Freitag, 29. März 2024

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Deutscher Arzt zur Lage in Syrien
Untätigkeit der deutschen Regierung verantwortungslos

Menschen, die auf freiem Feld campieren und überquellende Unterkünfte - der deutsche Notarzt Michael Wilk, zurzeit in der Nähe von Afrin tätig, schildert die dramatische Situation der Flüchtlinge aus dem syrischen Grenzgebiet. "Die Lage ist wirklich prekär", sagte Wilk im Dlf.

Michael Wilk im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 20.03.2018
    Michael Wilk behandelt ein Mädchen auf einer Liege
    Michael Wilk zur Lage in Afrin: "Es ist keinerlei Versorgung oder nur eine marginale Versorgung dort möglich zurzeit" (privat / Michael Wilk)
    Tobias Armbrüster: Was passiert zurzeit genau in Afrin im Nordosten von Syrien? Allzu viel wissen wir nicht, aber so viel ist bekannt: Seit dem Wochenende ist diese Stadt unter türkischer Kontrolle. Wir hören jetzt von Plünderungen und von zehntausenden von Kurden und auch von Jesiden, die vor den neuen Machthabern fliehen.
    Einer, der die Lage dort in Afrin beobachten kann, ist der deutsche Arzt Michael Wilk. Seit einigen Jahren ist er immer wieder als unabhängiger Notarzt in Syrien tätig. Er arbeitet zurzeit in der Nähe von Afrin und dort erreichen wir ihn auch jetzt gerade. Schönen guten Morgen, Herr Wilk!
    Michael Wilk: Guten Morgen! Ich grüße Sie.
    Armbrüster: Herr Wilk, was genau wissen Sie über die aktuelle Lage in Afrin?
    Wilk: Ich beziehe meine Berichte ausschließlich von Menschen, die direkt von Afrin kommen und hier in Qamislo eintreffen, beziehungsweise wir haben telefonischen Kontakt zu den Geflohenen. Momentan muss man sagen, leider Gottes, dass mehrere hunderttausend Menschen aus dem Gebiet Afrin geflohen sind nach der türkischen Attacke, und sie halten sich momentan in dem Gebiet zwischen Tell Rifaat und Aleppo auf und meistens unter freiem Himmel und unter sehr unangenehmen Umständen, weil keinerlei Versorgung oder nur eine marginale Versorgung dort möglich ist zurzeit.
    Auch das Krankenhaus wurde beschossen
    Armbrüster: Was können Sie uns sagen? Warum genau flüchten diese Menschen? Wovor fliehen die?
    Wilk: Na ja. Es ist so, dass bekannterweise am 20.10. der in meinen Augen und nicht nur in meinen Augen völkerrechtswidrige Vormarsch der türkischen Armee auf das Gebiet Afrin begann. Afrin war vorher eigentlich ein Ruhepol innerhalb dieses bestialischen Kriegsgebiets Syrien, Nordsyrien, und es waren extrem viele Menschen in das Gebiet geflohen, so dass wir von mehreren hunderttausend Flüchtlingen ausgehen müssen, die zu der normalen ansässigen Bevölkerung, mehrheitlich kurdisch, dort hingeflohen sind.
    Diese Menschen sahen sich dann diesem aggressiven Vorgehen der türkischen Truppen und vor allem islamistischer Hilfstruppen ausgesetzt, und vor denen waren sie ja andernorts geflohen. Es ist also sehr gut nachzuvollziehen, warum diese Menschen auf die Flucht gegangen sind, vor allem seit letzte Woche massiv die Innenstadt von Afrin beschossen wurde und Verletzte, Schwerverletzte und Leichen in den Straßen der Stadt lagen. Auch das Krankenhaus wurde beschossen.
    Michael Wilk behandelt einen verletzten Mann
    Michael Wilk - "Die Situation ist wirklich prekär" (privat / Michael Wilk)
    Armbrüster: Was hören Sie denn? Wie treten die türkischen Soldaten und ihre Verbündeten in Afrin auf?
