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Deutungen des Tages von Potsdam

Am 21. März 1933 reichten sich Reichskanzler Adolf Hitler und Reichspräsident Paul von Hindenburg die Hand. Dieser Handschlag zur Eröffnung des Reichstages am "Tag von Potsdam" ist ein Symbol - dessen Auswirkung unterschiedlich interpretiert wurde.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 21.03.2013
    "Also für uns war es ein schöner Tag, nicht nur vom Wetter her, sondern die Potsdamer lieben ihre Soldaten sowieso und die Paraden. Ich habe zwar nur die Helmspitzen gesehen, es waren unvorstellbar viele Menschen. Aber die gesamte Atmosphäre war eben ganz positiv: Jetzt kommt etwas Neues."

    Wilhelm Stintzing, damals 19 Jahre alt, erzählt vom sogenannten "Tag von Potsdam" als einer willkommenen Zäsur: Die Zeit der Weimarer Republik war abgelaufen.

    Am 5. März 1933 war der neue Reichstag gewählt worden, in dem Adolf Hitlers Nationalsozialisten mit den Deutschnationalen die Mehrheit bildeten. Eröffnet wurde das Parlament am Vormittag des 21. März mit einem Festakt in Potsdam – war doch das Reichstagsgebäude in Berlin nach einem Anschlag in der Nacht zum 28. Februar ausgebrannt.

    Bis heute gelten die Potsdamer Feierlichkeiten als legendär. Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, hat ihren Ablauf, aber auch die Vorbereitungen untersucht. Der Historiker schreibt dem 21. März vor allem eine symbolpolitische Bedeutung zu, reiht ihn aber ein in den Prozess der vollständigen Machtübernahme der Nationalsozialisten innerhalb des Jahres 1933:

    "Und er spielt in dieser Schnur, Perlenschnur von Ereignissen, eine rein symbolpolitische Rolle, ist aber doch auch zugleich der Auftakt zum zwei Tage später beschlossenen Ermächtigungsgesetz, das die schrankenlose Machtausdehnung der Nationalsozialisten legalisiert. Insoweit ist es kein unwichtiges Datum in realhistorischer Hinsicht."

    Was geschah an jenem Vormittag in Potsdam? Nach konfessionsgetrennten Gottesdiensten und einer Militärparade kam es beim Festakt in der Garnisonkirche – dem Gotteshaus der preußischen Könige - zu zwei zentralen, politisch bedeutsamen Gesten: Der betagte Reichspräsident Paul von Hindenburg legte einen Kranz am Grab von Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen nieder. Und: Nach einer Huldigungsrede Hitlers an Hindenburg kam es zum berühmten Handschlag:

    "Nach der Begrüßungsansprache ging der Herr Reichskanzler auf den Herrn Reichspräsidenten zu und der gab, tief bewegt, die Hand."

    Dieser Handschlag, bei dem sich der befrackte Hitler vor dem uniformierten Hindenburg verbeugte, wurde als Bund der alten mit der neuen Zeit wahrgenommen, erzählt Thomas Wernicke vom Haus der Brandenburg-Preußischen Geschichte in Potsdam. Erst in den 90er-Jahren kam heraus, dass diese Geste gar nicht in der Garnisonkirche fotografiert wurde. Das bekannte Handschlagfoto entstand vielmehr zufällig – nach dem Festakt vor der Kirche.

    "Jeder kennt das von uns, dieses sogenannte Handschlagbild. Es ist ein Bild, das ein offensichtlich amerikanischer Fotojournalist für die New York Times gemacht hat: die Verabschiedung des Reichspräsidenten vom Reichskanzler. Und wo im Grunde genommen die Perspektive so ist, dass man den Eindruck hat, der Reichskanzler verbeugt sich ganz tief vor dem Reichspräsidenten."

    Viel bedeutsamer als der Handschlag sei in der zeitgenössischen Wahrnehmung die Kranzniederlegung gewesen. Eingebettet in den historischen Ort knüpfte sie an die preußisch-deutsche Geschichte an – und ließ sich als Garant einer Kontinuität interpretieren. Auch das von Hitler gewählte Datum griff weit in die Vergangenheit zurück auf die erste Reichstagseröffnung am 21. März 1871, die der Kaiser mit einer Feier im Berliner Schloss einleitete.

