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Deutsche, Vampire, Amerikaner und Schafe

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk. Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Denis Scheck | 29.07.2010
    Scheck: Ich habe in diesem Monat Bücher gelesen über Deutsche in Afrika, Vampire in den USA, Amerikaner in Paris, irische Schafe in Frankreich und Schweden in der großen weiten Welt: Ist denn wirklich gar niemand mehr einfach mal zu Hause?
    Scheck: Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Belletristik:

    Funck: Heute mit schwedischen Globalisierungsverweigerern und dänischen Schafen mit Doppelleben und Franzosen mit Dreifachleben, magischen Tagebüchern sowie dem Nachweis, dass Kappes Kappes bleibt, egal, ob er vorn nach hinten oder von hinten nach vorn erzählt wird. In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen vier Kilo und 231 Gramm auf die Waage: zusammen 4323 Seiten.

    Platz 10) Henning Mankell: "Der Feind im Schatten" (Deutsch von Wolfgang Butt, 591 Seiten, 26 Euro)

    Scheck: Auch Mankells zehnter und vermutlich letzter Wallanderkrimi bezieht seinen beträchtlichen Reiz aus der niederschmetternden Aussichtslosigkeit des Kampfs seines Helden: Wallander steht für die Sehnsucht nach Heimat in der globalisierten Welt, das Beharren auf Individualität in der vermassten Gesellschaft, den aussichtslosen Widerstand gegen die alles zermalmende Zeit. Wer fragt da schon groß nach der Plausibilität der Krimihandlung um U-Boot-Spionage und das Erbe des Kalten Krieges?

    Funck: 9) Paul Auster: "Unsichtbar" (Deutsch von Werner Schmitz, 316 Seiten, 19,95 Euro)

    Scheck: Paul Auster in Hochform: Der große Brückenbrauer zwischen der US-amerikanischen und der europäischen Literatur hat einen genial konstruierten Roman geschrieben über Geld und Kunst, Liebe, Verbrechen und Moral. Wie immer bei Auster wird Philosophie als Thriller erzählt, in diesem Fall die Geschichte eines amerikanischen Fausts, der sich von einem europäischen Teufel verführen lässt.

    Funck: "Was, wenn sein Doppelleben kein Doppelleben, sondern ein Dreifachleben ist?"

    Scheck: Fragt eine Figur am Ende des Romans – doch ganz so einfach geht es dank Paul Austers souveräner Erzählkunst in diesem Buch zum Glück nicht zu.

    Funck: 8) Sebastian Fitzek: "Der Augensammler" (Droemer Verlag, 442 Seiten, 16,95 Euro)

    Scheck: Auf der ersten beziehungsweise letzten Seite dieses rückwärts erzählten, aber vorwärts wie rückwärts gleich dummen deutschen Gewaltpornos steht:

    Funck: "Ein Ratschlag, den ich Ihnen jetzt schon geben möchte: Lesen Sie nicht weiter!"

    Scheck: Diesem Ratschlag schließe ich mich gerne an.

    Funck: 7) Cecilia Ahern: "Ich schreib dir morgen wieder" (Deutsch von Christine Strüh, Krüger Verlag, 366 Seiten, 16,95 Euro)

    Scheck: Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn:

    Funck: "Liebes Tagebuch, ich hasse mein Leben. Kurz gesagt ist es Folgendes: Mein Dad hat sich umgebracht, wir haben unser Haus und überhaupt alles verloren, ich mein ganzes Leben, Mum ihren Verstand, und jetzt wohnen wir bei zwei Soziopathen im hinterletzten Kaff."

    Scheck: Wäre dies der Beginn des neuen Romans der irischen Autorin Cecilia Ahern, es wäre ihr erster guter. Leider aber steht diese Eintragung in einem magischen Tagebuch auf S. 128 von "Ich schreib dir morgen wieder", und alles in diesen wenigen Sätzen Zusammengefasste wurde genau so haarklein und vorhersehbar auserzählt wie der Rest dieser Schmonzette um eine 16-jährige Waise, die auf dem platten Land von mildtätigen Nonnen in die wahren Werte ewiger Herzensbildung eingeführt wird.
    Funck: 6) Jilliane Hoffman: Mädchenfänger (Deutsch von Sophie Zeitz. Rowohlt Verlag, 461 Seiten)

    Scheck: Eine verschwundene 13-Jährige, ein Ermittler, dessen Tochter Kathy ebenfalls vermisst wird, ein psychopathischer Serienkiller, der seiner Opfer in Öl malt: mindestens so abstoßend wie die geschilderten Verbrechen ist Jilliane Hoffmans moralische Selbstgerechtigkeit in diesem müden Routinekrimi und ihre alberne pauschale Verdammung des ...

