Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Deutschen Theater Berlin
Andreas Kriegenburg inszeniert Lessings Religions-Parabel

"Nathan der Weise" von Gotthold Ephraim Lessing, das Stück über die Toleranz und Akzeptanz zwischen den großen Weltreligionen, ist immer noch aktuell. Andreas Kriegenburg, der den Nathan nun zum Spielzeitauftakt am Deutschen Theater Berlin auf die Bühne gebracht hat, musste einige Klippen umschiffen.

Von Eberhard Spreng | 01.09.2015
    Ein schlammverkrustetes Paar in liebevoller Umarmung, ein Bild unbedingter Zärtlichkeit. Dann eine kleine ebenfalls schlammverkrustete Gruppe, die entrüstet vor sich hin zischelt, die Liebenden trennt und mit Staub bewirft, als wäre das ein archaisches Ritual aus den Urzeiten der Menschheit.
    Dann wiederum setzt sich das sechsköpfige Ensemble mit trippelnden, hüpfenden Bewegungen, die man von Slapstickfilmen kennt, um einen großen Bretterverhau herum in Bewegung, ein Kubus, eine Kaaba, ein gewaltiger Stein der Weisen wie in der Eingangssequenz von Kubricks "Odyssee im Weltraum". Im Schnelldurchgang arbeitet dieses lustige, ungemein liebevoll gearbeitete Bildertheater eine kleine Evolutionsgeschichte ab bis die lehmverkrusteten Gestalten mit Hermes- und Armani-Tüten im Kreis laufen und für Augenblicke in der Gegenwart ankommen. Und dann schält sich aus dem Gebrabbel, Gebelle und Geflüster der Stummfilmfiguren plötzlich der Satz:
    "Lessing bitte! – Danke, Danke"
    Mit dem Beginn des Textes fangen sämtliche Schwierigkeiten der so bildmächtig begonnenen Inszenierung an. Denn Lessings Blankverse brechen über die fröhlichen Homunkulusse herein wie eine unbekannte Geisteskrankheit. Keiner versteht jetzt mehr so recht, was die Schlammkruste mit dem humanistischen und an Toleranz appellierenden Lessing-Märchen zu tun hat. Schon klar, dass damit eine Distanzierung gemeint ist, die es überhaupt möglich machen soll, dieses zugleich unkaputtbare und unspielbare Stück überhaupt auf die Bühne zu bringen. Trotzdem werden zwei Drittel der Texte in einem Wahnsinnstempo heruntergerattert, und das verbleibende Drittel in derb-parodistischen Setzungen veralbert. Ein maßlos fetter Patriarch sitzt auf dem Klo und befindet: "Der Jude wird verbrannt", der christliche Tempelherr klagt: "Mein Kreuz, mein Kreuz" und bekommt rasch zwei Bretter auf den Rücken und ein Schildchen mit dem Schriftzug "INRI" davor gehalten; Sultan Saladin und Schwester Sittah grübeln über einem Schachspiel, während hinter ihnen zwei Al Jazeera Sportreporter in einem respektvoll gedämpften Fantasiearabisch vor sich hin kommentieren. Aber mit einem Mal ist die Albernheit vorbei. Jörg Pose als weiser Jude Nathan sitzt hoch oben auf dem Bretterkubus und erzählt einem hinterlistigen Saladin die berühmte Ringparabel über die Gleichwertigkeit der drei abrahamitischen Religionen.
    - "Man untersucht, man zankt,
    Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht
    Erweislich;- Fast so unerweislich, als
    Uns itzt – der rechte Glaube."
    - "Ich dächte,
    daß die Religionen, die ich dir
    Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären.
    Bis auf die Kleidung; bis auf Speis und Trank!"
    - "Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht.
    Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte?
    Geschrieben oder überliefert! – Und
    Geschichte muss doch wohl allein auf Treu
    Und Glauben angenommen werden."
    Für einen kurzen Moment leuchtet die Aufführung, die bis hierhin nur in den Theaterraum hineingealbert hatte, tatsächlich in die Gegenwart der neuen Religionskriege hinaus, auch wenn hier ein ziemlich unfundamentalistisches Publikum sitzt: Lessing hatte seinerzeit seine Nöte mit einem intoleranten Christentum und verlegte seine Handlung in ein fantastisches Jerusalem, das mit dem jüdisch-muslimischen Zusammenleben keine Mühe hatte, bevor die Kreuzritter kamen. Auch bei Kriegenburg schneiden die dummen Christen herzlich schlecht ab. Wo er aber mit hinzugefügten Sätzen wie "Des Juden und des Flüchtlings Haus sieht mancherorts so mancher manchmal gerne brennen." einen tagespolitischen Gewinn erzielen will, bleibt die Aktualisierung ohne Widerhall im Lessingtext. Und regelrecht zäh wird es, wenn er dann noch langwierig die Familienzusammenführung erzählt, die Lessing als etwas mutwillig fabulierter Plot für seine humanistische Botschaft diente: Nathans christliches Ziehkind Recha ist in Wirklichkeit die Schwester des in sie verliebten Tempelritters und beide sind Kinder von Saladins verstorbenem Bruder Assad. Aus der innigen Zärtlichkeit vom Anfang ist jetzt, angespornt von der ironischen Schrifttafel "free hugs", eine züchtige Umarmung von Freunden und Verwandten geworden. Juden, Christen, Muslime, alle eine große Familie.
    Die Lehmschicht um den Schauspielerkörper aber, die nichts weiter war als ein Schutzpanzer gegen das Stück, bröckelt auch jetzt nicht, die Gesichter bleiben unkenntlich. Mit seiner in sich schlüssigen, aber dramaturgisch hermetischen Ästhetik hat Andreas Kriegenburg sich und uns den Lessing erfolgreich vom Leib gehalten. Uns opportunistischen Jetztzeitmenschen, die einerseits mit religiösen Letztbegründungen nicht mehr behelligt werden wollen. Uns, die andererseits insgeheim die Forderung nach einer weltweiten Geltungsmacht des Lessingschen Humanismus aufgegeben haben.