    Wilk: Na ja, was höre ich? Ich habe vor allem Kontakt zu den Geflohenen. Insofern können wir auch nur wahrnehmen, was wir in den sozialen Medien sehen, was direkt vor Ort passiert. Man sieht die Plünderungen, das ist ja dokumentiert, das ist bekannt. Das geht ja so weit, dass sogar türkische Soldaten sich darüber echauffieren, was ihre Kampfgenossen, die sie allerdings als Söldner angeheuert haben, dort anrichten. Das ist so, dass man damit rechnen muss, dass Übergriffe passieren.
    Insbesondere die jesidische Bevölkerung, die ja vorher schon unter der islamistischen Aggression gelitten hat – das war der Bevölkerungsanteil, der zum Teil versklavt wurde, wo Männer geköpft wurden, einfach weil sie Anhänger der jesidischen Glaubensrichtung sind, und Frauen versklavt wurden, weil sie als Ungläubige gelten -, die fürchten besonders um ihr Leib und Leben.
    Zu allem Elend auch die Flucht bezahlen
    Armbrüster: Jetzt fliehen diese Menschen, sagen Sie, zu zehntausenden, zu hunderttausenden aus dieser Stadt, aus dieser Region. Was heißt das jetzt, wenn die fliehen? Wie leben die? Unter welchen Umständen müssen die nach ihrer Flucht leben?
    Wilk: Viele sind geflohen mit wenig mehr als dem, was sie auf dem Leibe tragen. Dazu kam die unangenehme Situation, dass syrische Grenzsoldaten - das Gebiet Afrin ist ja unter Kontrolle der YPG, der Volksverteidigungseinheiten der Kurden -, dass man, wenn man über die Grenze kommt, wo die syrische Armee, das syrische Armee die Kontrolle ausübt, dass viele Grenzposten das genutzt haben, die Leute abzukassieren, so dass man davon ausgehen muss, dass extrem viele Menschen einen Zoll zahlen mussten, und der beläuft sich – so wurde mir mehrfach von verschiedener Seite berichtet – auf 1.200 bis 2.000 Dollar pro Kopf. Zu allem Elend mussten diese Leute auch noch für ihre Flucht bezahlen. Das heißt, sie fühlten sich auf der einen Seite verfolgt, hinter ihnen die vorrückenden türkischen Truppen und islamistischen Kampfverbände, und auf der anderen Seite das Staatsgebiet des Assad-Regimes, vor dem auch viele geflohen waren. Die Lage ist wirklich außerordentlich prekär.
    Zwar wurde der Rückzug gedeckt von den Verbänden der YPG. An dieser Stelle muss ich auch richtigstellen: Es geistert ein bisschen durch die Medien immer wieder, die YPG hätte die Menschen am Abzug gehindert. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe von mehreren unabhängigen Menschen gehört, dass die Volksverteidigungseinheiten der YPG über die Lautsprecher der Minarette sogar dazu aufgerufen haben, das Gebiet zu verlassen, weil sie es nicht mehr garantieren können, dass die Leute am leben bleiben.
    Alle Scheunen, alle Unterkünfte quellen über
    Armbrüster: Und jetzt nach ihrer Flucht, wie können wir uns das vorstellen? Wie leben diese Geflüchteten?
    Wilk: Unsere Informationen sind so – und das ist inzwischen schon von den ersten Stellen der UNO auch bestätigt -, dass sehr viele Leute, das können über 100.000 sein oder 200.000 sogar, genau kann das momentan keiner zählen, auf freiem Feld campieren beziehungsweise in dem Gebiet, wohin sich die Leute gerettet haben, alle Häuser bis zu zehnfach belegt sind. Alle Scheunen, alle Unterkünfte quellen über und die Leute campieren zum großen Teil auf freiem Feld und benötigen dringend Unterstützung, Zelte, Decken. Es ist nachts durchaus empfindlich kühl und die Situation ist wirklich prekär. Frauen bringen ihre Kinder am Straßenrand zur Welt. Man kann sich die Szenen kaum vorstellen.
    Armbrüster: Herr Wilk, Sie arbeiten jetzt in der Provinzhauptstadt der Region als Mediziner, als Arzt. Wir erreichen Sie heute Morgen – das sollte man vielleicht auch sagen – über eine Skype-Verbindung, über eine Internet-Verbindung. Deshalb klingt diese Leitung auch sehr gut. Unter welchen Umständen arbeiten Sie dort als Arzt?
