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DGB-Chef: Regierungsbilanz ist katastrophal

Das Ergebnis von vier Jahren schwarz-gelber Arbeitsmarktpolitik sei ausgesprochen negativ, sagt DGB-Chef Michael Sommer. Die durchgesetzten Projekte, wie das Bildungspaket von Sozialministerin von der Leyen, seien ohne Erfolg geblieben. "Das ist mehr als beschämend."

Michael Sommer im Gespräch mit Gerhard Schröder | 02.06.2013
    Gerhard Schröder: Herr Sommer, die Gewerkschaften starten in diesen Tagen, nicht ganz zufällig vier Monate vor der Bundestagswahl, eine Kampagne für eine neue Ordnung der Arbeit. Das suggeriert ja, dass die derzeitige, die alte Ordnung überholungsbedürftig ist. Die Frage also: Was läuft falsch am deutschen Arbeitsmarkt?

    Michel Sommer: Es läuft manches richtig und vieles falsch. Wir haben ja einen Prozess von 30, 35 Jahren Deregulierung der Arbeit hinter uns, die den Arbeitsmarkt total verändert hat. Wir haben neue Arbeitsverhältnisse, wir haben neue Ausprägung von Arbeit, zum Beispiel durch die Digitalisierung. Aber das Entscheidende für uns ist, dass die normalen Regelungsmechanismen für Arbeit, also die Tarifautonomie, das Arbeitsrecht, die Gestaltung von Arbeit durch Arbeitsverträge, durch soziale Leitplanken für Arbeit verloren gegangen ist.

    Schröder: Was heißt das konkret?

    Sommer: Wir haben einen Schwund an Tarifbindung in Deutschland, ganz massiv, infolge sowohl der Massenarbeitslosigkeit – in der Zeit haben die Gewerkschaften sehr, sehr viele Mitglieder verloren, die Arbeitgeber entziehen sich zunehmend des Instrumentes der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Das heißt, die Tarifbindung für die Beschäftigten sinkt insgesamt. Und auf der anderen Seite hat die Zahl von prekären Beschäftigten unglaublich zugenommen. Das fing an mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz in Deutschland, wo die sachgrundlose Befristung eingeführt wurde durch Norbert Blüm, ging dann weiter über Minijobs, Hartz-IV-Zuzahlungsregelung und, und, und, den Missbrauch der Leiharbeit, mit der Folge, dass wir mittlerweile in Deutschland einen Arbeitssektor haben von rund – sagen wir mal – 20, 25 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung, die im Niedriglohn-, im Armutssektor arbeiten müssen, ungeschützt arbeiten müssen, atypisch arbeiten müssen. Und das beides drückt auf das System gute Arbeit mit der Folge, dass wir jede Ordnung von Arbeit verloren haben. Das heißt, wir müssen es schaffen, für die neue Zeit eine neue Ordnung der Arbeit tatsächlich in diesem Land durchzusetzen.

    Schröder: Dass die Arbeitslosigkeit so niedrig wie seit 20 Jahren und die Beschäftigung so hoch ist wie seit 20 Jahren nicht: Spielt das für Sie keine Rolle? Das sind doch Erfolge.

    Sommer: Ich freue mich darüber, dass die Arbeitslosenzahlen nicht mehr bei fünf Millionen, sondern bei drei Millionen liegen. Das ist die eine positive Seite der Medaille, übrigens auch, dass die sozialversicherungspflichtige Arbeit wieder zugenommen hat. Das ist vor allen Dingen in den letzten fünf, sechs, sieben Jahren wieder passiert. Auf der anderen Seite haben wir natürlich parallel eine Zunahme von dequalifizierter Arbeit, von schlecht bezahlter Arbeit, von Armutslöhnen, die das ganze Bild mehr als trübt, denn die Zahlen, die wir da zusammenkriegen, haben sehr viel damit zu tun, nicht dass reale Beschäftigung aufgebaut wurde und schon gar nicht reale Vollzeitbeschäftigung aufgebaut wurde, sondern dass reale Vollzeitbeschäftigung, normale Arbeitsverhältnisse ersetzt wurde durch schlechte Arbeit. Wenn Sie sich die Zahlen angucken im Vergleich zu 2002, 2003, dann sehen Sie, dass die Zahl der Vollzeitarbeitsplätze gesunken ist in Deutschland. Sie ist nicht gestiegen, sie ist ersetzt worden durch Teilzeitarbeit, durch schlechte Arbeit, durch die Tatsache, dass Menschen drei, vier Jobs leisten müssen. Das ist übrigens für mich immer noch eine der wesentlichen Folgen der Agenda 2010. Ich weiß, dass es viele Leute gibt, die die hoch loben, aber wenn Sie sich mal im Detail das ansehen und nicht nur auf die absoluten Arbeitslosenzahlen gucken, dann werden Sie feststellen, dass diese Entwicklung da ist mit der Tendenz, dass sie immer weiter runtergeht.