    Funck: ... "großen bösen Internets".

    Scheck: Wes Geistes Kind dieser Roman ist, offenbart sich in Dialogpassagen wie:

    Funck: "Ich glaube, die Verletzung wurde gnädigerweise post mortem zugefügt – das heißt, nachdem sie tot war."
    5) Stephenie Meyer: Bis zum Ende der Nacht (Deutsch von Sylke Hachmeister, Carlsen, 788 S., Euro 24,90)

    Scheck: Gegen die aufgeblähten Schmachtfetzen der Mormonin aus Arizona helfen scheinbar weder Knoblauch noch Weihwasser oder Silberkugeln: die Gesamtauflage von Meyers bislang vier Romanen um die prüde Schöne Bella Swan und den höflichen Vampir Edward Cullen beträgt über hundert Millionen Exemplare. Doch erfahrene literaturkritische Exorzisten wissen: Lautes Vorlesen enttarnt den adjektivüberladenen Stammelstil Meyers, ihre totale Unfähigkeit zum Malen von Stimmungen ebenso wie ihr Unvermögen, abstrakte Gedanken darzustellen. Zurück bleibt nur ein von Lachtränen benetztes jämmerliches Häufchen Asche.
    Funck: 4) Leonie Swann: "Garou" (Goldmann Verlag, 415 Seiten)

    Scheck: Zugegeben: Ich war wild entschlossen, diese Fortsetzung des brillanten Schafskrimis "Glenkill" unnötig, doof und kommerziell abgeschmackt zu finden, einfach weil Fortsetzungen zu brillanten Krimis immer unnötig, doof und kommerziell abgeschmackt sind. Aber das französische Abenteuer der irischen Schafe um einen "loup garou" hat mein Leserherz gewonnen, schneller als ich "Niedlich!" sagen konnte. Werde ich am Ende einfach zu weich?
    Funck: 3) Jussi Adler-Olssen: Erbarmen (Deutsch von Hannes Thiess, DTV, 419 Seiten, 14,90 Euro)

    Scheck: Der erste Fall von Vizekriminalkommissar Carl Mørck und seines syrischen Assistenten Hafez el-Assad um eine vor fünf Jahren verschwundene dänische Politikerin bietet mäßig spannende skandinavische Krimikonfektion.
    Funck: 2) Stephenie Meyer. Biss zum ersten Sonnenstrahl (Deutsch von Katharina Diestelmeier, 205 S., Euro 15,90)

    Scheck: In diesem mit 200 Seiten für Meyersche Verhältnisse Winzling von einem Buch greift die Autorin eine Nebenfigur auf, die einen kleinen Auftritt im dritten Band von Meyers Blut-und-Hoden-Story hatte: die 15-jährige Bree Tanner. Bree ist die klassische "damsel in distress", eine Jungfrau in Bedrängnis, die im Hochzeitskleid Kohlenschippen könnte, ohne dass auch nur ein Stäubchen ihre Makellosigkeit beeinträchtigen würde. Offenbar plagte Stephenie Meyer das schlechte Gewissen, wie lieblos sie diese Figur über die Klinge springen ließ. Doch in dem Versuch, poetische Gerechtigkeit herzustellen, verschlimmbessert Meyer alles. Meyer hat wieder einen Roman triefend von Moral geschrieben, einer Moral, deren besondere Perfidie gerade darin besteht, dass sie einen Sinn unterstellen muss für einen sinnlosen Tod.

    Funck: Platz eins der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Belletristik:
    Tommy Jaud: "Hummeldumm" (Argon 320 S., 13.95 Euro)


    Scheck: Ein öder Roman über einen Urlaub in Afrika und eine Wohnung in Köln, eine Prosa, verfasst in reinstem Krakeel, stets schielend auf den nächstliegenden Witz, durchaus dazu angetan, Depressionen auszulösen.