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Deutscher Rodin

Der Sachse Max Klinger war trotz seiner von den Zeitgenossen gefeierten Erfolge als Maler, Dekorateur und Bildhauer vor allem ein Meister der Griffelkunst. Er vereinte darin all jene sehr subjektiven künstlerischen Techniken des Schreibens, Kritzelns und Zeichnens, zu denen man Griffel, also Stifte, Feder oder Radiernadel, benutzt. Auf der Höhe seines Ruhmes in der Gründerzeit zählte er zu den höchst geschätzten Künstlern in Deutschland.

Von Rainer Berthold Schossig | 18.02.2007
    Eine Femme Fatale, eine "Neue Salome" bewegte die deutsche Kunstszene um 1893, berückend erotisch, aber kühl bis ans Herz: Kopf, Brust und Hände aus pentelischem Marmor, das lasziv geöffnete Gewand aus hymettischem Marmor, darunter lugen zwei männliche Opfer hervor: ein Greis aus toskanischem und ein Jüngling aus carrarischem Marmor. Die merkwürdig müden und zugleich verruchten Augen der "Neuen Salome" waren aus gelbem Bernstein. Der Schöpfer dieser unerhörten Skulptur galt als deutscher Rodin. Es war Max Klinger, einer der Kaisers Zeiten berühmtesten deutschen Künstler.

    Klinger entwickelte seine Bildhauer-Ästhetik aus den damals neuesten archäologischen Erkenntnissen: Man hatte gerade entdeckt, dass die antiken Skulpturen ursprünglich nicht einfach weiß, sondern vielfarbig und aus verschiedenen Materialien waren. Dem gab Klinger nun aufs Pompöseste aktuellen Ausdruck, mit farbig aufgebrezelten Kassandra-Statuen, wilden Amphitriten und Mänaden, zugleich entstanden ein langmähniger, finster dreinschauender Franz Liszt und eine Nietzsche-Büste mit martialisch gesträubtem Schnauzbart.

    Den triumphalen Schlussakkord aber bildet Klingers legendäre Beethoven-Skulptur von 1902: Der halbnackte Titan thront, die geballte Faust auf leger übergeschlagenen Beinen, in einem Ohrensessel aus wild wogendem Marmelstein und blickt - von einem lockigen Adler bewacht - ins Leere des Leipziger Universums. Der Materialaufwand des Monumentalwerks ist ins Gigantische gesteigert: Neben vielfarbigem Marmor Bronze und Alabaster, Bernstein und Achat, Jaspis, Perlmutt und Goldfolie.

    Max Klingers Weg hinauf zu solchen Sturmhöhen skulptural inszenierter Beethoven-Gedächtnis-Kultur war weit: 1857 als Sohn eines Seifensieders in Plagwitz bei Leipzig geboren, besuchte er zielstrebig zunächst die Kunstschule in Karlsruhe und danach die Kunstakademie Berlin. Hier wurde der preußische Griffelkünstler Adolph Menzel sein großes Vorbild. Denn Neigung und Begabung Klingers liegen weniger im Skulpturalen oder Malerischen, sondern in der Zeichnung:

    "Die Zeichnung steht in einem freieren Verhältnis zur darstellbaren Welt. Sie lässt der Phantasie den weiten Spielraum, das Dargestellte farbig zu ergänzen, sie kann die nicht unmittelbar zur Hauptsache gehörigen Formen, ja diese selbst, mit derartiger Freiheit behandeln, dass auch hier die Phantasie ergänzen muss. Der hervorragendste Charakterzug der Zeichnung aber: Die starke Subjektivität des Künstlers. Es ist seine Welt und seine Anschauung, die er darstellt, es sind seine persönlichen Bewerkungen zu den Vorgängen um ihn und in ihm","

    so schrieb Max Klinger in den 1890er Jahren. Er hatte sich damals gerade als Malerfürst in Leipzig niedergelassen. Die Ausstellung seines Monumental-Gemäldes einer "Kreuzigung" in Dresden löste einen Skandal aus: Klinger hatte den leidenden Christus völlig nackt dargestellt. Doch der sächsische Maler, Radierer und Bildhauer liebte das Aufsehen nicht. Zunehmend zurückgezogen arbeitete er in seiner Künstlervilla in Plagwitz zäh am Zentrum seines Werkes: "Die grafischen Zyklen". Hier, mit der präzise kratzenden Radiernadel, schuf er einen ganzen Kosmos von fantastischen, philosophisch ausholenden oder sozialkritisch Stellung nehmenden Bilderfolgen. Vor allem aber faszinierte ihn als Bildenden Künstler die Musik im Sinne Nietzsches: "Musik umspielt die Küste der Gedanken":

    Der Zyklus der "Brahms-Phantasien", den Klinger dem Komponisten widmete, ist eines von Klingers typischen Werken: Sie vermischt Klassik mit Aktualität, die Sirenenlegende des Odysseus mit dem Musik-Salon des Fin de Siècle. Herkules und Prometheus am Kaukasus, eine Harfe spielende am Odaliske musiziert mit einem schwarzbefrackten Pianisten am Ostseestrand. Hohe Töne und tiefe Gefühle vermischen sich zu surrealen Szenen zwischen musikalischer, ästhetischer und spiritueller Erlösung des der Zivilisation entrückten modernen Menschen. Hier ist Klingers Künstlerbegriff dem der deutschen Expressionisten, die wenig später der Kunst eine ganz andere Richtung geben sollten verblüffend nahe:

    ""Zu empfinden, was er sieht, zu geben, was er empfindet, macht das Leben des Künstlers aus. Sollten denn nun, an das Schöne gebunden durch Form und Farbe, in ihm die mächtigen Eindrücke stumm bleiben, mit denen die dunkle Seite des Lebens ihn überflutet, vor denen er auch nach Hilfe sucht?"

    Schon vor dem Krieg wird es stiller um Klinger. Er vergräbt sich immer mehr in der grafischen Produktion. Seine Radierzyklen, zunehmend entrückte, symbolistische Märchen, umkreisen die Themen Glück und Sehnsucht, Liebe und Tod. Am 4. Juli 1920 stirbt Max Klinger in Großjena bei Naumburg.