    Schröder: Aber wir sehen auf der anderen Seite: Auch die Langzeitarbeitslosigkeit ist gesunken seit 2005 um eine Million, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei acht Prozent, so niedrig wie in kaum einem anderen europäischen Land. Heißt das nicht, dass gerade die, die Hilfe brauchen, die den Einstieg in den Job haben wollen, die wieder reinkommen wollen, die Langzeitarbeitslosen, deren Chancen haben sich verbessert.

    Sommer: Nein, das sehe ich völlig anders. Erstens haben wir eine Sockelarbeitslosigkeit bei den Langzeitarbeitslosen, wenn Sie genau in die Statistik reingucken Sie genau sehen, dass es da kaum Bewegung gibt. Diejenigen, die relativ kurz arbeitslos sind, haben eine Chance, wieder reinzukommen, diejenigen, die ganz lange arbeitslos sind, haben praktisch überhaupt keine Chance, wieder reinzukommen. Der zweite Punkt ist: Bei der Jugendarbeitslosigkeit müssen Sie natürlich auch sehen, dass wir jetzt schon die ersten Wirkungen der demografischen Entwicklung haben. Das heißt, dass wir in der Situation sind, dass die jungen Menschen mittlerweile sich wieder einen Ausbildungsplatz aussuchen können – mit der Folge, dass wir, glaube ich, schon sehen, dass wir positive Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt haben, aber mitnichten so zusagen infolge der Agenda 2010, sondern viele Faktoren anders gewirkt haben, insbesondere die tarifpolitischen Faktoren. Wir haben Arbeit insbesondere im industriellen Sektor schaffen und sichern können durch eine wahnsinnige Arbeitsflexibilisierung, insbesondere Arbeitsteilflexibilisierung, die von den Gewerkschaften mitgetragen, mit ausgegangen ist – bis hin zu der Tatsache, dass wir natürlich in der Krise 2008 bis 2010 alles getan haben, um Menschen in Lohn und Brot zu halten. Davon profitieren wir heute. Wir profitieren nicht von den Wirkungen der Agenda 2010.

    Schröder: Einige sagen, die Alternative, die Erkenntnisse auch aus 20 Jahren Globalisierung lautet: entweder mehr unsichere, flexible, auch schlechter bezahlte Jobs oder mehr Arbeitslosigkeit. Stimmen Sie zu?

    Sommer: Nein, ich glaube das nicht. Ich glaube, man kann flexibel arbeiten, man kann auch Freiheit in der Arbeit schaffen ohne gleichzeitig so zusagen das Kind mit dem Bade auszuschütten und zu sagen: Entweder Du hast Arbeitsverhältnisse wie in Bangladesh oder Du hast die Wirkung von Arbeitslosigkeit. Sie müssen natürlich auch sehen: Die Menschen hier in Deutschland arbeiten anders, sie arbeiten hoch verdichtet, sie arbeiten hoch produktiv, sie arbeiten auch in einem sehr großen Spannungsverhältnis von Arbeit und Freizeit. Und das ist der Preis dafür, den wir zahlen dafür, dass wir in weiten Teilen immer noch einen gut bezahlten Arbeitsbereich haben, den wir zahlen dafür, dass wir auch in der Lage sind, wettbewerbsfähig zu sein.

    Schröder: Aber ein Preis, den Sie nicht mehr zahlen wollen?

