Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Deutsches Hygienemuseum
Die Vielfalt der Einwanderergesellschaft

Das neue Deutschland - so heißt eine neue Ausstellung im Deutschen Hygienemuseum in Dresden. Sie will die Lebensgeschichte sogenannter Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Motive, nach Deutschland zu kommen, beleuchten. Außerdem stellt sie sich der Frage, wie sie unsere Gesellschaft verändert haben.

Von Bettina Mittelstrass | 13.03.2014
    - "Ich habe selber nie gedacht, dass ich in Dresden bleiben und wohnen werde ..."
    - "Das Wetter war für mich sehr schrecklich. Es war sehr, sehr kalt ..."
    - "Heimweh hab ich nie gehabt, weil ..."
    Es sind Dresdner, die hier in einer Videoinstallation im Deutschen Hygienemuseum aus ihrem Leben in Deutschland erzählen - von ihren Bedürfnissen und Sehnsüchten, von ihren Gründen für das Verlassen von etwas, das sie Heimat nennen oder auch nicht, von ihren Zielen, Hoffnungen, Wünschen und von ihrem Alltag.
    "Unsere Ausstellung geht von einer 'Wir'-Perspektive aus. Ich denke schon, weil ich sehr viele Ausstellungen mir angeschaut habe zum Phänomen Migration, dass sehr viele, vielleicht auch die meisten Ausstellungen immer noch aus einer Dichotomie Migration betrachten. Sie sagen immer und sehen immer: Wir und die anderen. Und ich glaube, dass aus dieser Betrachtungsweise immer noch so eine Art, ich will das mal so formulieren 'Kampfesgetümmel' entsteht. Deswegen haben wir uns - das war ein Prozess - sehr bewusst dafür entschieden, zu sagen: Menschen mit und ohne Migrationshintergrund - inzwischen finde ich den Begriff mit und ohne Zuwanderungsgeschichte sehr viel schöner und präziser -, dass diese Menschen gemeinsam das neue Deutschland ausmachen und auch gemeinsam das neue Deutschland gestalten werden."
    Sehnsuchtsorte für alle
    Gisela Staupe ist stellvertretende Direktorin des Deutschen Hygienemuseums und hat die Ausstellung "Das neue Deutschland - von Migration und Vielfalt" kuratiert. In das "neue Deutschland" schreitet man durch ein Portal und trifft zunächst auf gestapelte Kisten - Transportkisten und Obstkisten, Kisten für Kunstgegenstände bilden die Silhouette einer Großstadt. An den hohen Türmen flimmern Bildschirme - statt Reklame zeigen sie Ströme aus Menschen und Waren. Alles in Bewegung, auf Wanderschaft. Aus türkisch-griechisch-deutschen Milch- und Joghurtverpackungen gebaut hier eine Moschee, dort der Eifelturm aus Döschen, etwas weiter weg die Freiheitsstatue in New York. Sehnsuchtsorte für alle.
    "Das Bild der Stadt ist Metapher für Gesellschaft. Und wie wir alle wissen wird in der Stadt sehr intensiv und auch sehr konfliktreich debattiert über die Frage: Wie wollen wir leben? Über diese Frage wird verhandelt auf dem Markt, in einem Gotteshaus, auch in einem Archiv und der Politik. Insofern ist die Stadt für uns auch konzeptionell wichtig und gestalterisch wichtig. Wir können also tatsächlich als Besucher durch eine urbane Topografie gehen."
    Künstlerisch gestaltet von raumlabor Berlin geht man von Raum zu Raum an Gebäuden aus Kisten vorüber oder hinein, findet überall Winkel und Details, Informationen fürs Auge - Zahlen, Zettel, Bilder - und hört Geschichten der Stadtbewohner - an Audiostationen oder vor Videowänden.
