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Deutschland und die russische Revolution 1917-1924

Am Ende unseres Jahrhunderts erscheint Rußland in seinem gewaltsamen Versuch der Anpassung an den Westen, der bisher nur einen schlecht funktionierenden, menschenverachtenden Manchesterkapitalismus hervorbrachte, als groteske Parodie der liberalen Marktwirtschaft. Die traditionelle ambivalente Faszination dieses Landes als Gegenbild des modernen westlichen Zivilisationsmodells ist verlorengegangen.

Karla Hielscher | 04.02.1999
    Der russische Philosoph Pjotr Tschaadajew hatte schon in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts düster prophezeit, daß Rußland zu den Völkern gehöre, "die gleichsam von der Menschheit ausgeschlossen" seien und "die nur leben, um der Welt irgendeine große Lehre zu erteilen". Worin besteht die Lehre, die Rußland in unserer Zeit der Globalisierung, des Aufbruchs in die zweite Moderne anbietet? Eine gewichtige, historisch notwendige, bisher jedoch unbeantwortete Frage! Sie wurde gerade in Deutschland immer wieder gestellt und begründete eine besonders enge geistige Bindung zwischen unseren Völkern!

    Reicht doch die Tradition einer seltsam widersprüchlichen Attraktion durch Rußland, einer geistig-kulturellen Orientierung am Osten und seinen "jungen Völkern", die man der "alten Welt des Westens" gegenüberstellt, in Deutschland bis in die Zeit der Romantik zurück. In unserem Jahrhundert erreichte diese intensive und folgenreiche Beschäftigung mit Rußland als "Freund- oder Feindbild, als Schreck-" oder "Vorbild" gegen Ende des Ersten Weltkriegs einen unvergleichlichen Höhepunkt und nahm fast fieberhafte Formen an. Rußland entwickelte sich in den dramatischen Umbruchsjahren 1917 bis 1924 zu einem Mythos, zu einem Feld von Visionen, Projektionen und Utopien für das politische und geistige Leben in Deutschland.

    Dieser spannungsgeladenen Zeit nach der Erschütterung der Welt durch die Oktoberrevolution, der Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit den deprimierenden Folgen des Versailler Friedensvertrag ist der bisher letzte und vielleicht wichtigste Band von Lew Kopelews Lebenswerk der "West-östlichen Spiegelungen" gewidmet, in dem die nationalen Stereotypen in der gegenseitigen Wahrnehmung von Russen und Deutschen untersucht werden. Mit diesem Buch, das mit seinen ideologiegeschichtlichen Untersuchungen, biographischen Fallberichten und exemplarischen Milieustudien die deutsche Reaktion auf die revolutionären Umwälzungen in Rußland beschreibt, tritt das Projekt in das weite, noch unbearbeitete Feld der Zeitgeschichte ein.

