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Deutschland, Türkei - und zurück

40.000 Menschen verabschieden sich jedes Jahr aus Deutschland und gehen in die Türkei. Deutlich mehr als von dort kommen. Zu den Auswanderern zählen vor allem gut integrierte junge Leute aus der türkischen Community. Unsere alternde Volkswirtschaft verliert so kostbare Fachkräfte.

Von Susanne Betz | 16.11.2012
    Dilara Sahir*: "Also hier ist es so, wenn es irgendwelche Veranstaltungen gibt im engeren Kreis, dann finden die hier statt. Kleiner Raum mit ganz vielen Stühlen. Hier hinten, weiß ich noch, gibt es irgendwo noch eine Küche, da wird dann eben gekocht, gerade an Ramadan ist es meistens so, dass sich drei, vier Familien zusammentun, zusammen kochen und dann wirklich alle einladen."

    Dilara Sahir, 20 Jahre, gebürtige Stuttgarterin, grazil und mit hochgesteckten Locken, findet es komisch, dass die Reporterin schon in Moscheen in Kairo und Istanbul war, aber noch nie in einer deutschen. Die von Stuttgart-Feuerbach ist ein flacher, pistaziengrün gestrichener Zweckbau. Supermarkt, Reisebüro und Telefonladen gehören dazu. Die Tür zum Friseur steht offen. Männer sitzen davor, trinken Tee und warten, bis sie dran sind. Sie machen Small-Talk mit Dilara Sahirs Freund Cihan Sügür. Der 22-Jährige stammt aus Dortmund.

    Cihan Sügür: "Die ganzen Leute, die kennen sich, die grüßen sich. Aber wenn ich dann hier hin komme, setze ich mich zum Gebet dann einfach rein, und dann guckt mich ein alter Opa an und sagt, hey mein Sohn, Du bist nicht von hier. Und dann kommen wir ins Gespräch."

    Schnell ins Gespräch kommt auch Dilara Sahir im Gebetsraum der Frauen. Wo liegt der Herkunftsort ihrer Familie? Tatsächlich, Sinop am Schwarzen Meer, von dort kommt auch ein Schwager. Die vier Frauen, die auf dem bunten Teppichboden kauern, stecken in weiten Mänteln und haben ihr Haar verhüllt. Dilara Sahir aber trägt Plateauschuhe und ihre langen Beine enden in knappen himmelblauen Shorts. Der Kontrast könnte nicht größer sein zu den kaum deutsch sprechenden Frauen ihrer Moscheegemeinde. Dilara Sahir studiert Jura, ihr Freund Wirtschaftsinformatik in einem dualen Studium bei IBM Deutschland. Die beiden gehören zu den Aufsteigern der türkischen Community, zur jungen, aber stetig wachsenden Bildungselite.

    Cihan Sügür: "Meine Eltern sind stolz wie Oskar. In meinem erweiterten Familienumfeld bin ich der erste, der das Abitur abgeschlossen hat und der jetzt auch das Studium beendet. Warum mache ich das überhaupt? Meine Mutter arbeitet seit 21 Jahren bei Westfleisch in Oer-Erkenschwick jeden Tag acht Stunden am Fließband. Sie steht morgens zur Frühschicht um 3.30 Uhr auf und kommt nach Überstunden um 15 Uhr, 16 Uhr nach Hause. Meine Mutter hat ihr ganzes Leben geschuftet für mich, für meine drei Geschwister. Scheiß auf die ganze Integrationskacke, so was ist mir echt scheißegal. Ich mache es, dass meine Mutter nicht mehr arbeiten muss, darum geht es mir."

    Kein Bock mehr auf Integration. Gerade die Überflieger, die Bildungsaufsteiger, die alles richtig gemacht haben, sind zornig. Wir haben die Moschee von Stuttgart-Feuerbach verlassen und laufen eine laute und staubige Ausfallstraße entlang. Cihan Sügür, im hellen Sakko und mit eckiger Nerdbrille, redet sich in Rage.

    "Wenn jemand Wahlkampf hat und in acht Monaten gewählt werden will, der bedient sich am deutschen Geist, wovor der Deutsche Angst hat. Vor ein paar Jahren war das BSE, war das die Vogelgrippe. Heute ist es der Islamist, der Türke, hochaktuell ist die Beschneidung. Und das geht mir so dermaßen auf den Sack, ich sag jetzt bewusst Sack. Und dann sagen 219 Staaten auf der Welt, ne, für uns ist das kein Problem. Und dann kommt Deutschland daher mit einer ganz eigenen Sichtweise, mit einer ganz eigenen Brille. Verstehen Sie, auf solche Gedanken kommt dann der Türke."

