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Dialoge des trockenen Humors

Erweise Dich Deiner Herkunft als würdig, indem Du sie mit der geborenen und gebotenen Autorität betonst! Leider misslingt dieser Rat der Großmutter dem Enkel völlig. Als niemand auf seinen Adelstitel mit gebotenem Respekt reagiert, schwenkt der Enkel von der Bürde des Durchsetzens auf die "Würde des Lügens" um. Joachim Zelter lässt Dialoge des trockenen Humors entstehen, denen Monica Bleibtreu und Dietmar Mues im Hörbuch ihre Stimmen leihen.

Von Florian Felix Weyh | 18.09.2008
    Um die Ecke einkaufen zu gehen, ist eigentlich eine leichte Übung. Es sei denn, man zählt erst fünf, sechs Jahre, wächst bei der Großmutter auf und trägt einen besonderen Namen, der einen - so meint die Großmutter - beim Krämer als kreditwürdig ausweist. Dann nämlich muss man ihn außerordentlich prononciert aussprechen, damit er die gewünschte Wirkung erzielt:"

    - "Von und zu ... Witzleben.
    - Noch mal!
    - Von und zu Witzleben.
    - Noch mal!
    - Vonundzuwitzleben ... Vonundzuwitzleben ... Vonundzuwitzleben ... ich übte stundenlang. Ich fragte meine Großmutter, warum sie den Namen nicht auf den Einkaufszettel schreibt, damit die Leute im Geschäft ihn lesen können.
    - Don’t be absurd!""

    Anspruchslos ist diese Großmutter mit den englischen Floskeln auf den Lippen wahrlich nicht, und hart ihre Lebensschule. Wichtigste Lektion: Erweise Dich Deiner Herkunft als würdig, indem Du sie mit der geborenen und gebotenen Autorität betonst!

    Leider misslingt das dem Enkel völlig, weswegen er beim zweiten Anlauf - wieder reagiert niemand angemessen auf den Adelstitel -, die Bürde des Durchsetzens umgeht, indem er zur "Würde des Lügens" umschwenkt: Nicht beim Krämer spielt er die zugedachte Rolle perfekt, sondern zu Hause, beim Rapport. Denn die Großmutter will ja keineswegs die ernüchternde Wahrheit der eigenen Bedeutungslosigkeit hören, sondern bloß ihr aristokratisches Weltbild bestätigt sehen. Also beginnt der Enkel heftig zu flunkern:"

    - "Ich habe mich vorgestellt. Sie haben mir die Tür aufgehalten. Dann boten sie mir einen Stuhl an.
    - Wie rührend!
    - Sie gaben mir eine Wurst. An der Fleischtheke suchten sie nach gutem Fleisch. Sie versprachen mir das beste Fleisch in der Stadt. Sie suchten das ganze Geschäft ab. Die Frau zeigte mir das Fleisch. Ihr Mann aber sagte: 'Nicht doch, nicht doch.' Er hatte Angst, das Fleisch könnte nicht gut genug sein. Er fragte eine Dame: 'Können Sie nicht Ihr Fleisch dem jungen Herrn da geben. Es ist für von und zu Witzleben.' Da hat die Dame ihr Fleisch mir sofort gegeben.
    - Ach wie rührend!
    - Wann immer andere Leute etwas ihrem großen Namen zu Füßen legten, sagte sie:
    - Ach wie rührend. Das ist ja rührend!""

    Damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Wer einmal lügt, um die in ihn gesetzten Erwartungen zu umgehen, kommt aus der Chose nicht mehr raus. Vor allem, wenn die Großmutter mit jedem zweiten Satz betont, ihr Leben habe sich erst mit der Geburt des Enkels zum Guten gewendet. Zuvor gefiel ihr nichts, aber auch gar nichts daran:"