    Sommer: Doch. Was wir wollen mit einer neuen Ordnung für Arbeit ist nicht, dass wir Arbeit verteuern wollen oder dass wir Arbeit unflexibler gestalten wollen. Sondern was wir wollen, ist, dass für eine vernünftige Arbeit ein vernünftiger Lohn bezahlt wird, dass die Würde von Arbeit den arbeitenden Menschen gegeben bzw. wieder zurückgegeben wird. Auf der anderen Seite will niemand von uns die hohe Form von Flexibilität zum Beispiel zurückführen. Im Gegenteil. Ich glaube, gerade jetzt haben wir auch angesichts der demografischen Entwicklung des Fachkräftemangels in Deutschland die Chance, den Menschen auch die Möglichkeit zu geben, mehr Freiheit in der Arbeit zu bekommen und den Arbeitgebern die Möglichkeit zu geben, mehr Flexibilität in der Arbeit zu bekommen. Das ist beides möglich, wenn man die vernünftigen Rahmenbedingungen schafft. Das heißt, Flexibilität und Sicherheit. Ich rede über eine neue Ordnung, die die Möglichkeit schafft, auf der einen Sicherheit, auch durch die sicheren so zusagen Gestaltungssysteme wie Tarifautonomie und Mitbestimmung zu schaffen, und auf der anderen Seite die Leute vor Armut zu schützen, zum Beispiel durch einen gesetzlichen Mindestlohn. Das ist es, worum es uns geht. Und beides zusammen würden neue Leitplanken machen, damit sich Arbeit und Arbeitsverhältnisse anders und besser entwickeln können.

    Schröder: Gewerkschaftliche Forderungen sind das eine, die politische Umsetzung ist das andere. Die Kernforderung haben Sie genannt: ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn. Die Bundeskanzlerin hat sich da zuletzt noch mal dezidiert dagegen entschieden, das sei nicht ihre Haltung. Die FDP ist sowieso dagegen. Wenn wir jetzt auf die Bundestagswahl blicken, müssen Sie also auf eine rot-grüne Mehrheit setzen.

    Sommer: Die Gewerkschaften sind nicht angetreten, auf irgendwelche Mehrheiten zu setzen, sondern die Gewerkschaften sind angetreten, ihre Ziele durchzusetzen und auch politische Ziele durchzusetzen. Lassen Sie mich bei der Bundeskanzlerin beginnen. Also, ich hatte jedenfalls nicht den Eindruck, dass sie die Tür total zugemacht hat. Aber sie ist nur dann machbar, insbesondere mit dieser Kanzlerin, wenn es machtpolitisch notwendig ist. Wenn es machtpolitisch nicht notwendig ist, dann wird sie den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von sich aus nicht machen. Die Beschlusslage der CDU kenne ich, und die Beschlusslage der CDU lautet: Lohnuntergrenzen in den Bereichen, wo wir keine Tariflöhne haben. Und das reicht natürlich nicht, weil – wir brauchen einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde, um deutlich zu machen: Das ist die unterste Grenze, unter der niemand in diesem Land arbeitet. Wir brauchen so zusagen eine Normenklarheit und nicht irgendwelche obskuren Sachen, die dann zum Schluss nicht durchgesetzt werden.

    Viel entscheidender finde ich, dass wir mittlerweile durch die Dauerkampagne, die die Gewerkschaften machen, zum Beispiel für den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, es keine Partei mehr im Deutschen Bundestag gibt, die sich nicht auf unsere Forderung bezieht. Selbst die FDP hat sich ja bewegt, nicht weit genug und möglicherweise auch nur für die Galerie, aber ich bin mir so absolut sicher, dass, wenn im September die Karten in diesem Land neu gemischt werden, wir danach in den Koalitionsverhandlungen erleben werden, dass der gesetzliche Mindestlohn kommen wird. 80 Prozent der Menschen in Deutschland wissen: Das ist eine vernünftige Lösung, das ist eine sozialpolitisch und lohnpolitisch notwendige Lösung, die wir brauchen. Und deswegen werden sich die Parteien nach den Wahlen eben nicht verstellen. Und ich bin mir absolut sicher, dass wir das durchsetzen werden.

    Schröder: Wenn wir auf die SPD schauen: Die hat sich den Gewerkschaften angenähert inhaltlich …

    Sommer: … ja …

    Schröder: … hat sich von Teilen der Agenda 2010 distanziert. Gleichzeitig sehen wir aber: Die Partei steckt nach wie vor hartnäckig im Umfragetief. Was machen die Sozialdemokraten falsch, liegt es am Spitzenkandidaten?

    Sommer: Erst mal, Tatsache ist – Sie haben völlig recht, Herr Schröder, was Sie sagen, die SPD hat sich in Fragen insbesondere der Arbeitsverfassung deutlich bewegt.

