Dienstag, 16. April 2024

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Deutschland muss nachsitzen

Der neue OECD-Jahresbericht zur Bildung bescheinigt Deutschland Nachholbedarf. Laut Andreas Schleicher, Hauptautor der Studie, gibt es deutliche Schwachpunkte im Bereich der Spitzenqualifikation und beim Thema lebenslanges Lernen. Die Beteiligung an Weiterbildungsmaßnahmen sei in Deutschland unterdurchschnittlich, weil oftmals die Anreize fehlten, sagte Schleicher.

Moderation: Elke Durak | 12.09.2006
    Elke Durak: Wir wollen uns jetzt mit Bildung beschäftigen, aber eher mit Aus- und Weiterbildung, denn die OECD stellt heute ihren Jahresbericht 2006 "Bildung auf einen Blick" vor. Darin wird dargestellt, wie die OECD-Länder bis Ende 2004 - das ist wohl der Untersuchungszeitraum - die Bildung Hochqualifizierter und auch die Weiterbildung Älterer den jeweiligen Erfordernissen angepasst haben. Das sind zwei Schwerpunkte. Wenn es um Deutschland und Bildungsstudien aus dem Ausland geht, dann schlagen manche die Hände über dem Kopf zusammen aus Erfahrung. Andreas Schleicher hat uns diese Erfahrungen immer beigebracht, Pisa-Experte der OECD, Bildungsexperte dort und Hauptautor der neuen Studie. Guten Morgen Herr Schleicher!

    Andreas Schleicher: Guten Morgen Frau Durak!

    Durak: Gibt es nun eine weitere deutsche sozusagen Pisa-Bilanz, diesmal bei den Erwachsenen? Wie schneiden wir ab?

    Schleicher: Zunächst einmal sehen wir im internationalen Vergleich einen fast unglaublichen Aus- und Umbau der Bildungssysteme. Dort ist die Bildungsbeteiligung deutlich gestiegen. Es wird mehr in Bildung investiert. Bildungssysteme sind flexibler, individueller geworden. Hinter dieser Dynamik bleibt Deutschland leider noch sehr, sehr weit zurück.

    Durak: In welchen Bereichen konkret?

    Schleicher: Vor allem im Bereich der Spitzenqualifikation. Da hat sich die Welt am meisten verändert. Da ist auch die Nachfrage nach Qualifikation am stärksten gestiegen, während Deutschland dort noch nicht die Antworten gefunden hat. Auf der anderen Seite bei der Weiterbildung. Heute ist lebensbegleitendes Lernen das Schlüsselthema und es geht wirklich darum, wie der Einzelne die Möglichkeiten findet, seinen Horizont ständig auszubauen. Auch dort sind deutliche Schwachpunkte zu sehen.

    Durak: Lassen Sie uns über die Älteren reden. Geht man nach den politischen Vorgaben, dann sollen sie ja länger im Beruf sein, auf jeden Fall aber länger arbeiten, ob in Teilzeit oder irgendwie anders. Was wird ihnen an Weiterbildung dafür hier in Deutschland geboten?

    Schleicher: Zunächst einmal sehen wir, dass Beteiligungsraten insgesamt in Deutschland noch unterdurchschnittlich sind. Wir stehen noch weit hinter den Beteiligungsraten zum Beispiel in Finnland oder Schweden zurück. Das Entscheidende ist aber, dass die, die es am meisten brauchen, also zum Beispiel ältere Arbeitnehmer, Arbeitslose oder Menschen mit ungünstigerer Erstausbildung, daran wenig teilnehmen. Sie haben nur einen sehr, sehr kleinen Teil von Menschen oder Sekundar-II-Abschluss, die regelmäßig an der Weiterbildung teilnehmen. Dort ist das Angebot zu gering, ist aber auch noch schlecht angepasst an den Bedarf.

    Durak: Wie könnte man es besser machen? Schauen wir über die Landesgrenzen hinaus.

