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Die 102 Boyz
Exzess in Dauerschleife

Die 102 Boyz aus dem ostfriesischen Leer besetzen eine Nische im deutschsprachigen Rap: hart und aus dem Niemandsland. Die perfekte Projektionsfläche für Rap-Fans, auch in großen Städten. Denn ihr Dauerthema ist Deutschlands Droge Nummer 1.

Axel Rahmlow im Kollegengespräch mit Bernd Lechler | 30.11.2019
Gruppenbild 102 Boyz
Trinken gerne mal ein Bier: Die 102 Boyz (www.imago-images.de)
Bernd Lechler: Die Zentren des Rap in Deutschland sind zum Beispiel Berlin, Frankfurt, Hamburg, Großstädte eben. Denn Rap ist Großstadtmusik, meistens jedenfalls. Die niedersächsische Kleinstadt Leer an der Grenze zu Holland hat nur 34.154 Einwohner und ist trotzdem in der Hip-Hop-Szene seit gut zwei Jahren ein Begriff, denn sechs dieser Einwohner sind die 102 Boyz. An diesem Wochenende geht die aktuelle Deutschlandtour der Ostfriesen zu Ende. Auf der präsentieren sind die drei Alben, die sie in den letzten zwölf Monaten veröffentlicht haben: "Asozial Allstars 1", "Asozial Allstars 2" und "Asozial Allstars 3", die bei Spotify oder YouTube Klickzahlen in den Millionen haben. Corso-Kritiker Axel Rahmlow beobachtet die 102 Boyz schon länger. Herr Ramelow, für alle, die die Band nicht kennen, klingen die Alben denn abwechslungsreicher, als sie heißen?
Axel Rahmlow: Also, man kann die Alben vielleicht am Album-Cover unterscheiden. Aber wenn wir jetzt mal auf die inhaltliche oder auf die musikalische Ebene gehen, dann definitiv nicht. Der Sound der ist in der Regel dieser aggressive, schleppende Sound, den wir auch gerade schon gehört haben. Und das ist auch inhaltlich alles auf dem gleichen Level. Das Lied gerade, das war "Saufen", und das ist die Grundaussage. Das geht bis hin zu einem Niveau, wo ich sagen würde, das verherrlicht auch Alkoholsucht. Man muss jetzt natürlich auch sagen Drogen spielen im Rap ja oft eine Rolle, oft auf einem ungesunden Level. Viel geht es ums Kiffen, es geht auch um Kokain und chemische Drogen. Die sind hier aber die ersten, die über das Trinken rappen und zwar auf einem Niveau, wo wirklich Alkoholexzess der Grundmodus ist - und das eben auch auf dieser harten Musik. Das gibt es nur bei denen, und ich jetzt als heute, Axel Rahmlow, als Mitte-30-Jähriger, ich finde das nicht cool, aber ich verstehe, warum das so erfolgreich ist.
Lechler: Warum ist das so erfolgreich?
Rahmlow: Weil Rap ist immer eine große Projektionsfläche für viele der Hörer, um sich selber rebellischer fühlen zu können, als man eigentlich ist. Ich habe mir gerade mal die Videos von der aktuellen Tour angesehen. Das sind im Publikum vor allem Jungs so ab 16, 17 bis vielleicht Mitte 20. Und wenn ich mich dann an meine eigene Jugend erinnere, ähnlich wie bei denen, in einer Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern, in etwa so groß wie das niedersächsische Leer, da, wo die herkommen, und dann muss ich sagen, ich hätte das auch cool gefunden, weil ich selber, ich war gar nicht so anti und so asozial, wie ich mich manchmal fühlen wollte und sowas wie Langeweile und sinnlos rumhängen und rumtrinken und auch zu viel trinken - das kennen unglaublich viel Kleinstadt-Kinder, ob es jetzt um Alkohol geht, aber auch um andere Drogen natürlich, aber eben nicht auf diesem intensiven, pöbelnden Level, wie das hier die 102 Boyz präsentieren.
Echtes Proletentum?
Lechler: Da stellt sich dann die Frage, die sich auch beim Gangsterrap immer stellt: Sind die so oder tun die nur so?