    Schröder: Warum spiegelt sich das nicht in den Umfragewerten wider, die SPD profitiert nicht davon, warum?

    Sommer: Ja, das große Problem der SPD ist nach wie vor, dass sie in Zeiten der Agenda eine große Glaubwürdigkeit – ihre Glaubwürdigkeit – bei einem großen Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verloren hat. Das ist das Problem. Das Problem ist, glaube ich, nicht die Programmatik. Das Problem ist übrigens auch nicht die Klarheit des Kandidaten hin zu dieser Programmatik, die ist eindeutig. Sie werden bei Steinbrück nichts finden, wo er sich von dieser Programmatik abwendet, also von seiner sogenannten Beinfreiheit so zusagen im negativen Sinne Gebrauch macht. Aber die SPD hat natürlich das Problem, dass sie in Zeiten der Agenda unglaublich viel an Glaubwürdigkeit verloren hat.

    Schröder: Und das ist noch nicht wieder hergestellt.

    Sommer: Den Eindruck muss man haben, wenn man die Wahlumfragen sieht. Mehr noch: Ich glaube, dass das natürlich auch ein langer Prozess ist, den man machen muss, um diese Glaubwürdigkeit wieder zu gewinnen.

    Schröder: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Michael Sommer, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Herr Sommer, die Bundeskanzlerin Angela Merkel ist im Gegensatz zu ihrem Herausforderer Peer Steinbrück beliebt wie eh und je. Eine Wechselstimmung ist derzeit jedenfalls nicht feststellbar. Wenn wir jetzt auf vier Jahre Regierungszeit schwarz-gelb schauen: Wie fällt da Ihre Bilanz aus?

    Sommer: Ausgesprochen negativ, denn man kann eigentlich nur sagen, auch gerade mit Blick auf die Bundeskanzlerin und ihr Wirken: Die Stimmung ist wesentlich besser als die Lage. Denn wenn wir jetzt mal die reale Bilanz dieser Regierung nehmen nach vier Jahren: Das ist doch katastrophal, auch in der Arbeitsmarktpolitik katastrophal. Nennen Sie mir mal ein großes Projekt, was die Ursula von der Leyen durchgesetzt hat. Keines. Und die Projekte, die wenigen, die sie durchgesetzt hat, waren alles Rohrkrepierer, wenn ich jetzt mal in den engeren Teil der Arbeitspolitik gehe.

    Schröder: Was meinen Sie konkret?

    Sommer: Wenn ich zum Beispiel an die ganzen Hilfen für Kinder von Hartz-IV-Empfänger denke, ein richtiger Ansatz, aber was da rausgekommen ist, ist doch nichts. Wenn ich an die Debatte um die Renten denke: Nichts rausgekommen. Wenn ich an die Debatten um die Mindestlöhne denke: Nichts rausgekommen. Es gibt praktisch kein Feld, in dem diese Arbeitsministerin auch nur irgendeinen Erfolg vorzuweisen hat. Das ist mehr als beschämend. Und wenn wir jetzt insgesamt die Themen dieser Bundesregierung angucken, dann kann man natürlich sagen – vor vier Jahren hatte ich ja die große Befürchtung: Wenn schwarz-gelb kommt, dann kommt die neokonservative Wende und dann kommt der reaktionäre Durchmarsch. Der ist natürlich auch ausgeblieben bei dieser Bundeskanzlerin. Das ist die positive Seite. Aber dass die so zusagen dieses Land nach vorne gebracht haben, gestaltet haben, das kann man dieser Regierung beim besten Willen nicht vorwerfen. Es sind eigentlich, wenn Sie so wollen, vier Jahre, in denen vor sich hin regiert wurde, aber wo dieses Land nicht gestaltet wurde, schon gar nicht nach vorne gebracht wurde.

    Schröder: Aber nach der Bundestagswahl würde das unter Schwarz-Gelb anders?