    Die Rechtskonservativen konnten so am "Tag von Potsdam" eine Botschaft in ihrem Sinne transportieren, sagt der Historiker Wernicke:

    "Hier sind wir ja die Mehrheit noch. Den Reichskanzler haben wir eingebunden, die Nationalsozialisten sind ja nur eine Minderheit im Reichskabinett. Das ist ja die größte Illusion gewesen, dass man glaubte, Hitler hätte man im Griff. Man würde Hitler führen - nicht umgekehrt. Und dafür stand auch dieser Tag von Potsdam mit der Symbolfigur: der Reichspräsident. Der aus der alten Kaiserzeit kam, der Ersatzkaiser, der Generalfeldmarschall."

    Tatsächlich habe Adolf Hitler sich am 21. März in Potsdam bei seinem Auftritt zurückgehalten, darin sind sich die Historiker Thomas Wernicke und Martin Sabrow einig. Zwar jubelte die Menschenmenge auch dem angehenden Diktator zu, doch der ehemalige Pfarrer Wilhelm Stintzing, heute 98 Jahre alt, bestätigt, dass nicht Hitler damals den Ton angab:

    "Die katholische Kirche hatte für die katholischen Teilnehmer am Reichstag einen Gottesdienst, so, wie wir es in der Nicolai-Kirche hatten. Und da ist der Hitler nicht erschienen. Er ist zu den Gräbern seiner Märtyrer gegangen. Er ist nachher auch sehr früh verschwunden. Er ist eigentlich ganz wenig in Erscheinung getreten. Und seine Rede ist eine staatsmännische Rede, in der er nur sagt: Wir wollen, wir wollen. Nur die Träume. Und das hat er eben erfasst, was die Menschen wollten, was sie geträumt haben."

    Den Begriff "Tag von Potsdam" hat Joseph Goebbels geprägt. Dem erst wenige Tage vorher ernannten Reichspropagandaminister gelang es, das Ereignis medial über alle Rundfunksender zu verbreiten. Dennoch dürfe den Nationalsozialisten nicht die Hauptrolle bei der Gestaltung der Feierlichkeiten zugeschrieben werden, betonen die Historiker Wernicke und Sabrow. In ihren Beiträgen im Buch "Der Tag von Potsdam" zeichnen sie akribisch nach, wie anstelle von zielstrebiger Planung vielmehr Zufälle, Auseinandersetzungen und Kompromisse den Ort, das Datum und den Ablauf bestimmten.

    So war die Garnisonkirche ein Vorschlag der Potsdamer Stadtverwaltung, weil das von Hitler anvisierte Stadtschloss keine passenden Räume bot. Und weil die Kirchenoberen gegen einen politischen Akt in ihrer Kirche protestierten, musste die erste Reichstagssitzung in die Berliner Kroll-Oper verlegt werden – und fand erst am Nachmittag des 21. März statt. Martin Sabrow:

    "Die dritte Bedeutung, die der Tag von Potsdam in meinen Augen hat, ist die, dass er über eine große Forschungskontroverse in der Historiografie zur nationalsozialistischen Zeit entscheiden kann. Er steht auf einer Stufe – der Tag von Potsdam – mit der Reichstagsbrandkontroverse insoweit wir uns zu fragen haben, ob die Nationalsozialisten eigentlich sehr zielstrebig diese vollkommene Machteroberung angelegt haben und sich dazu aller möglichen Tricks bedient haben. Oder ob sie eher volatil sich bietende Chancen ausgenutzt haben."

    Die symbolpolitische Bedeutung des "Tages von Potsdam" fand nach 1945 ihre Fortsetzung. So wurde die Ruine der Garnisonkirche zu DDR-Zeiten als Zeichen antipreußischer Haltung gesprengt. Heute argumentieren die Gegner mit dem 21. März 1933 gegen den Wiederaufbau.

    Das Foto des Handschlags allerdings machte erst nach dem Krieg Karriere. Es fand seinen Weg in die Geschichtsbücher – und mit ihm die bequeme, weil entlastende Deutung, die Nationalsozialisten hätten das deutsche Volk verführt. Der Tag habe sich bis heute als wichtiges Ereignis in der historischen Erinnerung etabliert, sagt Martin Sabrow:

    "Weil er so wunderbar zu zeigen scheint, wie die Deutschen selbst Opfer der nationalsozialistischen Heimtücke und ihrer Propaganda-List geworden sind. Ich halte das für eine falsche Sicht und ich glaube, dass man sie auflösen muss. Aber sie ist geschichtspolitisch, geschichtskulturell sehr verbreitet, tief verwurzelt und geht als "Potsdamer Rührkomödie" in die Geschichte ein."