    In den 25 gewichtigen - wenn auch qualitativ unterschiedlichen- Beiträgen der besten Rußlandkenner und der ersten, durch die Anzahl der Titel verblüffenden Gesamtbibliographie der deutschen Rußland-Literatur der Jahre 1917-1924 sind die Ergebnisse langjähriger Forschungsarbeit zusammengefaßt. Dabei ist das dickleibige Werk durch seinen gut lesbaren Stil und die reiche Illustrierung mit zeitgenössischen Photos, Plakaten und Karrikaturen wirklich nicht nur für Spezialisten interessant. Es eröffnet für jeden Interessierten einen äußerst lebendigen und produktiven Zugang zum Verständnis der Geschichte unserer Epoche. Erfassen die hier behandelten politischen, künstlerischen und publizistischen Äußerungen der Sicht auf das "neue Rußland" doch eine historische Periode, in der in Kunst und Gesellschaft die Weichen für die weitere Entwicklung unseres Jahrhunderts gestellt wurden. Den Einstieg bildet denn auch ein Gespräch der beiden Herausgeber Gerd Koenen und Lew Kopelew, das "Rückblick vom Ende eines Zeitalters" überschrieben ist und die Frage nach der Besonderheit des Nationalismus in diesen beiden Ländern stellt. Schon dieser Dialog bietet einen Aufriß der ganzen Widersprüchlichkeit und Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Rußland und Deutschland. Kopelew betont immer wieder fast schwärmerisch die "unvergängliche geistige Bindung", die positiven Möglichkeiten der deutsch-russischen "Wesens- und Wahlverwandschaft", Gerd Koenen dagegen hebt warnend das Problematische und Gefährliche dieser Mythisierung des "russischen Geistes" hervor, da diese immer mit einer Absage an den Westen und seine liberalen und demokratischen Werte verbunden sei. Stammt doch der Gedanke von der "deutsch-russischen Wahlverwandschaft" und der "Kameradschaft zweier großer, leidender und zukunftsvoller Völker" aus Thomas Manns prekärem Essaybuch "Betrachtungen eines Unpolitischen" von 1918, das mit der enthusiastischen Begrüßung des Separatfriedens zwischen Deutschland und Sowjetrußland endet und zum gemeinsamen Weiterführen des Krieges gegen den Westen aufruft.

    Diese antiwestliche Stoßrichtung der ansonsten sehr unterschiedlich motivierten Ostorientierung ist es, die die Begeisterung der kommunistischen Linken für Sowjetrußland und die nationalbolschewistischen Ideen in Kreisen der Rechten vereint. Denn die Revolution der Bolschewiki erschien vielen Deutschen in dieser gärenden Zeit des Umbruchs und Neuanfangs nach dem Desaster des Ersten Weltkriegs als eine radikale Form der Gegenwehr gegen den Kapitalismus und Imperialismus der westlichen Siegermächte, und Sowjetrußland wurde als ein Experimentierfeld betrachtet, das mögliche Auswege aus der Krise der modernen Zivilisation weisen könnte. So gab es eben nicht nur die berühmten Visionen des in Deutschland agierenden russischen Berufsrevolutionärs Karl Radek vom gemeinsamen Kampf deutscher und russischer Rotarmisten am Rhein gegen die Entente, sondern durchaus auch Träume von einer "deutsch-russischen Waffenbrüderschaft" auf seiten deutschnationaler Politiker und Militärs.

    Die Vorstellung, daß eine Entscheidung zwischen der materialistisch seelenlosen, der "römischen" Zivilisation des Westens und der chaotischen aber durchgeistigten und beseelten Kultur des Ostens anstände, zwischen "Rom oder Moskau"- wie Alfons Paquets programmatischer Dramentitel lautet - war damals weit verbreitet.

    Grundlage dieses stürmischen Interesses am geistigen Rußland und der damit zusammenhängenden Mythenbildung war die seit Anfang des Jahrhunderts stetig gewachsene Schwärmerei für die "heilige russische Literatur", wie es bei Thomas Mann heißt. In den Werken der russischen Klassiker sah man die Muster von der östlichen "Geistigkeit" gegenüber dem westlichen Materialismus, von russischer brüderlicher Gemeinschaft gegenüber egoistischem Individualismus, aber auch vom furchtbaren jedoch fruchtbringenden Chaos und der beängstigenden Weite der "russischen Seele" bestätigt.

    Die alle Vorstellungen übersteigende Dostojewski-Inflation prägte nicht nur entscheidend die Weltsicht von Schriftstellern wie Thomas Mann oder Hermann Hesse, sondern inspirierte auch die antiwestliche Ideologie einflußreicher Denker der Konservativen Revolution wie Möller van den Bruck mit seinem Buch "Das dritte Reich", Oswald Spengler mit seinem "Untergang des Abendlandes" oder die Thesen des Nationalbolschewisten Ernst Niekisch. Bei Dostojewski und Tolstoj, bei Gorki und Majakowski glaubte man im "russischen Geist" den Schlüssel zu den tiefreichenden Umbrüchen der Gegenwart zu finden. Da verbindet sich häufig der alte romantische Rußlandmythos in seiner konservativ patriarchalischen Variante mit der enthusiastischen Aufnahme der progressiv-proletarischen Sowjetliteratur, wie sie der legendäre Malikverlag in Deutschland verbreitete, zu einem seltsam verstiegenen Ideengebräu.