    Sommer: Das weiß ich nicht. Unser Ziel ist, dass wir die Themen setzen, jetzt in diesem Wahlkampf, an denen die Parteien nach den Wahlen nicht mehr vorbei kommen. Das ist neben dem Thema 'Arbeit', über das wir geredet haben, das Thema, das wir einen Schutz vor Altersarmut brauchen. Da sind wir bei dem Thema 'Rente'. Wir sind dafür, dass wir insbesondere auch die Handlungsfähigkeit des Staates erhalten, indem wir gerade unter den Bedingungen von Schuldenbremse und auch möglicherweise nachlassender Konjunktur sagen, diejenigen, die mehr verdienen, sollen auch mehr zum Staatswesen beitragen, also mehr Steuergerechtigkeit herbeiführen, um auch die Finanzierung von neuen Zukunftsaufgaben des Staates zu finanzieren.

    Schröder: Auch das lehnt die Kanzlerin ab.

    Sommer: Auch das lehnt sie ab. Aber Sie wissen ja, sie ist ja relativ flexibel bei der pragmatischen Anpassung ihrer Politik. Das ist ja einer ihrer großen Vorteile. Meine Grundthese ist, wir müssen jetzt alles machen, als Gewerkschaften politisch auf die demokratischen Parteien zu drücken und zum Schluss – egal, wer regiert, in welcher Konstellation regiert wird, – dass niemand an unseren Themen mehr vorbeikommt. Das ist mein Ziel. Mein Ziel ist, jetzt zu säen und zu düngen und im Herbst zu ernten. Das ist mein Thema.

    Schröder: Wäre auch Rot-Rot-Grün für Sie eine Alternative?

    Sommer: Rot-Rot-Grün ist zwar eine theoretische Alternative, aber derzeit, im Jahre 2013, über dieses Wahljahr reden wir, glaube ich, keine praktische Alternative. Sie kommt nicht zustande wegen der handelnden Personen und wegen der Feindlichkeit der Parteien untereinander.

    Schröder: Eine Rolle im Wahlkampf wird auch, spielen die tiefe wirtschaftliche Krise, die wir in Europa erleben, die nach wie vor ungelöst ist. Da haben wir am Donnerstag Angela Merkel in Paris erlebt bei dem französischen Staatspräsidenten François Hollande. Dort wurde vereinbart, dass die Währungsunion vertieft werden soll. Es soll mehr Koordinierung der Politik geben. Das klingt zwar gut, aber tatsächlich erleben wir doch im Moment genau das Gegenteil. Die EU-Staaten sind zerstritten wie eh und je. Wie soll es da einen Ausweg aus der Krise geben?

    Sommer: Erster Punkt ist der, auch die deutschen Gewerkschaften sehen keine vernünftige Alternative zum Euro. Und wir sind dafür, den Euro zu stabilisieren und auch damit die Euro-Staaten zu stabilisieren. Das heißt, wir sind durchaus dafür, zum Beispiel auch so etwas wie Eurobonds oder Vergemeinschaftung von Schulden zu machen, einfach im Sinne von Stabilisierung des Euros. Auf der zweiten Seite wissen wir, dass diese Stabilisierungsmaßnahmen des Euros nicht dazu geführt haben, dass es in den Staaten, die besonders von der Krise betroffen sind, besser geworden ist, sondern schlechter geworden ist. Die Arbeitslosigkeit in Spanien oder Griechenland ist nicht gesunken, sondern gestiegen. Man hat zwar das Bankenwesen gerettet, aber die Staaten und insbesondere die Sozialstaaten, wenn Sie so wollen, praktisch weiter in die Verelendung geführt. Wir haben mit Italien einen latenten Krisenkandidaten und wir haben in Frankreich eine schwierige Situation, um es mal so zu sagen. Und in der Situation reicht es unseres Erachtens nicht, den Euro und die Banken und das Finanzsystem zu stabilisieren, sondern wir müssen die Ökonomien insgesamt stabilisieren. Deswegen haben wir vorgeschlagen, einen Marshallplan für Europa aufzulegen, das heißt ökonomisch durchzustarten, sozusagen ein aktuelles Konjunkturprogramm mit einem Strukturprogramm zu verbinden, um ökonomisch die Starken überhaupt wieder in die Situation zu bringen, dass sie gesunden können.

    Schröder: Marshallplan, Herr Sommer, das klingt zwar gut, aber …

    Sommer: Das ist auch gut.

    Schröder: ... scheint derzeit doch nicht wirklich durchsetzbar.

    Sommer: Wenn jetzt zum Beispiel die Bundeskanzlerin mit dem französischen Staatspräsidenten ausgemacht hat, dass sie am 3. Juli hier in Berlin einen großen Gipfel gegen Jugendarbeitslosigkeit machen wollen, und sie nennen das Ganze dann auch noch "New Deal" …

    Schröder: ... mit einem Volumen von sechs Milliarden Euro.

