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Deutscher Behindertenrat
Neue Präsidentin Verena Bentele hat große Pläne

Der Deutsche Behindertenrat soll verbandsübergreifend die Interessen behinderter und chronisch kranker Menschen vertreten. Über 140 Gruppierungen sind darin organisiert. Bisher ist das Gremium allerdings selbst vielen Betroffenen kaum bekannt. Die neue Präsidentin, Verena Bentele, will das ändern.

Von Daniela Siebert | 02.01.2020
VdK-Päsidentin Verena Bentele am Rednerpult, hinter ihr eine Europa-Fahne.
Seit Mai 2018 ist Verena Bentele bereits Präsidentin des Sozialverbands VdK. Nun führt sie zudem den Sprecherrat des Deutschen Behindertenrates (picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka)
Für ein Jahr ist Verena Bentele nun Vorsitzende des Sprecherrates des Deutschen Behindertenrates. Als Präsidentin des Sozialverbandes VdK repräsentiert sie zugleich eine der größten Mitgliedsorganisationen im Rat. Die 37-Jährige ist von Geburt an blind. Trotzdem hat sie schon eine beachtliche Karriere hinter sich. 2014 bis 2018 war sie Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, zuvor mehrfache Paralympics-Siegerin im Biathlon und Skilanglauf. Auch ihre neue Position im Behindertenrat geht sie sportlich an:
"Also erstmal weiß ich: Das ist eine sehr große Aufgabe, weil einerseits die Themen vielfältig sind, und andererseits natürlich auch sehr viele Verbände unter einen Hut gebracht werden müssen. Und diese zwei Herausforderungen, die nehmen wir sehr gerne an und natürlich auch mit sehr kompetenten KollegInnen, die hier im VdK schon lange das Thema Inklusion betreuen, deswegen ist mir überhaupt nicht bange und ich freue mich auf die Aufgabe."
Gremium mit bundesweitem Einfluss
Das Renommee des Behindertenrates ist gemischt. Jens Beeck etwa äußert sich sehr positiv. Er gehört der Bundestagsfraktion der FDP an und ist deren Sprecher für Teilhabepolitik:
"Der Deutsche Behindertenrat vertritt ja über 2,5 Millionen Betroffene aus allen Bereichen und ist für mich einer der wichtigsten Impulsgeber, die es hier in Berlin gibt. Ich schätze die Arbeit des Deutschen Behindertenrates außerordentlich."
Auch Raul Krauthausen schätzt den Deutschen Behindertenrat. Der Rollstuhlfahrer und Inklusionsaktivist sieht ihn als Mitstreiter und lautstarke Interessenvertretung, etwa im Kampf gegen die obligatorische Heimunterbringung von beatmeten Menschen:
"Sonst ist es oft so, dass die Rechte behinderter Menschen auf Bundesland-Ebene verhandelt werden oder aber in bestimmten Behinderungsgruppierungen. Das ist oft nicht zielführend, weil die Interessen auch bundesweit, auch behinderungsübergreifend oft die gleichen sind."
Wenig Hilfe im Alltag?
Auch Peter Sdorra, Richter am Kammergericht Berlin, lobt den Behindertenrat, obwohl er einräumt, dass es noch keinen persönlichen Kontakt gab. Sdorra ist selbst geh- und sehbehindert, sowie "Hauptvertrauensperson der schwerbehinderten Richterinnen und Richter des Landes Berlin":
"Wir hatten jetzt gerade im Zusammenhang mit den Reformbemühungen rund um die Versorgungsmedizin-Verordnung die Stellungnahme des Behindertenrates, der glücklicherweise das Ministerium doch offenbar nachdenklich gemacht hat, nicht einfach an seinen doch sehr strikten Vorgaben festzuhalten."
Problematisch sei vor allem die Festlegung des Grades der Behinderung und die Hilfsmittelausstattung.
Eine ganz andere Position bezieht Andreas Wohsmann. Er beurteilt den Behindertenrat sehr distanziert. Wohsmann ist Leiter einer Einrichtung mit Wohnungen für geistig behinderte Menschen bei der Caritas in Berlin:
"Im Alltag spielt er tatsächlich keine Rolle. Auch wenn ich mir vorstellen würde, dass er – wenn er mehr Gewichtung hätte – eine ganze Menge auch für das Klientel letztendlich bewirken könnte. Aber meine Erfahrung ist, dass ich ihn a vom Namen nur kenne und b tatsächlich keine inhaltlichen Dinge so für meinen Alltag jedenfalls runterbrechen kann."