Rahmlow: Also Rap ist immer zum gewissen Teil auch Image. Und ich kann jetzt nicht in Prozentzahlen beantworten, wie viel bei denen echtes Proletentum ist und wieviel davon Image ist. Aber wenn ich mir jetzt mal ihre Videoblogs anschaue, ja, dann sehe ich da auch oft einfach nur ein paar nette Jungs, die einfach viel trinken, die Drogen nehmen und die dann auf hart machen und sich dafür auch feiern. Und das, glaube ich, das fasziniert unglaublich viele Rap-Fans in den Provinzstädten überall in Deutschland, weil so als Kleinstadt-Jungs haben die 102 Boyz ein absolutes Alleinstellungsmerkmal, das aber eben zur Realität der allermeisten Jugendlichen in Deutschland schon passt. Und natürlich gibt es das dann auch in Berlin oder Hamburg, wo unglaublich viele Möchtegerns natürlich sind, die auch gerne mal ein echter Lehrerschreck wären und dann eben diese Lieder mitgrölen.
Lechler: Also, Sie haben schon gesagt, wir sind wahrscheinlich zu alt dafür. Aber es klingt schon überhaupt ein bisschen eindimensional. Wird es dann so ganz ohne Zwischentöne und Brüche nicht allen sehr schnell langweilig?
Rahmlow: Ja, also ich glaube, den kommt zugute, dass das Album als Kunstform für viele junge Hörer ja überhaupt keine Rolle mehr spielt. Ich kann mir, wenn ich möchte, auf den Streaming-Plattformen die Songs zu meinem eigenen Album zusammenstellen, die mir am besten gefallen. Also, ich kann sozusagen ein Best-of-Asozial-Alltars machen. Und es gibt in einigen Liedern schon Nuancen. Wenn ich mir jetzt wirklich Mühe gebe, kann ich das raushören. Zum Beispiel geht es eben auch mal darum, dass Kleinstadt eine Sackgasse ist oder das Saufen und Drogen nehmen, auch Sackgassen sind. Und dann geht es auch mal um die Angst vor der Zukunft oder um fehlende Perspektiven oder darum, wie Freundschaft dann alles dann doch irgendwie erträglich macht. Ich hab hier mal ein Beispiel, der Track heißt "Jungs mit Rückgrat"...
Das war "Jungs mit Rückgrat", aber ehrlich gesagt, das ist dann auch ziemlicher Rap-Standard, so ein Lied zu machen, weil das gibt es bei allen Gangster-Rappern. Zum Beispiel auch, dass es dieses eine Lied gibt, wo es dann darum geht, dass immer nicht so schön ist, Gangster zu sein.
Inhaltliche Eindimensionalität
Lechler: Und ist dann das potenzielle Publikum auch eher begrenzt? Oder hat das wie der Gangster-Rap ja auch zurzeit richtiges Hit Potenzial?
Rahmlow: Also, ich lege mich mal fest und sage, dass das nicht jenseits der engeren Rap-Fan-Gemeinde hinauswachsen kann, weil dieser aggressive Sound, dieser fast schon schreiende Rap - mir persönlich macht das Spaß zuzuhören, das hat live auch eine unglaublich brachiale Energie - aber um in einer breiteren Masse anzukommen, ist das alles viel zu viel. Da fehlt ein bisschen Leichtigkeit, da fehlt so ein bisschen das Melodische, und dazu kommt dann eben diese inhaltliche Eindimensionalität. Und das bleibt für mich also in dieser Nische drin. Die Tour, die sie jetzt gerade zu Ende bringen, die sie auch nächstes Jahr machen werden, die kommende Tour, das sind auch alles keine riesigen Hallen. Und richtige Rap Stars, die haben Klicks im zweistelligen Millionenbereich. Davon sind die 102 Boyz weit entfernt. Die machen aber eben auch keine Popsongs, und ich glaube auch nicht, dass sie damit noch anfangen werden.
Lechler: Das heißt, wenn Sie nächstes Jahr wieder auf Tour kommen, gibt es davor noch "Asozial Allstars 4", "5" und "6".
Rahmlow: Also, angeblich sollte "Asozial Allstars" nur eine Trilogie werden. Es müsste also faktisch nach dem dritten Teil Schluss sein. Aber ich würde es nicht ausschließen.