    Sommer: … ja, dann ist das nicht ausreichend, aber schon der Versuch, auf die notwendigen Forderungen, auf die Notwendigkeiten einzugehen, weil natürlich sie, gerade bei der bekannten Jugendarbeitslosigkeit, auch zwei Sachen sehen müssen: Sie müssen jetzt so schnell wie möglich sehen, zum Beispiel durch – nennen wir es mal bewusst ein bisschen nicht schön – "Warteschleifenmaßnahmen", Jugendliche in Ausbildung zu holen, in Qualifizierungsmaßnahmen zu holen, Beschäftigungsprogramme zu holen, in klarem Wissen, dass das das Problem ja nur verlagert oder man Zeit gewinnt, aber nicht eigentlich löst. Lösen tun sie es nur dann, wenn sie in Spanien oder in Griechenland oder in Italien die Ökonomie wieder so hoch bringen, dass die jungen Menschen dort auch eine Chance haben, zu arbeiten. Das heißt, sie müssen Kurzfristmaßnahmen wie zum Beispiel Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit verbinden mit langfristigen ökonomischen Maßnahmen. Deswegen werden sie in die Infrastruktur investieren müssen, in gemeinsame Projekte investieren müssen, in Breitbanken investieren müssen, in die Energiewende investieren müssen. Dann wird Europa übrigens sozusagen auch wie Phoenix aus der Asche aus der Krise kommen können. Wenn man das nicht tut, wird sich die Krise weiter verschärfen. Sie sehen das, man kann nicht gegen die Krise sparen, durch Sparen in die Krise wird die Krise noch verschärft.

    Schröder: Wie groß sehen Sie die Gefahr, dass der Euro scheitert, dass es keine Lösung gibt?

    Sommer: Ich glaube, wir waren schon größer in Gefahr, dass der Euro scheitern kann. Einige Maßnahmen haben stabilisierend gewirkt, insbesondere die Rettungsprogramme. Ich sehe vielmehr die Gefahr, dass Europa politisch und demokratisch scheitert. Und dann ist natürlich auch der Euro kein gemeinsames Projekt mehr. Wir haben immer mehr die Situation, dass Menschen sich abwenden von diesem demokratischen Europa, weil sie in diesem Europa nicht die Lösung ihres Problems sehen, sondern eigentlich die Ursache ihrer Probleme sehen. Und wenn man das anders machen will, dann muss man mehr tun, als nur den Euro zu stabilisieren.

    Schröder: Sind Sie mit der Führungsrolle, die Angela Merkel – die ja auf die Sparprogramme drängt, dass die eingehalten werden – sind Sie mit ihrer Führungsrolle zufrieden?

    Sommer: Im Gegenteil, ich bin völlig unzufrieden mit dieser Art von Politik. Übrigens macht Angela Merkel genau das Gegenteil in Europa, was sie in Deutschland 2008 bis 2010 getan hat. 2008 bis 2010, also in der Lehman-Krise, hat sie die sozial- und wirtschaftspolitischen Akteure zusammengeholt. Wir haben uns zusammen in die Augen geguckt und haben gesagt, wir lassen dieses Land nicht vor die Hunde gehen. Was haben wir gemacht? Kurzarbeit, tarifpolitische Lösung, Betriebe gerettet, die Banken gerettet, Konjunkturprogramm gemacht. Und was macht sie heute in Europa? Sie forciert den Abbau der Tarifautonomie, sie forciert den Abbau von sozialen Rechten. Und deswegen sage ich Ihnen, wenn Merkel das Programm auf Europa übersetzen würde, was sie in Deutschland selber betrieben hat 2008 bis 2010, dann ginge es Europa besser. Aber das ist das Gegenteil dessen, was sie momentan predigt.

    Schröder: Inzwischen werden aber auch in Deutschland die Stimmen lauter, die sagen, wir müssen den Ländern, die in Schwierigkeiten stecken, einen Weg aus dem Euro ebnen, ihnen diese Option verschaffen. Zum einen gibt es die Alternative für Deutschland, eine neue eurokritische, skeptische Partei. Die Stimmen mehren sich aber auch in der Linkspartei. Wie bewerten Sie das? Kippt die Stimmung in Sachen Euro?