    Wilk: Mir geht es jetzt im Gegensatz zu den letzten Aufenthalten – der letzte Aufenthalt war an der Front von Rakka – vergleichsweise gut, weil ich hier in relativer Sicherheit bin in Qamislo. Zwar wurde im nächsten größeren Ort gestern von türkischer Seite über die Grenze geschossen und auch ein Mann verletzt, ein Arbeiter und ein Kind, aber mir geht es hier relativ gut. Ich sehe mich hier nicht in der Gefährdungslage. Allerdings sind die Umstände natürlich auch unangenehm. Es gibt nicht immer Strom.
    Jetzt wird unser Gespräch zum Beispiel von einer Batterie gespeist. Aber hier ist es relativ ruhig. Das ist die Zentrale vom Kurdischen Roten Halbmond und wir versuchen, von hier aus ein Stück die Logistik positiv zu beeinflussen, weil es auch sehr schwer durchzukommen ist von dem Restgebiet, was unter kurdischer Kontrolle ist, weil die Zugangswege auch durch syrisches Staatsgebiet, also Assad-Regime-Gebiet gehen.
    Es sind nur, möchte ich noch ergänzen, relativ wenig Rettungskräfte im Einsatz. Es gibt Restbestände von vom Kurdischen Roten Halbmond, die ebenfalls geflohen sind aus Afrin, die sich im Gebiet aufhalten und die nun kleine Rettungsstationen aufgebaut haben. Und es gibt kleine Kontingente des Internationalen Roten Kreuzes. Aber ansonsten ist dort an Hilfe noch nicht viel vorhanden.
    "Von Afrin ging nie eine Bedrohung aus"
    Armbrüster: Herr Wilk, wir hören jetzt immer wieder, dass es möglicherweise auch zu Racheakten der Kurden kommen könnte, dass es da möglicherweise noch mal eine Gegenoffensive geben könnte auf die Stadt Afrin. Was hören Sie über solche Pläne?
    Wilk: Na gut. Was wir wissen ist: Ich würde es nicht als Racheakte bezeichnen, sondern es ist einfach Krieg hier unten. Es ist eine offene Auseinandersetzung. Die Türkei argumentiert ja damit, es wäre eine Anti-Terrorismus-Aktion. Das war ja in Ihrem vorherigen Beitrag auch kritisch in Frage gestellt worden, weil von dem Gebiet Afrin ging nie eine Bedrohung für die Türkei aus. Es ist so, dass die sogenannten Volksverteidigungseinheiten der YPG wohl ihre Strategie geändert haben. Dafür bin ich jetzt kein Spezialist, aber man geht wohl zur Guerilla-Taktik über, weil eine offene Auseinandersetzung unmöglich zu führen ist bei einer Luftüberlegenheit. Was heißt Überlegenheit; die YPG verfügt über keinerlei Flugzeuge. Die werden hier in Grund und Boden bombardiert, wenn man da eine offene Auseinandersetzung ausficht.
    Armbrüster: Herr Wilk, dieser Krieg ist ja immer auch ein Krieg um die Informationen, und da gibt es dann immer Vorwürfe, das kriegen wir natürlich auch immer wieder zu hören, wenn wir solche Informationen senden, so wie die Sie uns jetzt schildern, immer die große Frage, wie zuverlässig ist das denn. Jetzt haben Sie uns schon gesagt, Sie arbeiten in einer Stadt, die unter kurdischer Kontrolle steht. Sie arbeiten zusammen mit der Organisation Kurdischer Roter Halbmond. Warum sollten wir davon ausgehen, dass Ihre Informationen jetzt tatsächlich unabhängig sind und nicht interessengesteuert, dass Sie nicht einfach die Sicht der Kurden darstellen?
    Wilk: Nun ja, warum sollte ich das tun? Ich bin seit 2014 hier im Gebiet und arbeite völlig unabhängig. Ich habe weder finanzielle, noch sonstige Vorteile von dieser Arbeit. Es ist allerdings so, dass man unschwer eine Sympathie heraushören kann für die Menschen, mit denen man seit Jahren jetzt hier solidarisch arbeitet. Das ist natürlich klar. Trotzdem verstehe ich Ihre Position und bemühe mich sehr um verschiedenste Informationsquellen. Ich war zum Beispiel vorgestern noch in einem Flüchtlingscamp. Hier im Gebiet sind ja sehr viele geflohene Menschen, das geht in die zehntausende, und habe mich dort bei arabischen Leuten erkundigt, die ebenfalls aus Afrin kamen, und die haben die Positionen bestätigt. Ich rede hier nicht nur mit kurdischen Leuten.
