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DFB-Pokal
Die Sportfreunde Lotte und der BVB

Im DFB-Pokal sind die Sportfreunde Lotte das Überraschungsteam. Morgen spielt der Drittligist im Viertelfinale gegen den Bundesligisten aus Dortmund. Das Aufeinandertreffen der beiden Teams ist eine Premiere, aber Kontakte zwischen beiden Vereinen, die gab´s schon: Vor fast 20 Jahren, ein Friedensbier mit Hooligans und Präsident.

Von Marcus Bark | 27.02.2017
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    Werner Wirsing, ehemaliger Schatzmeister von Borussia Dortmund (Marcus Bark)
    Bald ist es 20 Jahre her, dass Borussia Dortmund die Champions League gewonnen hat. Es ist der bedeutendste Titel, den Dr. Gerd Niebaum 1997 feiert. Er ist damals Präsident von Borussia Dortmund. Im selben Jahr wird Niebaum beim Herrenabend des Bürgervereins Wersen zum "Krautkönig" gekürt. Dieselbe Ehre ist Willi Lemke vier Jahre zuvor zuteil geworden. Das alles hat wenig, aber eben ein bisschen mit einem Fußballspiel zu tun, das morgen ansteht. Erstmals in der Geschichte wird Borussia Dortmund mit der Profimannschaft zu einem Wettbewerbsspiel bei den Sportfreunden Lotte antreten.
    Ratssaal oder Ratsstuben?
    Die Gemeinde an der nördlichen Grenze Nordrhein-Westfalens ist deshalb seit Wochen in Aufregung. "Was meinen Sie, was hier los ist", sagt ein Mitarbeiter, der mit der Bitte um sachdienliche Hinweise angerufen worden ist. Es geht um ein Foto, erschienen am 14. Juni 1989 in der Dortmunder Tageszeitung Ruhr Nachrichten. "Das kann nur im Ratssaal sein. Oder in den Ratsstuben." Das Bild zeigt den damaligen Trainer des BVB, Horst Köppel, den damaligen Kapitän und heutigen Sportdirektor Michael Zorc, den damaligen Spieler Thomas Helmer. Borussia Dortmund hat eine bedeutende Pokalvergangenheit in Lotte, auch wenn der Verein dort noch nie um ein Weiterkommen gespielt hat.
    Restaurant in Lotte-Wersen
    Restaurant in Lotte-Wersen (Bark, Marcus)
    An einem Montagabend, 12. Juni 1989, treffen sich Delegationen des BVB und Werder Bremens in Lotte-Wersen, auf halber Strecke zwischen den beiden Städten, um ein paar Friedensbier zu trinken, und um zu sprechen. Niebaum, der so tief gestürzt ist und 2015 wegen Untreue, Kreditbetrugs und Urkundenfälschung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wird, führt die Dortmunder Delegation an, Werders Manager Willi Lemke die Bremer. "Da war etwas, aber ich habe kaum noch Erinnerungen", sagt Thomas Helmer über den Abend in Wersen. Lemke, der später Sonderberater des Generalsekretärs der Vereinten Nationen "im Dienst von Entwicklung und Frieden" war, hat auch Lücken.
    Fan-Friedens-Sonderberater Werner Wirsing
    Werner Wirsing ist 1989 Schatzmeister von Borussia Dortmund und inoffizieller Sonderberater für Frieden unter Fußballfans. Er ist der Initiator des Treffens in Wersen gewesen. "Borussia Dortmund war damals einer der gefürchtetsten Vereine in Deutschland wegen seiner Hooligans, die geführt wurden von der Borussenfront", sagt Wirsing. Er wird im Mai 70 Jahre alt, führt immer noch zwei Unternehmen in Dortmund: "Ich bin ein Workaholic." Als er sich um die Finanzen des BVB kümmert, geht es ihm auch um die Fans. "Ich bin ja selbst einer seit 1961, und ich hatte damals das Gefühl, dass die zu wenig eingebunden werden."