    Sommer: Also, erstens hatten wir auch in der Phase der verschiedenen Euro-Rettungsprogramme immer wieder notwendige öffentliche und kritische Diskussionen. Und dass sie jetzt insbesondere in den linkssektiererischen Teilen der Linkspartei, und auf den Teilen der politischen Rechten gegen den Euro sammeln, überrascht mich nicht. Beide übrigens mit unterschiedlichen Motivationen. Aber es gibt keine vernünftige Alternative dazu. Und, dass es dann Kritik an beiden Rändern gibt, ist genau so klar, wie es auch einen Schäffler in der FDP gibt, der ja auch zu denjenigen gehört, die meinen, das ginge nicht, oder auch ein paar Politiker in der CDU. Das gehört mit zum politischen Meinungsspektrum, nur politisch vernünftig ist es nicht.

    Schröder: Das Interview der Woche mit Michael Sommer, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Herr Sommer, Deutschland steht derzeit, noch muss man vielleicht sagen, wirtschaftlich glänzend da. Wie lange kann sich Deutschland von der Krise in Europa abkoppeln?

    Sommer: Also, erstens stehen wir noch gut da, und das ist auch gut so, auch ein Gewerkschaftsvorsitzender freut sich über gute Beschäftigungszahlen, eine gute Konjunktur, über Menschen, die sicher leben und die eine sichere Perspektive haben, wenngleich wir sehen, die Gefährdungen für unser Land nehmen zu. Ich glaube, die Annahme, Deutschland könne auf lange Zeit sozusagen eine Insel der Glückseligen in einem Meer der Krise sein, geht nicht. Sie sehen, dass die Einschläge näherkommen. In Teilen zum Beispiel der deutschen Automobilindustrie, insbesondere die ihre Exporte insbesondere auf den Süden Europas beziehen, haben wir deutliche Einbrüche. Wir haben Einbrüche im Logistikbereich. Wir haben auch eine krisenhafte Situation bei Stahl, das noch aus anderen Gründen, nicht nur aus Gründen des Euros. Aber insgesamt sehen wir, dass das labil ist. Ich will jetzt bewusst nicht eine Krise herbeireden, die ich nicht will. Ich sage nur, wer die Krise nicht will, muss heute gegenstarten. Und dieses Gegenstarten reicht nationalstaatlich alleine nicht. Das ist auch einer der Gründe, warum wir ein ökonomisches Zukunftsprogramm für Europa wollen, weil wir damit sozusagen die Krise von uns fernhalten könnten. Ich glaube nicht, dass wir über den Berg sind. Wir könnten über den Berg kommen, aber zu meinen, das alleine würde reichen, das glaube ich nicht. Wir brauchen auch eine ökonomische Stabilisierung, weil Sie sehen, auch die Konjunkturdaten gehen zurück. Auch der Arbeitsmarktaufschwung ist bei Weitem nicht so, wie wir ihn erhofft haben. Und deswegen braucht man Gegenmaßnahmen. Und die muss man allerdings europäisch anlegen.

    Schröder: Herr Sommer, Sie sind seit elf Jahren Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Im Mai nächsten Jahres läuft Ihre Amtszeit aus und Sie haben sich entschieden, nicht zu verlängern. Schließlich sind die Gewerkschaften ja gegen die Rente mit 67. Was wird bleiben von der Ära Sommer als DGB-Vorsitzender? Was hinterlassen Sie Ihrem Nachfolger als Erbe?

    Sommer: Ich glaube, dass ich zwei Punkte wirklich den Gewerkschaften hinterlasse, auf denen sie aufbauen können – nicht alleine, aber ich habe da meinen Beitrag dazu geleistet. Das eine ist die klare Hinwendung hin zur Rolle der Einheitsgewerkschaft, zur parteipolitischen Unabhängigkeit. Das halte ich für eins der großen Punkte, die wir beibehalten müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen, dass wir zwar nicht unpolitisch agieren, im Gegenteil, wir agieren ganz hart politisch, aber dass wir nicht parteipolitisch agieren und uns auch nicht parteipolitisch instrumentalisieren lassen. Und das Zweite ist, dass wir uns wieder auf das konzentrieren, was wir sind. Die Gewerkschaften sind nicht irgendeine Ersatzpartei. Wir sind auch nicht irgendein Sozialverband. Wir sind auch nicht irgendeine x-beliebige NGO. Wir sind die Organisation der Arbeit, wir sind die Interessenvertretung der Arbeit. Da liegt unsere Kompetenz, da liegt unsere Stärke und da liegt unsere Glaubwürdigkeit. Und immer, wenn wir diesen Pfad geradeaus gehen, dann sind wir gut. Und wenn wir uns sozusagen auf Nebenkriegsschauplätze begeben, dann werden wir schlechter. Und das will ich nicht. Das ist das, was ich hinterlasse.