    - "Der Vater meiner Großmutter?
    - Er war letztlich eine Enttäuschung.
    - Und auch ihre Mutter:
    - Von Anfang an eine Enttäuschung!
    - Die Geschwister meiner Großmutter?
    - Ein Fehlschlag nach dem anderen.
    - Ihre Onkel und Tanten:
    - Leere Versprechungen.
    - Der Weihnachtsmann:
    - Ein Dilettant. Nüsse flogen durch das geöffnete Fenster an meinen Kopf, und ich eilte zum Fenster und schaute hinaus, und wen sah sie da: den eigenen Vater, der sich auf quietschenden Sohlen davonmacht.
    - Das erste und einzige Fahrrad meiner Großmutter:
    - Es war gar kein Fahrrad, sondern eher ein Roller.
    - Ihr Geburtstag viel zu kurz!
    - Der kürzeste Tag im Jahr, der 21. Dezember, ein Hohn!
    - Das Pferd des Vaters:
    - Ein bockiges Maultier.
    - Die Winter?
    - Grau und matschig.
    - Die Sommertage?
    - Lau und regnerisch!
    - Die Schule?
    - Was wollte ich auf einer solchen Schule?!
    - Der erste Weltkrieg?
    - Eine Niederlage!
    - Ihr Spiegelbild?
    - Ein Hoffnungsschimmer.""

    Monica Bleibtreu und Dietmar Mues, diese zwei phantastischen Schauspieler, haben sich eines Schelmenromans von Joachim Zelter angenommen und ihn auf 75 Minuten verdichtet. Gewiss, das kann nur ein Exzerpt sein - doch was für eines!

    Der trockene, britische Humor des anglophilen Autors gelangt in der dialogischen Fassung vor erheitertem Publikum zur höchsten Blüte. Denn was der Enkel rückblendend über sein Leben mit der blaublütigen Großmutter in den 60er- und 70er-Jahren zusammenfabuliert, wird von Lügengeschichte zu Lügengeschichte immer absurder. Die unbedingte Leistungsforderung der Großmutter prallt auf den nicht minder zähen Leistungsverweigerungswillen des Enkels, und beide fachen sie sich gegenseitig an.

    Wer wen belügt - der Ich-Erzähler seine Zuhörerin, der Autor Zelter die Leser - lässt sich schon bald nicht mehr entscheiden, doch was macht das schon? "Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners", hören wir zu Beginn, und wenn bei diesem Prozess solch fulminante Szenen wie eine hier leider nicht angemessen dokumentierbare, parodistische Heidegger-Episode herauskommen, kann man sich glücklich schätzen.

    Darum, ums Glück, geht es letztlich auch dem Protagonisten. Indem er die Bildungsambitionen der Großmutter scheinbar erfüllt, trägt er zu ihrer späten Lebensbefriedigung bei. Allerdings ... auch im Schwindel heißt es, um der Glaubwürdigkeit willen Maß zu halten:"

    - "Bist du jetzt Doktor?
    - Nein, ich bin Magister.
    - Magister?
    - Magister Artium.
    - Artium?
    - Auf Deutsch: Meister der Künste.
    - Meister? Hausmeister!
    - Nein, Meister der Künste!
    - Künstler?
    - Nein, kein Künstler, sondern Meister der Künste, Magister Artium mit Auszeich-nung.
    - Mit Auszeichnung?
    - Ja, mit Auszeichnung! Ich erklärte ihr in einer Sondersendung: Magister Arti-um, abgekürzt M. A., mit Auszeichnung, abgekürzt M.A., macht per Saldo M.A. hoch zwei. Ich wiederhole: M.A. mal M.A. = M.A. hoch zwei bzw. M.A.M.A. Ich bin MAMA.
    - MAMA?
    - Ja, MAMA.
    - Und was ist mit dem Doktor?""

    Mit dem Doktor ist nichts, aber den besitzt ja der Autor des literarischen Vergnügens, Joachim Zelter, dessen Dissertation - nicht ganz zufälliger Titel: "Sinnhafte Fiktion und Wahrheit" - die unverschämte Widmung trägt: "Oscar Wilde und mir selbst".

    Zu frech für den akademischen Betrieb, dieser Mann, weswegen man ihn unterstützen sollte, indem man nach dem Genuss des Hörbuchs auf den umfangreicheren Roman aus dem Jahr 2000 zurückgreift. Eben hat ihn der Tübinger Verlag Klöpfer&Meyer neu aufgelegt, und mit den Stimmen von Monica Bleibtreu und Dietmar Mues im Ohr liest er sich wie ganz von selbst.

    Joachim Zelter: Die Würde des Lügens
    Gelesen von Monica Bleibtreu und Dietmar Mues,
    Hörbuch Hamburg, 75 Minuten