    Seine Freundin Merve, die Jurastudentin nickt. Es widere sie an, dass sie immer wieder in eine Schublade mit Döner-Klischees über die Türken gesteckt werde:
    "Er schreit gern rum, schlägt seine Frau, die Frau hat ein Kopftuch, hat bestimmt zu Hause auch noch fünf Kinder, die alle auf die Hauptschule gehen und nebenbei auch noch irgendwelche Drogen verticken und sich prügeln. Die Töchter werden unterdrückt."

    Dilara Sahir spielt gern mit Klischees. Das gehört zu ihrer Identität als Deutschtürkin. Ihre Kultur, sagt sie, sei neu, weder türkisch noch deutsch. Denkschablonen gibt es reichlich im Verhältnis von Türken und Deutschen. Klischees im Kopf hätten auch seine Eltern, spottet Cihan Sügür, Klischees von drüben. Die Türkei der 70er-Jahre würde verklärt. Auch das nervt ihn.

    Das Taxi hält in der Stuttgarter Innenstadt vor dem "Charisma". Drinnen ist es großstädtisch cool. Die Speisekarte verspricht "türkisch-schwäbisch-italienisches Food". Cihan Sügür entdeckt Marc, einen seiner besten Freunde, und umarmt ihn. Er hat viele deutsche Freunde. Aber dass er bald abwandert, hat Cihan, der einen deutschen Pass besitzt, längst entschieden. Wobei es nicht unbedingt in die Türkei sein muss. Mit seiner Intelligenz, seiner Ausbildung kann er überall hin. Die eigentliche Entscheidung des jungen Mannes heißt: weg aus Deutschland.

    "Warum? Ja, dass ich hier weg will. Wir reden hier von Tagespolitik. Am 29. Juli 2012 wurde ein weiterer Brandanschlag auf eine türkische Familie in Bremen verübt. Sie haben gerufen, scheiß Ausländer raus aus Deutschland. Die NSU-Morde haben von 2000 bis 2006 stattgefunden. In Dortmund an der Mallinckrodstraße wurde ein türkischer Kioskbesitzer umgebracht. Wow krass, was ist denn da los? Die Mafia geht rum und so was. Wer hätte denn da gedacht, dass der nationalsozialistische Untergrund, irgendwelche braunen Flecken in Deutschland, das verübt haben. Das alles passiert in Deutschland, das ist wahr und da ist es doch ein natürlicher Instinkt von mir, dass ich hier weg will. Es ist ein natürlicher Instinkt für Sicherheit. Der Türke kann heute nicht sagen, dass er sich in Deutschland sicher fühlt."

    Um uns herum sitzen und essen viele jüngere Leute mit türkischem Hintergrund. Es ist ihnen anzusehen, dass sie erfolgreich sind. Von diesen vorbildlich Integrierten, sagt Cihan Sügür, verabschiedeten sich aber viele innerlich von Deutschland.

    "Ganz grausam wird es, wenn herauskommt, dass eine Woche nachdem der Nationalsozialistische Untergrund publik wurde, eine Woche danach eine Aktenschredder-Aktion in den Innenministerien Deutschlands stattgefunden hat. Wie kann das sein? Muss denn nicht jetzt gerade ultrasensibel darauf geachtet werden, bloß nicht einen Fauxpas zu begehen, und im Gegenteil die Leute wieder dazu zu animieren, den Glauben an Deutschland nicht zu verlieren. Weil das findet gerade statt."

    Die Kaffeemaschine im Futureorg Institut am Rand von Dortmund läuft so gut wie immer. Denn die Mitarbeiter des Unternehmens für angewandte Zukunfts– und Organisationsforschung versorgen am laufenden Band Ministerien, die Wirtschaft, Verbände und Hochschulen mit Daten und Trends aus der türkischen Community. Vor sechs Jahren hat der Soziologe Kamuran Sezer das Institut gegründet. Seine sogenannte TASD-Studie brachte als erste heraus, dass die türkischen Bildungseliten in Deutschland neue Wege gehen: entweder in die ethnische Abschottung oder in die Abwanderung. Mit Presseberichten über und zu seiner Studie hat Kamuran Sezer die ganze Wand gegenüber der Kaffeebar dekoriert.

