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Didier Eribon: "Theorien der Literatur"
Die Sprengkraft literarischer Texte

Die Literatur ist klüger als die Theorie, findet der französische Soziologe und Autor Didier Eribon. In seinem neuen Werk "Theorien der Literatur" zielt er darauf ab, in der Literatur eine Komplizin zu finden - im Widerstand gegen Macht und Unterdrückung.

Von Guido Graf | 31.05.2019
Zu sehen ist der Autor Didier Eribon und das Cover seines Buches "Theorien der Literatur".
Proust etwa nimmt in seiner "Suche nach der verlorenen Zeit" eine Theorie der Homosexualität vorweg, so Didier Eribon in seinem neuen Werk "Theorien der Literatur" (Autorenfoto: picture alliance / dpa / Arne Dedert; Buchcover: Passagen Verlag)
Der Titel ist irreführend. Es soll um Literatur und Geschlecht gehen. Darum, wie Literatur mit Geschlechtlichkeit verfährt, wie sie Rollen codiert und von geschlechtsspezifischen Sprachregistern codiert wird. Denn natürlich arbeitet die Literatur an der Definition normativer Codes für geschlechtliche Identitäten kräftig mit. Interessant wäre auch gewesen, etwas über die Geschichte der Literaturtheorie in Bezug auf Genderfragen zu lesen. Welchen Auffassungen von Autorschaft etwa verdanken sich überhaupt erst einem geschlechtlichen blinden Fleck?
Doch um Theorie scheint es Didier Eribon gar nicht zu gehen. Er geht viel unmittelbarer vom einzelnen literarischen Werk aus. Eribon, der im deutschsprachigen Raum zunächst als Biograf Michel Foucaults bekannt geworden ist und dann mit seiner politischen Autobiografie "Rückkehr nach Reims" glaubt vielmehr, "dass ziemlich häufig literarische Werke reicher an existenziellen, politischen und theoretischen Beobachtungen sind als viele auf dem Gebiet der Philosophie oder der Sozialwissenschaften veröffentlichte Arbeiten (und das umso mehr, als diese Letzteren schon längst auf jeden konzeptionellen Ehrgeiz verzichtet zu haben scheinen, und zwar im Namen der unfruchtbaren Dogmen von Empirie und Feldforschung, gepaart mit dem ständigen Bemühen, zwischen den Disziplinen Grenzen zu ziehen und Mauern aufzurichten)."
Literatur prägt Weltvorstellung und sexuelle Normen
Das ist natürlich wichtig und inspirierend, aber auch nicht ganz neu. Die italienisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Teresa de Lauretis hat bereits in den 80er und 90er-Jahren in zahlreichen Veröffentlichungen gezeigt, wie insbesondere in der Literatur des 20. Jahrhunderts zahlreiche theoretische Entwürfe des Feminismus oder der Semiotik angelegt sind. Einen Unterschied, den Eribon nun macht, kann man in dem einen Buchstaben finden, der im Titel den Plural markiert. Von Theorien der Literatur in der Mehrzahl zu reden, betont das Potential von literarischen Texten, als theoretische Botenstoffe zu fungieren, ohne dabei gleich immer auf einen schlüssigen Zusammenhang angewiesen zu sein.
In der Literatur werden Vorstellungen von der Welt ausgedrückt, Ideen finden Verbreitung in Form von Geschichten und Bildern. Dass davon auch die Bildung von Geschlecht und Identität betroffen ist, sollte eigentlich eine banale Einsicht sein. Doch in Literaturwissenschaft und ästhetischer Theorie sind da noch dicke Bretter zu bohren.
Wie nun das Denken der Sexualität in Erscheinung tritt unter Bedingungen, die wir Literatur nennen, ergäbe eine gute und große Sammlung von entsprechenden Theorien. Insbesondere in Bezug auf Marcel Proust, Jean Genet, Robert Musil oder Elfriede Jelinek ist in der Vergangenheit auch schon wiederholt untersucht worden, wie Sexualität zum ordnenden Prinzip einer poetischen Logik wird.
Prousts Theorie der Homosexualität
Dass Proust etwa eine Theorie der Homosexualität formuliert, mit den Mitteln des Erzählens in seiner "Suche nach der verlorenen Zeit", ist für Eribon der Ausgangspunkt. Vor allem in dem Band "Sodom und Gomorrha" lässt Proust den Baron de Charlus zu Beginn einiges aus den psychiatrischen Schriften seiner Zeit über Homosexualität in seine Rede übernehmen. Doch nun will Eribon nicht wie zahlreiche seiner Vorgängerïnnen den Fehler begehen, die Figurenrede als Theorie zu lesen. Denn Prousts Roman inszeniert eine Figur, die glaubt, vor den Augen der anderen zu verbergen, was sie ist, doch der Erzähler und diese anderen spielen mit dem Wissen, das sie über ihn besitzen.