    Wirsing sucht den Kontakt. Er geht auch zu denen, die weh tun. Die Borussenfront gilt in den 80er Jahren als eine der schlimmsten Hooligangruppierungen, zudem als rechtsextrem. Werner Wirsing hat einen massigen Körper und eine Ruhrgebietsschnauze. Vielleicht schafft er auch deshalb, was er sich heute ans Revers heftet: "Die schlimmsten acht von den Schlägern habe ich in Zusammenarbeit mit dem damals gerade gegründeten Fanprojekt aus dem Stadion bekommen. Die sind einfach nicht mehr gekommen." Auch bei den übrig gebliebenen Hools sieht Wirsing einen Erfolg: "Sie haben nicht mehr agiert, sondern nur noch reagiert, wenn sie gereizt wurden."
    "Wer sich kennt, der schlägt sich nicht."
    Vor dem Finale am 24. Juni in Berlin sind die Bedenken groß, dass es unter den gezähmten Hooligans, die "trotzdem noch einen Geist in sich tragen", zu Schlägereien und Randale kommen könnte. "Sie hatten ein bisschen ihre Wildheit verloren, aber ein Pokalfinale hat nicht nur auf dem Platz eigene Gesetze", erinnert sich Wirsing. Deshalb das Treffen in Wersen. Motto: "Wer sich kennt, der schlägt sich nicht."
    Bildergalerie in einem Restaurant
    Bildergalerie in einem Restaurant (Bark, Marcus)
    Der 12. Juni 1989, Ratssaal Wersen, vielleicht auch Ratsstuben: Gerd Niebaum redet, Willi Lemke redet, Werner Wirsing redet: "Wenn ihr Pfeifen da Scheiße baut, leiden alle darunter." Wirsing überlegt, ob er wirklich etwas in der Richtung "Pfeifen" oder einen kräftigeren Ausdruck gewählt hat: "Auch egal. Mit ‚Liebe Leute‘ brauchtest du denen jedenfalls gar nicht kommen." Nach den Reden und ein paar Bier kommt ein Fan zu Wirsing: "Ist ja alles schön und gut, wenn wir in Berlin gewinnen. Aber wenn wir verlieren, kriegt der erste Fischkopp, der mich anmacht, auf die Fresse." Wirsing kontert: "Dann musst du aber erst mir eine reinhauen."
    Zwölf Tage später gewinnt der BVB als Außenseiter das Pokalfinale mit 4:1 gegen Werder Bremen. Es ist der erste Titel nach 23 Jahren. Die Hauptstadt feiert in Schwarz-Gelb. Es bleibt weitgehend ruhig. "Ich hatte an dem Abend mehr Angst, dass die Polizei da Theater auslöst. Die hatten gehört, dass da jetzt im Sonderzug die Hardcore-Fans aus Dortmund kommen mit der Borussenfront. Es gab Gerüchte, dass die den Zug fast zerlegt hätten. Als der dann mit vier Stunden Verspätung ankam, stellte sich heraus, dass eine Scheibe zu Bruch gegangen war."
    Hooligans im Betrieb
    Fünf Männer, die damals zu den Hooligans zählen, hat Wirsing in seinen Betrieben eingestellt. "Einer fährt bei uns LKW, der hat eine ganz tolle Familie. Einer ist seit vielen Jahren Vorabeiter", sagt Wirsing. Über den Abend in Lotte-Wersen will der eine gar nicht, der andere "nicht so gerne" sprechen. Die Zeiten sind vorbei, die Zeiten sind andere. Werner Wirsing beugt sich ein bisschen nach vorne, zieht an der Pfeife und wird lauter. Es geht um die Ereignisse vor dem Spiel des BVB gegen RB Leipzig. "Flaschen und Steine auf Kinder und Familien geht gar nicht.
    Die sollen sich schämen." Es ist eher ein Brüllen als ein Sprechen. Dann wird Werner Wirsing leise: "Aber eines muss ich auch sagen: Im Vergleich zu früher ist es heute doch viel ruhiger geworden. Es passiert nur ganz selten etwas."
    Über dem blauen Hemd trägt Werner Wirsing eine schwarz-gelbe Trainingsjacke. "Das ist Zufall", sagt er. Rein zufällig stehen vermutlich auch Kartons mit scharz-gelben Schals im Büro. Rein zufällig hat Werner Wirsing im Besprechungszimmer eine Nachbildung des DFB-Pokals auf dem Tisch. Rein zufällig sagt Wirsing voraus: "Geträumt wird des Nachts, aber irgendwann ist die Nacht vorbei. Für Lotte ist der Traum am Dienstag vorbei."