    "'Verprellte Talente', in der 'Zeit' erschienen, dafür extra eine Karikatur gemacht. 'Ich, der Ali' ist ein Artikel, wo halt sehr viele Dortmunder Türken als Fallbeispiele angeführt worden sind. Und das ist gegen Ende der Sarrazin-Debatte, und da habe ich gesagt, das ist aber Blödsinn und auch verzerrend, weil es sind ja nicht nur die Türken, bei denen eine Abwanderungsgefahr oder -absicht besteht. Sondern das können wir bei den Arabern beobachten, Chinesen, Asiaten. Und das ist Emin, der ist tatsächlich ein Abwanderer. Ich hatte noch die Hoffnung, dass er vielleicht zurückkommt und auch im Rahmen von futureorg ein bisschen mitwirken kann. Aber, der hatte wirklich keinen Bock mehr und der hat auch einen Spruch geprägt: 'Schade Deutschland, dann bin isch mal weg'."

    40.000 Menschen verlassen pro Jahr Deutschland und gehen in die Türkei. Deutlich mehr als von dort kommen. Besonders die Bildungselite nimmt Abschied von Almanya. Dieser Braindrain ist fatal. Unsere alternde Volkswirtschaft verliert kostbare Fachkräfte, die türkische Community Meinungsführer und Vorbilder. Außerdem, sagt der selbst erst 33 Jahre alte Unternehmer, brauche Deutschland diese Hochqualifizierten dringend als Beweis ...

    "... dass Sarrazin Unrecht hat. Seine Zahlen machen nur auf den ersten Blick Sinn, weil er die Welt angehalten hat und nur auf eine Momentaufnahme schaut. Aber gerade die Akademiker, die Hochschulstudierenden sind doch der Beweis dafür, dass aus einem Elternhaus, wo kein Deutsch gesprochen wird, wo die Eltern ein geringes Bildungsniveau haben, ein Akademiker hervorgebracht werden kann, und dass dann halt diese Entwicklung innerhalb einer Generation vollzogen werden kann."

    Wenn der Wissenschaftler Sezer auf die NSU-Morde und das Versagen von Polizei und Behörden angesprochen wird, dann verfällt sein rosiges Gesicht in eine merkwürdige Starre. Er müsse das verdrängen, sonst könne er nicht arbeiten, sagt er tonlos.

    "Es hat erschüttert, es war ein großes Erdbeben in den Bäuchen und Herzen der Menschen, dass über Jahre drei Menschen acht türkische Kleinunternehmer umgebracht haben, wo dann auch noch die deutschen Sicherheitsorgane, die für die Sicherheit aller Menschen in Deutschland verantwortlich sind, eigentlich offensichtlich das toleriert haben, zugelassen haben und das macht genau das evident sichtbar, was viele in der türkischen Community immer empfunden haben."

    Für viele sei das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht und die Abwanderung beschleunigt habe.

    Ein weißes Zeltdach leuchtet in der Dortmunder Fußgängerzone: Eine Musikanlage ist aufgebaut. Auf Tischen liegt Informationsmaterial über Gefängnisse in der Türkei. Auch Buket Initschi sammelt Unterschriften. Die junge Frau mit einem kleinen Ring im Nasenflügel und einem Augen-Makeup à la Cleopatra ist auch die erste in ihrer Familie, die studiert. Sie wird Grundschullehrerin.

    "Besonders meine Mutter hat mich immer unterstützt. In Emigrantenfamilien ist das ja so, dass Mädchen halt nicht studieren und zu Hause bleiben und früh heiraten. Aber sie hat halt immer zu mir gesagt, ich habe nicht studiert, ich hoffe, du machst das. Das war dann ein Anreiz für mich, dass ich das durchziehe und meine Mutter stolz auf mich ist."

    Die NSU-Morde? Diskriminierung? Will auch sie abwandern in die Türkei? Klar, meint Buket Initschi und schüttelt ihre schönen langen Haare, manches nerve sie, aber:

    "Als Frau ist es hierauf jeden Fall einfacher als in der Türkei. Auf jeden Fall. Ich habe jetzt Freunde, die früh geheiratet haben, die so alt sind wie ich, und jemanden in der Türkei geheiratet haben und dahin umgezogen sind. Aber ich könnte mir das nicht vorstellen. Also ich möchte auf jeden Fall hier bleiben. Und wenn ich heirate, heirate ich natürlich hier und nicht jemanden aus der Türkei. Weil die denken auch total anders und damit komme ich, glaube ich, nicht klar."