    "Deutlich werden soll, dass wir im Prinzip in einer Stadt verhandeln müssen, wie möglicherweise die Regeln sein könnten, wenn Alt und Neu oder Sesshafte und Mobile oder Menschen, die hier schon wohnen und Menschen, die noch kommen und kommen werden also miteinander leben werden. Also insofern ist die Stadt die Bühne, auf der verhandelt wird."
    Dieses städtische "Wir" der Ausstellung zeigt wie normal und nicht normal zugleich das Thema Migration ist. Schaut man in die Geschichte, sind Wanderungsbewegungen von Menschen der Normalfall. Jedes Kind wächst wie selbstverständlich mit dem Märchen auf, von einem, der auszog, sein Glück zu suchen.
    "Dass Migration immer Normalität war, ist klar. Aber es hat unterschiedliche Phasen der Kontrolle gegeben, unterschiedliche Phasen, wie man mit Migranten umgeht. Und im 19. Jahrhundert sind beispielsweise - also im langen 19. Jahrhundert von 1815 bis 1914, - 82 Millionen Menschen unterwegs gewesen, freiwillig. Da ist kein Sklavenhandel dabei, kein Sklavenmarkt dabei, freiwillig. Und das ist eine viel, viel größere Zahl als wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg haben. Und trotzdem ist die Debatte medial viel, viel stärker als damals."
    Unterschiedliche Phasen im Umgang mit Migration
    Es wird mit stärkeren Bandagen verhandelt bis hin zu Thilo Sarrazins provokanter Behauptung, Deutschland, die deutsche Nation, schaffe sich ab durch Zuwanderung.
    "Also die Migrations-Integrations-Theorien, die setzten eigentlich erst dann an, als es zu stärkeren Nationenbildung kommt. Also mit der Preußischen Regierung 1871 da kommt die Nationenvorstellung viel stärker auf, da wird erstmals viel stärker über Fremde debattiert."
    Aushandlungsprozesse finden unter sehr spezifischen Bedingungen statt, sagt der Germanist und Literaturwissenschaftler Özkan Ezli, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster "Kulturelle Grundlagen von Integration" der Universität Konstanz. Seit dem Zweiten Weltkrieg lassen sich mehrere unterschiedliche Phasen im Umgang mit Migration sehr gut an den Begriffen ablesen, mit denen Debatten geführt - oder nicht geführt - wurden: Mal geht es um Ausländer, dann Arbeitsmigranten, um Multikultur, Menschen mit Migrationshintergrund, Zuwanderung, Einwanderung und immer wieder Integration.
    "Man will eigentlich in der Politik, also ich weiß es auf kommunaler Ebene, eigentlich gar nicht mehr so sehr von Integration sprechen, weil man da noch von nationalen Einheiten ausgeht: Es gibt nationale Einheiten und der Begriff der Integration im klassischen Sinn hat die Definition, dass etwas wieder hergestellt werden soll, etwas Ganzes. Das heißt, irgendwas ist verloren gegangen und es muss durch politische und ökonomische Prozesse wieder hergestellt werden. Auf kommunaler Ebene setzt man dann viel mehr auf die Begriffe Inklusion. Interkultur ist ein ganz gängiger Begriff, der da arbeitet, um überhaupt sozusagen Programme zum Laufen zu bringen, weil es ja jetzt mittlerweile Geld gibt für Integrationsförderprogramme."
    Der Wandel der Begriffe oder ihrer Bedeutungen und Verwendung verweist auf den Wandel der Gesellschaft, in der Migration stattfindet, meint Özkan Ezli, der die Ausstellung in Dresden wissenschaftlich begleitet hat. Das von ihm und Gisela Staupe herausgegebene Lesebuch zur Ausstellung greift dazu viele Begriffe auf - eine sehr lesenswerte Sammlung von rund 60 Artikeln. Um Integration zum Beispiel geht es in Deutschland heute in ganz anderen Zusammenhängen: Integration in die Europäische Union, in globale Wirtschaftsräume oder Außenpolitik und vieles mehr.