Interessen der Mitglieder teils unterschiedlich
Nach seiner Einschätzung hat der Rat wenig Einfluß. Zumal: Viele wichtige große Vereine seien kein Mitglied dort, betont Wohsmann. Auch der Caritas-Verband nicht. Oder die AWO oder das Diakonische Werk. Die Zusammensetzung des Behindertenrates sieht auch Raul Krauthausen skeptisch, aus ganz anderen Gründen:
"Dass Wohlfahrtsorganisationen zusammen mit Selbstvertretungsorganisationen in einem Rat sitzen, und die oft diametrale Interessen haben. Was für Interessen vertritt zum Beispiel die Wohlfahrt? Ausgelastete Heime, ausgelastete Behindertenwerkstätten, was diametral gegenüber steht: selbstbestimmtes Wohnen und einen Job im allgemeinen Arbeitsmarkt."
Verena Bentele betont dagegen, alle Mitgliederstimmen im Rat zählten gleich - egal, ob von einer kleinen Selbsthilfegruppe oder von einem großen Verband. Man arbeite stets am Konsens. Der Rat als eine starke Stimme für die gemeinsamen Interessen aller sei das Ziel.
Auch wenn der Deutsche Behindertenrat in Fachkreisen also teilweise großes Renommee genießt: Vielen Betroffenen ist er mitunter gar nicht bekannt.
Mehr Barrierefreiheit, mehr Geld, bessere Mobilität
Die Chance, dass sich das mit Verena Bentele an der Spitze des Deutschen Behindertenrates ändert, ist groß. Denn sie ist redegewandt, wenn nötig auch fordernd oder diplomatisch und auf dem politischen Parkett erfahren. Auf ihrem Erledigungszettel stehen große gemeinsame Probleme ganz oben. Etwa mehr Barrierefreiheit im privaten Bereich.
"Ich meine, es muss eine Verpflichtung geben für private Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Herstellung von Barrierefreiheit. Wenn wir zum Beispiel davon ausgehen, dass wir in der Gesundheitsversorgung bis zu knapp 80 Prozent der Hausarztpraxen haben, die nicht barrierefrei sind – und bei anderen Arztgruppen sieht es noch schlechter aus zum Teil, da muss ich einfach sagen: Da braucht es dringend wirklich eine Verpflichtung für die Barrierefreiheit, weil allein auf Freiwilligkeit abzustellen, das Thema eben nicht schnell genug voran bringt."
Auch die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes hat sie im Visier. Zum Beispiel Bestrebungen der Bundesländer, den Kreis der Leistungsberechtigten einzuschränken. Außerdem geht es ihr um die Mobilität, zumal im ländlichen Bereich. Und Bentele will steuerpolitisch etwas erreichen:
"Seit 1974 ist der Pauschbetrag für Menschen mit Behinderung gleich geblieben, da ist noch nicht mal der Inflationsausgleich erfolgt."
Unterstützung durch den VdK
Ein Trumpf wird sein, dass sie den mächtigen Sozialverband VdK im Rücken hat. Denn ihre Organisation – ursprünglich für die Interessenvertretung Kriegsbeschädigter gegründet - hat inzwischen an die zwei Millionen Mitglieder und setzt sich seit Jahrzehnten für Behinderte ein, für Pflegebedürftige und Rentner. Dieser Erfahrungsschatz werde ihr helfen, sagt Bentele selbst. FDP-Politiker Beeck formuliert es so:
"Natürlich wird ihre Stimme gehört werden."
Fragt man Betroffene, wofür Bentele ihre Stimme erheben soll, so fallen viele Forderungen, die sie schon längst auf der Agenda hat. Barrierefreiheit etwa. Selbstbestimmung. Die hat auch Richter Peter Sdorra als primäres Anliegen:
"Ein selbstbestimmtes freies Leben – auch als Behinderte: Das ist das A und O. Denn wir erleben es vielfach, dass wir ja leider bevormundet werden."
Betroffene fordern mehr Selbstbestimmung
Raul Krauthausen appelliert an Verena Bentele wachsam zu sein, wenn vermeintlich gute Gesetze eigentlich ökonomische Einsparungen intendierten, wie etwa das Bundesteilhabegesetz. Außerdem verweist er auf den ersten Arbeitsmarkt:
"Dass es nicht sein darf, dass immer noch Menschen mit Behinderung gegen ihren Willen in Werkstätten für weniger als Mindestlohn arbeiten, dass Unternehmen vielleicht auch mehr in die Verpflichtung genommen werden sollten bei der Beschäftigung von behinderten Menschen, also: Erfüllung ihrer Quote!"
Somit wird das 20 Jahre alte Aktionsbündnis auch heute noch an seinen ursprünglichen Zielen arbeiten: Menschenrechte für Behinderte verwirklichen und für ihre Gleichstellung in der Gesellschaft sorgen.