    Auf diesen ideologischen Nährboden trafen dann in Wellen die ersten Reise- und Augenzeugenberichte aus dem von Revolution, Bürgerkrieg und Hunger geschüttelten Sowjetrußland, die - je nach ideologischer Grundhaltung - von der Darstellung der blutigen bolschewistischen Greuel bis hin zu Erlösungsphantasien von Rußland als der "Mutter der künftigen Menschheit" reichen. Immer wieder jedoch erschreckt die Ähnlichkeit der Deutung des Blut- und Opfergedankens bei Linken und Rechten, mit dem etwa rechtfertigt wird, daß in Rußland eine ganze Generation als "Düngererde für einen neuen Typus des europäischen Menschen" dem Hunger oder dem Klassenkampf zum Opfer fällt.

    Auf dem historischen und ideengeschichtlichen Hintergrund, den die hier vorliegenden Untersuchungen bieten, erscheinen auch die inzwischen - etwa durch die Arbeiten Fritz Mieraus und Karl Schlögels oder die große Ausstellung Berlin-Moskau - schon bekannten künstlerischen Begegnungen zwischen Ost und West in neuer Beleuchtung: Die emsigen kulturellen Aktivitäten der Hunderttausende zählenden Emigrantenszene im "russischen Berlin", die in diesen Jahren noch mit den propagandistischen Auftritten aus Moskau gesandter Kulturemissäre neben und durcheinander wirken; der ungeheuer befruchtende Einfluß der russischen Revolutionskunst auf eine ganze Generation der deutschen expressionistischen Künstler, von Kandinski, Malewitsch oder Lisitzkijs vermittels des Bauhauses; die künstlerische Bedeutung der Filmmontage von Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin", der Brecht und Goebbels gleichermaßen begeisterte; die außerordentliche Wirkung des "entfesselten Theaters" der Revolution. Die entsprechenden Beiträge beweisen ein weiteres Mal, daß die gesamte Kunstentwicklung der heutigen Moderne ohne diese russischen Einflüsse nicht vorstellbar wäre.

    Die Basis für diesen breiten geistigen Austausch bot die pragmatische Realpolitik von Weimarer Politikern, die zum Vertrag von Rapallo führte, sowie auch handfeste ökonomische Interessen deutscher Industriellenkreise am russischen Markt. Auch diese Seite kommt in dem Buch - etwa in der Studie über Walther Rathenau oder den einflußreichen politischen Publizisten Maximilian Harden mit seiner Vision einer deutsch-russischen Wirtschaftseinheit - nicht zu kurz.

    Konfrontiert mit der umfassenden Materialfülle dieses vielseitigen Buches und angesichts unserer Kenntnis der wenig später einsetzenden historischen Katastrophe in beiden Ländern, stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Zusammenhang dieser deutsch-russischen "Wesensverwandschaft" mit den totalitären Systemen von Nationalsozialismus und Stalinismus. Die große berechtigte Frage, die der Historikerstreit der 80er Jahre so unbefriedigend und einseitig - je nach ideologischer Zuordnung - beantworten zu könnten glaubte. In Koenen/Kopelews Buch wird eine Menge objektiven, sachlichen Wissens zur Beantwortung dieser so komplexen, schicksalhaften Frage bereitgestellt. Darüber und über die große Lehre, die unsere beiden Völker in ihrer produktiven und zerstörerischen geistigen Verquickung der Welt zu erteilen haben, wird noch viel geforscht und nachgedacht werden müssen.