    Schröder: Inzwischen haben die Gewerkschaften ja auch ihren Mitgliederschwund stoppen können, aber gravierende Probleme sind nach wie vor ungelöst. Stark sind die Gewerkschaften dort, wo sie gut organisiert sind, in der Industrie, Metall, Chemie, öffentlicher Dienst. Schwach sind sie im Dienstleistungsbereich, gerade dort, wo – wir haben darüber gesprochen – prekäre Beschäftigungsverhältnisse zunehmen. Warum gelingt es Ihnen nicht, dieses Ungleichgewicht zu mindern?

    Sommer: Es ist ein unglaublich schwieriges Problem wegen der unterschiedlichen Betriebsgrößen, wegen der gewerkschaftlichen Kultur, wegen der Tatsache, welche Menschen wie dort arbeiten. Zum Beispiel sie arbeiten ja vielfach mit Firmen und in Organisationsbereichen, wo die Menschen zwei, drei Jobs brauchen, um überhaupt überleben zu können. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite will ich Ihnen sagen, ich glaube, gerade dieses vergangene Jahr, die vergangenen Monate haben gezeigt, dass wir jetzt einen Weg auch finden, wie wir uns dem Problem nähern. Denken Sie an die ganz schweren Arbeitskämpfe zum Beispiel im Bereich der Flugsicherheit, wo wir erfolgreich waren gegen eine öffentliche Meinung, wo es uns gelungen ist, etwas aufzubauen. Wir fangen jetzt zum Beispiel bei Amazon an – also de Gewerkschaft Ver.di – dort erfolgreich Arbeitskämpfe zu machen. Die IG BAU hat im Bereich der Gebäudereinigung vor drei Jahren sozusagen den Durchbruch tarifpolitisch erzielt. Das heißt, wir haben mit der Hinwendung, die auch in den letzten Jahren bei uns verstärkt wurde, hin wieder zum Betrieb, zur Organisierung am Arbeitsplatz, durchaus Erfolge. Das braucht seine Zeit, aber wir haben deutliche Erfolge.

    Schröder: Herr Sommer, wenn ich ein Beispiel dagegen setzen darf: Im Einzelhandel stehen in diesem Jahr ja auch Tarifverhandlungen an. Da sind Sie kaum noch konfliktfähig, weil die Arbeitgeber zum Teil aus dem Verband ausgetreten sind, weil es Ihnen auch kaum noch gelingt, etwa die Kaufhäuser, die Supermärkte wirklich ernsthaft zu bestreiken. Also, Fortschritte sieht man hier nicht.

    Sommer: Warten wir mal ab. Also erstens, wir stehen am Beginn dieser Tarifauseinandersetzungen. Ich glaube übrigens an einer Stelle, dass Ihre Diagnose an dem Punkt stimmt, nicht, was unsere Stärke anbetrifft, sondern was die Schwere der Auseinandersetzung anbetrifft. Das ist, glaube ich, die schwerste Tarifrunde, die wir in diesem Jahr zu bestehen haben. Der Angriff läuft ja darauf hinaus, dass alle Manteltarifvertragsbestimmungen gekündigt worden sind durch die Arbeitgeber und dass gleichzeitig große Handelskonzerne aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten sind. Das macht die Situation wesentlich schwieriger. Das ist eine ganz schwierige Kampfsituation. An der Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen im Einzelhandel, sich zu engagieren, wird es mit Sicherheit nicht liegen. Es wird eine schwierige strategische Aufstellung, aber ich glaube, dass wir sie meistern können, dass wir sie auch meistern können damit, dass wir dann beides machen, sowohl die Organisierung einer gesellschaftlichen Bewegung – die wird dazugehören – als auch die Organisierung von Abwehrkämpfen in den Betrieben selbst.

    Schröder: Herr Sommer, ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Sommer: Bitte schön.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.