    Schleicher: Wenn Sie in die nordischen Staaten schauen, in die USA auch, Kanada. Dort gibt es ein anderes System von Anreizen, wo das Unternehmen, aber auch der Staat gezielt nachfragt, was die einzelnen Qualifikationen sind und auch entsprechende Anreize für den Einzelnen setzt, seinen Horizont beständig auszubauen. Da muss man ansetzen. Das Angebot selber in Deutschland ist gar nicht schlecht. Es ist nur so, dass viele Menschen aus dem Bildungssystem schlechte Erfahrungen gezogen haben, gerade im Schulbereich, und es schwer ist, diese Menschen, gerade die es am meisten brauchen, für das Bildungssystem später noch zu gewinnen.

    Durak: Anreize hätte ich gerne noch gewusst und ist das zweitens auch eine Mentalitäts-, also eine Einstellungsfrage bei den Leuten selbst?

    Schleicher: Ja gut, die Einstellungsfrage wird auch viel durch das Bildungssystem selbst beeinflusst. Weiterbildung ist zuerst einmal in den Gedanken der Menschen mit Schule verknüpft. Wenn wir in die nordischen Staaten schauen in Europa, Japan, USA, dann sehen wir, dass Weiterbildung Selbstverständlichkeit werden kann, in den Unternehmen selber stattfindet, nicht ausschließlich in schulähnlichen Einrichtungen. Dort gibt es ein ganz anderes Umfeld, wo Lernen selbstverständlich ist, wo es dem Einzelnen im Grunde auch verpflichtend ist, sich daran zu beteiligen. Das ist nicht der Bildungsurlaub im klassischen Sinne, sondern wirklich die Weiterbildung am täglichen Arbeitsplatz.

    Durak: Und die Anreize? Welche sind damit gemeint?

    Schleicher: Die Anreize beziehen sich auf Karriereperspektiven, teilweise auch finanzieller Art, insbesondere bei den Geringqualifizierten, dass man dort wirklich ansetzt, denn man muss sich überlegen: Alles was man an Investitionen hier nicht tätigt, steckt man später an Sozialausgaben doppelt und dreifach hinein. Das ist im Grunde auch das entscheidende Thema dieser Publikation. Wir sehen, dass die Erträge von Bildung deutlich gestiegen sind: sowohl die persönlichen Erträge, das was der Einzelne in Form von höherem Gehalt bekommt, aber auch der Einfluss aus Wirtschaftswachstum. Wir sehen also: heute hat Bildung einen ganz entscheidenden Einfluss auf Zukunftsfähigkeit des Einzelnen und der Gesellschaft und dort muss man ansetzen. Man muss also die Investitionen in Bildung stärker abstimmen mit den Erträgen.

    Durak: Da sind wir wieder beim Föderalismusproblem. Das ist ein weites Feld, Herr Schleicher. Das wollen wir jetzt nicht mehr betreten. - Wenn wir unter dem Strich sagen, Deutschland setzen, fünf, Nachsitzen. Ist das zu scharf formuliert?

    Schleicher: Es hat sich ja einiges bewegt. Vieles an Reformen ist in Gang gebracht. Ich glaube das wird auch hier positiv dann bei der Bewertung herauskommen. Es ist nur so, dass dieses Reformtempo weit hinter dem zurück bleibt, was international heute vorgelegt wird. Man sieht eigentlich eher den Abstand zu den führenden Bildungsnationen größer werden. Man sieht, wenn man jetzt die Gehaltsstrukturen anschaut, dass die Menschen, die gut ausgebildet sind, immer besser dastehen und diejenigen, die am Übergang in die Wissensgesellschaft scheitern, schlechter sind. Die entscheidende Frage ist heute nicht mehr, wie man ein Bildungssystem, das im Wesentlichen im 19. Jahrhundert konzipiert wurde, noch ein bisschen weiter optimiert, sondern die entscheidende Frage ist, wie man wirklich kreative Antworten auf die völlig neuen Anforderungen der Wissensgesellschaft findet.

    Durak: Dies ins Klassenbuch der Großen Koalition geschrieben von Andreas Schleicher, dem OECD-Bildungsexperten und Hauptautor der Studie "Bildung auf einen Blick", die die OECD heute Vormittag vorstellen wird. Danke Herr Schleicher für das Gespräch.

    Schleicher: Herzlichen Dank!