"Er lässt sich keine Gelegenheit entgehen, dem Leser eine Theorie zu skizzieren, die zwar nicht als eine solche thematisiert wird, die zwar aus losen Fragmenten zu bestehen scheint, aus zusammenhanglosen Bemerkungen, die zwar eine spontane Theorie ist, eine ProtoTheorie, und die eher einer langen, obsessiven und manchmal widersprüchlichen Plauderei gleicht als einer gründlichen Reflexion, jedoch nichtsdestoweniger einen von einem Homosexuellen gehaltenen Diskurs über die Homosexualität darstellt, der ganz und gar nicht dem entspricht, was vom heterosexuellen Erzähler über jenen gesagt wird."
Neben Proust befasst sich Eribon hauptsächlich mit Genet. Das muss für die Theorien der Literatur reichen. Das literarische Wissen, das Eribon hier eigentlich beobachtet, erzählt viel vom normativen Charakter des Geschlechts, von Wirkungen und Machtverteilungen, aber eben in Bezug auf Homosexualität. Zweifellos legitim und überzeugend funktioniert dieses Gender Reading, doch steht es letztlich auf zu schmaler Basis, um tatsächlich von Theorien der Literatur reden zu können. Eribon sieht das durchaus selbst:
"Wir sehen also, dass das literarische Werk dazu neigt, seine Theorie der Sexualität schon aufzulösen, während es sie noch errichtet, sie schon zu dekonstruieren, während es sie noch konstruiert, oder genauer, dass ein theoretischer – oder pseudotheoretischer – Diskurs mit universellem Anspruch auf den Widerstand eines anderen theoretischen – oder pseudotheoretischen – Diskurses (oder mehrerer) trifft, die ihn in Frage stellen, ihn umgehen, ins Leere laufen lassen, kurz gesagt: ihn zurückweisen, um andere vorzubringen."
Widerstand gegen gesellschaftliche und individuelle Machtsysteme
Dass die Literatur also ihre Noch-nicht-Theorie der Sexualität immer gleich wieder selbst schreddert, könnte auch damit zusammenhängen, dass die Literatur keine Tendenz hat, die Welt theoretisch zu erfassen, sondern mit ihrer Eigendynamik eher Notwendigkeiten schafft, anders auf die Welt zu schauen, Kontexte herzustellen und ihr mit theoretischer Reflexion zu begegnen.
Einen blinden Fleck schafft sich Eribon aber vor allem dadurch, dass er, was die literarischen Texte betrifft, allein von männlicher Homosexualität ausgeht und dann auch noch von großen Schriftstellern. Dass er damit unbefragt einen klassischen Topos geschlechtsspezifischer Literaturgeschichtsschreibung übernimmt, kommt Eribon nicht in den Sinn. Weibliche Texte finden im wichtigsten Kapitel des schmalen Buches Eingang in den Diskurs. Es sind Theoretikerinnen wie Simone de Beauvoir und Judith Butler, auf die sich Eribon bezieht, wenn er nach Konsequenzen sucht aus der Diagnose, dass im theoretischen Wissen literarischer Texte eine gehörige Sprengkraft liegt für die Fiktionen der Geschlechtlichkeit, mit denen unser alltägliches Leben strukturiert wird.
Da kommt Eribon schließlich auch wieder auf das Thema, das er in seinem so erfolgreichen Buch "Rückkehr nach Reims" verfolgt hat: die Suche nach einem Widerstand gegen gesellschaftliche und damit auch individuelle Machtsysteme, der in der komplizenhaften, symbolischen Natur literarischen Schaffens wiederzufinden ist.
"Dieser alltägliche Widerstand, Widerstand in der Inbesitznahme öffentlichen Raumes, in der Kleiderwahl, Widerstand im literarischen und künstlerischen Schaffen ebenso wie im Denken, muss als einer der fundamentalsten Vektoren für das Einsetzen direkter oder indirekter Konfrontationen mit der normativen Ordnung und mit den Zwängen und Zuweisungen, die sie in der Subjektivitätsbildung aufdrängt, angesehen werden."
Eribons "Theorien der Literatur" sind keine Theorie, sondern unfertige Texte, Skizzen für eine Theorie der Literatur als Widerstand: als Widerstand gegen die Vereinnahmung durch sexuelle Machtstrukturen, gegen Identitätsnormen, gegen jede Form eines gesellschaftlichen wie auch ästhetischen Zwangs.
Didier Eribon: "Theorien der Literatur. Geschlechtersystem und Geschlechtsurteile"
Aus dem Französischen von Christian Leitner. Passagen Verlag, Wien, 88 Seiten, 11,30 Euro