    Früher Abend in Istanbul. Der Muezzin hat es schwer den Verkehrslärm zu übertönen. Autos, viele davon Made in Germany, fahren Stoßstange an Stoßstange. Die Türkei hat mit 8,5 Prozent nach China das stärkste Wirtschaftswachstum weltweit. Besonders Istanbul pulsiert: 14 Millionen Einwohner, glitzernde Bankenhochhäuser, Läden mit hipper türkischer Designermode und Viertel von deutscher Großstadtgröße, wo keine Frau mehr ohne Kopftuch zu sehen ist. In einer Bar im 6. Stock mit grandiosem Blick auf den Bosporus treffen sich einmal im Monat durchschnittlich 50 bis 60 junge Leute zu einer sehr deutschen Angelegenheit. Zu einem Stammtisch. Einem Rückkehrer-Stammtisch.

    Juristen, Ingenieure, Schauspieler, Industriekauffrauen haben vor ein paar Jahren oder erst wenigen Wochen Hamburg, das Allgäu oder den Ruhrpott verlassen. Die Netzgemeinde des Stammtisches umfasst mehr als tausend Mitglieder.

    "Hier kriegt man dieses Deutschlandfeeling wieder.
    Hier redet man eigentlich überwiegend Deutsch.
    Hier wird wieder ein Bierchen getrunken.
    Hier lernt man Leute kennen.
    Hier hat man das Zuhause wieder, wie in Deutschland.

    Ein Teil von uns ist halt deutsch, weil die meisten von uns sehr lange Zeit dort gelebt haben."

    "Das Problem ist nämlich, du bist Ausländer in Deutschland, du bist Ausländer in der Türkei, ja genau. Du läufst durch den Basar, an der Art wie du läufst oder wie du dir die Vitrine anschaust, merken die, dass du Türke bist, aber aus dem Ausland kommst. Das ist der Wahn."

    Die Rückkehrer vermissen viel: die Ruhe, die Ordnung, die Pünktlichkeit, die medizinische Versorgung. Manche lassen sich aus Deutschland bestimmte Schokolade schicken. Beruflich hat es sich für alle gelohnt. Viele der Deutschtürken haben Karriere in einer deutschen Niederlassung gemacht. Niemand, der an diesem Abend da ist, bereut seinen Schritt. Ihr Tenor lautet: Die Deutschen ticken völkisch, nie wirst du akzeptiert, immer bleibt eine Barriere. Viele verfolgen nach wie vor, was in Deutschland abgeht:

    "Jeden Morgen wenn ich aufstehe, wird erstmal Zeitung gelesen übers Internet. Ich komme aus Heilbronn in Baden-Württemberg, dort haben wir die rechtsextreme Szene gar nicht so miterlebt, das war für mich was Neues, was Fremdes."

    Zwei Männer Anfang oder Mitte Dreißig setzen sich an einen frei gewordenen Tisch. Sie stellen sich der Reporterin als anatolische Schwaben vor und wollen auf jeden Fall anonym bleiben. Denn sie sind nur für eine paar Tage für einen Automobilkongress in Istanbul.

    "Ich habe die Gelegenheit mal genutzt, den türkischen Automobilmarkt auch näher kennenzulernen. Ich schaff bei einem großen Zulieferer in Stuttgart. Ja, man hört ja viel über Rückkehrer und ich muss sagen, ich war sehr positiv überrascht über die Entwicklung selber, rasant die Entwicklung."

    Der Mann im karierten Hemd ist Diplomingenieur, deutscher Staatsangehöriger und Muslim. Wie sein Freund gegenüber auch. Der hat zwar keine Kinder, aber eine Frau, die in Deutschland eine Zahnarztpraxis hat. Die könne sich auch vorstellen, abzuwandern.

    "Man muss sich hier nicht mehr bewerben. Man wird hier abgeworben, händeringend. Man hat mich auch gefragt, ob ich Vertriebsleute, Techniker, Ingenieure, Gießtechniker kenne, die zwei Kulturen kennen und die Sprache."
    Die anatolischen Schwaben sprechen untereinander nur Deutsch. Sie nennen es ihre Muttersprache. Derjenige im rosa Poloshirt, dessen Augen voller Energie blitzen, engagiert sich in Stuttgart dafür, dass türkischstämmige Jungs Abschlüsse machen - nicht abdriften.

    "Es gibt viele Vorzeigetürken, Deutschtürken, ich bin nicht die Ausnahme. Aber man spricht halt immer noch über den Schläger Memet aus München, der seit 15 Jahren, glaube ich, abgeschoben ist. Es ist immer ein Thema auf der ersten Seite. Und die guten Beispiele, darüber redet keiner."

