erschießung jetzt eines Familienvaters, gibt es daraus dann entsprechende Reaktionen und Prozesse. Dazu gehören dann natürlich auch klare Feindbilder, wechselseitige Feindbilder etwa von Polizei und den Gruppen, und die Polizei ist jetzt das Symbol sozusagen für den Staat, der immer stärker zur Verarmung bestimmter Gruppen und Desintegration beiträgt. Das gilt übrigens auch für Frankreich, und in Frankreich ist ja die Polizei dermaßen brutal, dass das in Deutschland so gar nicht vorkommen würde. Das heißt, die deutsche Polizei würde in solchen Fällen viel flexibler und deeskalativer reagieren, als das vor allem die französische Polizei tut, und zum Teil jetzt ja auch die britische Polizei. Und insofern kommt ein weiteres Element dazu: Wenn der britische Premier jetzt erklärt, er würde massivst mit staatlicher Gewalt dort vorgehen, dann erzeugt das auch noch zusätzlich Wut bei den Gruppen. Und ein weiterer Punkt ist natürlich: Wenn die Polizei mit, wie angekündigt, Tränengas oder mit Wasserwerfern vorgeht, dann hat sie ein Riesenproblem mit dem, was man Repressionskonsistenz nennt, nämlich, dass man diejenigen Täter, die tatsächlich Gewalt anwenden, dass man die rauslöst aus der Gruppe derjenigen, die entweder protestieren, wie das ja zunächst auch in Großbritannien der Fall war, es war eine friedliche Demonstration und wir wissen nicht genau, was jetzt die Übersprungshandlung war sozusagen. Aber wenn es zur Repressionsinkonsistenz kommt, das heißt, Wasserwerfer da reinkommen, dann trifft man Beteiligte, Gewalttäter, alle gleichermaßen. Und das führt zu neuen Solidarisierungen und natürlich auch dann zu weiterer Eskalation.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.