    Keine Minderjährigen mehr an der Front
    Armbrüster: Könnten Sie zum Beispiel auch Kritik üben an den Kurden, oder würde man Ihnen das in Ihrer Umgebung sofort übel nehmen? Würden Sie möglicherweise bedroht werden?
    Wilk: Ach was! – Nein! – Ich bin jetzt schon wie gesagt seit 2014 da und konnte in Rakka und in Minbic bei den Auseinandersetzungen als Notarzt unterstützend helfen. Mir würde man das nicht übel nehmen. Im Gegenteil! Wenn jemand Kritik üben kann, dann kann ich das auch machen. Es gibt natürlich immer vereinzelte Übergriffe auch von einzelnen Menschen. Der große Unterschied ist, es gibt hier Gesetze. Es gibt hier unterschriebene Konventionen zum Beispiel auch. Es war früher so: Am Anfang 2014 habe ich noch Menschen gesehen, die waren an der Front, die waren unter 18. Das ist weitgehend abgestellt worden.
    Ich sehe jetzt keine Minderjährigen mehr, die in den Kampfverbänden teilnehmen. Es gibt zum Beispiel auch immer wieder einzelne Leute, die Menschen erschießen, das kommt vor, die vielleicht nicht zu den Kämpfern auf der anderen Seite gehören, aber das ist genau der Unterschied. Das ist nicht gewollt, das wird geahndet, das ist verboten, genauso wie es verboten ist, zum Beispiel inhaftierte IS-Gefangene zu foltern. Es ist nicht auszuschließen, dass der eine oder andere Gefängniswärter möglicherweise übergriffig wird. Das gibt es ja in jedem Land. Aber der große Unterschied ist, es ist anzeigbar und es wird tatsächlich verfolgt.
    Armbrüster: Zum Schluss noch mal eine Frage zu Ihrer Arbeit. Wie lange werden Sie dort noch in der Region bleiben und wie ist es für Sie möglich, in Syrien möglicherweise zu anderen Einsatzorten zu reisen?
    Wilk: Ich werde jetzt zum Beispiel am Wochenende bis Minbic fahren und durch Rakka durch nach Tabka und werde gucken, das ist in der Nähe der Grenze, wie dort die Situation ist, weil wie gesagt, ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass einige Leute sich auch in das kurdische Stammland hier nach Osten in Bewegung setzen. Aber offensichtlich ist es so, dass die große Majorität sich zwischen die besagten Städte in Richtung Aleppo in Bewegung gesetzt hat, weil das auch das Gebiet ist, was die Leute am besten kennen und wo sie möglichst nahe an ihrer Heimat dran sind.
    Ich bin noch zirka zwei Wochen da. Ich möchte allerdings noch vielleicht dazu sagen und das liegt mir wirklich am Herzen, dass hier alle Menschen sich wundern. Wir haben seit Wochen versucht – wenn ich sage wir, ist das hier die Hilfsorganisation, und es sind ja internationale Hilfsorganisationen auch hier -, über die Lage zu berichten bis hoch zu den Vereinten Nationen, bis hoch zum EU-Menschenrechtsrat. Es kam noch nicht mal der Hauch einer Antwort. Angesichts dessen, dass deutsche Waffenexporte hier ein immenses Unheil anrichten, muss ich sagen, ich schäme mich dafür und ich halte das Tun und vor allem das Nichttun für völlig verantwortungslos, was die deutsche Regierung anbelangt.
    Armbrüster: Aus Afrin waren das Einschätzungen und Informationen des deutschen Mediziners Michael Wilk aus Wiesbaden. Er arbeitet zurzeit als Arzt und freiwilliger Helfer in der Region. Vielen Dank, Herr Wilk, für Ihre Zeit an diesem Morgen.
    Wilk: Ich bedanke mich bei Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.