    Sie haben viel zu erzählen; vieles, was sie bekümmert.

    "Die Ressentiments werden mehr und mehr, weil diese ganzen Stammtischparolen auch die Politiker nachschreien. Wenn man einen Schwarzen beleidigt, ist es Rassismus. Wenn man einen Juden beleidigt, ist es Antisemitismus. Aber wenn man den Propheten beleidigt, ist es gar nichts."

    Aber es wird an diesem Abend auch darüber gesprochen, was schön und richtig ist. Darüber, dass der ehemalige Bundespräsident Wulff gesagt hat, der Islam gehöre zu Deutschland. Dass ihre Arbeitskollegen darauf warten, täglich ein neues Wort Türkisch beigebracht zu bekommen. Dass sie sich mit ihren Firmen identifizieren.

    "Das ist ja das, was es uns erschwert, zu sagen, okay, jetzt packen wir unsere Sachen und gehen in die Türkei. Wir fühlen uns wohl. Bloß gestichelt wird immer mehr und mehr und irgendwann ist bei dem einen oder andern dann doch die Schmerzgrenze erreicht, wo er sagt: Wisst ihr was, ich habe jetzt genug, mich zu rechtfertigen für meinen Glauben oder meine Kultur."

    Spät am Abend sagt dann einer der schwäbisch-türkischen Diplomingenieure, er vermisse, dass keiner in Deutschland sagt: Bleib doch hier.

    Es duftet nach warmen Brezen, und die Auswahl in der Bäckerei in der Nürnberger Innenstadt ist riesig. Emine Sahin, eine auffallend attraktive Frau im grünen Kleid und mit glänzenden braunen Haaren, kauft sich die Brotsorten und Kuchen, die sie die vergangenen Jahre vermisst hat. Die Diplomarchitektin ist auch Rückkehrerin, in doppelter Hinsicht. Sie wuchs in einem kleinen Dorf bei Miltenberg in Unterfranken auf, studierte in Frankfurt, ging dann mit Anfang Dreißig in die Türkei. Sie blieb sechs Jahre, zuerst in Izmir, dann in Istanbul.

    "Innerhalb von zwei Wochen war die Entscheidung, okay, jetzt gehst du wieder zurück. Weil Heimweh nach Hause und endlich mal wieder Ruhe finden. Endlich mal wieder Selbst sein, das wollte ich. Ich habe zum Beispiel Sonntage vermisst, ich habe Weihnachten vermisst, ich habe Ostern vermisst."

    Emine ist mit einer großen Sehnsucht im Herzen in die Türkei gegangen, wollte ihre Wurzeln entdecken. Auch sie wurde in Deutschland gelegentlich diskriminiert. Aber dann wurde sie auch in der Türkei diskriminiert - als Deutschländerin. Allmählich entdeckte sie:

    "Oh, Emine, du hast ja auch eine deutsche Seite. Da habe ich mir erstmals selber zugestanden, dass ich eine deutsche Seite habe. Ich bin pünktlich, ich denke deutsch."

    Emine Sahin hat viele Deutschtürken kommen und gehen sehen. Sie hat jahrelang den Rückkehrer-Stammtisch moderiert, im 6. Stock mit Blick auf den Bosporus.

    "Vielen kommen auch mit einer ganz anderen Idee, weil sie die Türkei nicht kennen, nur aus den Medien und denken, wir sind willkommen. Aber dann erleben sie einen Schock, einen Kulturschock. Die Türkei ist, wenn man dort lebt, eine ganz andere Welt. Viele denken, die Türkei ist einfacher, ist es aber nicht."

    Wir gehen zusammen durch die verwinkelten Straßen der Nürnberger Altstadt. Emine Sahin schaut von Zeit zu Zeit auf die träge dahin fließende Pegnitz. Ob sie hier bleibt oder in einer anderen Stadt als Architektin oder Projektentwicklerin arbeiten wird, wer weiß. Natürlich hat es auch sie geschockt, dass rechte Terroristen gezielt Ausländer erschossen haben. Dass die Sicherheitsbehörden manches übersahen, vielleicht auf dem rechten Auge blind waren. Nichtsdestotrotz will Emine Sahin jetzt auf Dauer in Deutschland bleiben.

    "Ich muss mich ja nicht 100 Prozent anpassen. Ich kann ja sagen, dass meine Eltern Türken sind. Aber ich sehe mich ja nicht als Ausländer."
    *Anmerkung: Auf Wunsch der Person haben wir diesen Namen anonymisiert.