    "Man macht eigentlich einen großen Fehler, indem man sich nur auf die Migranten mit dieser Frage fokussiert. Das ist natürlich auch die Aussage der Ausstellung - dass diese Migrationsgesellschaft, diese Bewegungsgesellschaft zugleich eben Einwanderungsgesellschaft, dass die halt jeden betrifft."
    Ein Leben im Transit
    Verständnis für die Diversität von heute kann entstehen, indem man auch zurückblickt und sich Prozesse und Bedingungen von Migration in Deutschland noch mal vor Augen führt, sagt Özkan Ezli.
    "In den 70er-Jahren gibt es einen ganz prominenten Text eines deutsch-türkischen Autors, Aras Ören. Der Text heißt: Was will Niyazi in der Naunynstraße in Berlin? Was will er da, der Niyazi, der aus der Türkei gekommen ist? Und die Antwort ist: Wir wollten Amerikaner werden. Und heute haben wir es mit deutschen Muslimen zu tun, neue Deutsche. Und mich interessiert dann die Frage, wie ist dieser Impuls der 70er, wo die einfach alle eigentlich nur Westler werden wollten - auch die Deutschen übrigens, denn 60er-Jahre ist die Politik der Westintegration in Deutschland, da gab es dieses Nationalbewusstsein in dem Sinne gar nicht, erst in den 80er-Jahren kommt überhaupt diese nationale deutsche Frage noch mal verstärkt auf in Deutschland - also wenn die Ähnlichkeit damals recht stark war zwischen Migranten und Deutschen, die alle irgendwie Amerikaner werden wollten, was ist dann passiert, wenn heute die Migranten Muslime sein wollen und die Deutschen wieder Deutsch sein wollen?"
    Eine Antwort ist: Vor allem Türken in Deutschland hatten sehr lange keinen Ort. Sie lebten immer irgendwie im Transit.
    "Wenn Sie sich die ganzen Bilder der 1960er- und 70er-Jahre anschauen - das sind immer Transitorte, die gezeigt werden. Es ist der Bahnhof, es ist irgendeine Kneipe, es sind Kebab Stuben, es sind nicht Räume, wo man lange bleibt, auf Dauer, es sind immer auf Kurzzeit gestellte Räume. Und als dann viele auch zurückgekehrt sind - es gab ja dann auch eine große Rückkehr in die Türkei - da war das dann so, dass die aber auch nicht zurück ankommen konnten. Weil da sich diese Gesellschaft auch schon wieder stark verändert hat, die Herkunftsgesellschaft. Und das ist ein sehr spannender Prozess, wo dann eine gewisse Ortlosigkeit auch entsteht. Und da entstehen neue Narrative, neue Selbstbestimmungen. Da hat die Religion irgendwie einen Anker dargestellt, weil sie ja keinen Ort hat in dem Sinn. Ich denke, wenn man solche Prozesse beschreibt, dann wird einem die Komplexität, aber auch die Labilität kommt einem sehr klar zu Bewusstsein."
    Beklemmende physische Sackgasse
    In der Ausstellung gelingt das sehr nachdrücklich, wenn man als Besucher durch eine Flughafenkontrollstation in einen Transitraum gelangt. Neben Bildern von ankommenden Menschen, die sich begrüßen, führt der Weg auch in die Wartehalle, wo man sich über Flüchtlingsbewegungen und Asylverfahren informieren kann -
    - Das Leben in Serbien ist schrecklich.
    - Ich wurde bedroht und ich musste mehrmals meinen Wohnort wechseln.
    - Ich habe kein Geld für mich und mein Kind.
    - oft eine Sackgasse für unfreiwillige Migranten, Asylsuchende, die dort ihre Geschichten erzählen, eine beklemmende physische Sackgasse auch für die Museumsbesucher.
    Viele Fragen stellen sich - und das soll auch so sein. Im vierten Raum kann man einfach nur sitzen und über Fragen an den Wänden nachdenken, die für alle Menschen gelten: Was verstehen Sie unter Glück? Kommen Sie mir sich allein zurecht? Worauf warten Sie?