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Die 68er und die Bürger

1968 und die folgenden Jahre haben Verkrustungen in der Gesellschaft gesprengt, die Zeit des Aufbruchs lässt sich aber auch als Anfang einer Selbstanerkennung der Bundesrepublik beschreiben. Überall in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft wurde Teilnahme und Mitbestimmung eingeklagt. Davon handelt ein Sammelband, den der Historiker Habbo Knoch im Göttinger Wallstein herausgebracht hat.

Von Edgar Wolfrum | 21.05.2007
    "Mehr Demokratie wagen" - in diesem Wort des neuen Bundeskanzlers Willy Brandt aus dem Jahr 1969 schien sich eine ganze Epoche zu bündeln. An die Stelle des einstigen Erfolgsslogans von Konrad Adenauer "Keine Experimente" setzte Brandt nun sein Motto: "Keine Angst vor Experimenten". Es war ein pathetisches Bekenntnis zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft: weg mit der Untertanengesinnung, Belebung freiheitlich-demokratischer Tugenden, Brüder, nein Bürger: auf zur Sonne, zur Freiheit. "Wir wollen nicht den Bourgeois, sondern den Bürger" betonte Brandt immer wieder. Der "mündige Bürger" war mit einem Male in aller Munde, und zur Hochphase der sozialliberalen Koalition Anfang der 70er Jahre prägten Bürgerinitiativen und Debatten über "Bürgersinn" den Zeitgeist. Bundespräsident Gustav Heinemann nannte dies einen "Frühlingswind des Verlangens nach persönlicher Mitgestaltung" - Konservative hingegen sahen die Staatshoheit, die Autorität und die Stabilität in Gefahr. Was sollte man von einem "Bürgerpräsidenten", wie sich Heinemann selbst bezeichnete, auch halten, der auf die Frage, ob er Deutschland liebe, antwortete: "Ich liebe meine Frau"?

    Die politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland hatte sich offenbar erheblich gewandelt: "Partizipation" stieg zum Schlüsselbegriff auf, und dieser Bürgersinn verband sich in hohem Maße mit einem neuen Weltgefühl - eine politische Empathie mit Befreiungsbewegungen außerhalb Europas, in der "Dritten Welt".

    Diese neue Bürgerlichkeit unterschied sich von der alten grundlegend: nicht elitäres Bildungsbürgertum mit Bücherschrank, Geigen, Bratschen und Klavieren und von anderen Gesellschaftsteilen durch Klassenschranken getrennt, sollte es sein, vielmehr der kritisch mitdenkende, mitentscheidende und mitverantwortende Staatsbürger - der Citoyen, der "Jedermannbürger". Kurzum: Was "bürgerlich" sein sollte, löste sich von den Bindungen an eine bestimmte soziale Formation.
    In dem Band des Göttinger Historikers Habbo Knoch werden Konzept und Praxis dieser neuen Bürgerlichkeit erstmals umfassender untersucht.
    "Bürger" zu sein war 1968 ein ubiquitäres Schimpfwort, vielfältig besetzt mit der Kritik am bürgerlichen Staat, das hieß - vulgärmarxistisch gedacht - der Vorform des Faschismus. Bei den neuen sozialen Bewegungen und den ungezählten "Bürger"initiativen seit Mitte der 1970er Jahre war dies anders. Diese politische Bürgerlichkeit war nun Garant für eine innere Demokratisierung des Gemeinwesens. Der Sammelband exemplifiziert das, indem er einen weiten Bogen von maßgeblichen Intellektuellen über Lebensstile und Konsumbürger bis zur konservativen Tendenzwende und zum deutschen Herbst 1977 spannt. Auf dem Essener Katholikentag 1968 begrüßten kritische Gläubige ihren Bischof mit dem Spruchband "Hengsbach wir kommen, wir sind die linken Frommen". Eva-Maria Silies arbeitet in ihrem Beitrag heraus, wie der Streit um das neue Empfängnisverhütungsmittel "Pille" das katholische Milieu veränderte, wie die Debatte um die Pille zum Auslöser wurde für eine viel weiter gehende Auseinandersetzung über die Rolle und das Mitspracherecht der Laien in der katholischen Kirche. Die päpstliche Entscheidung, die Pille als moralisch verwerflich abzulehnen, obwohl dies den praktischen Lebenserfahrungen vieler Frauen widersprach, setzte einen Emanzipationsprozess in Gang, der weg führte von der katholisch-klerikalen Autorität. Ein neuer BürgerInnensinn im religiösen Bereich setzte einen Willen zur Mitsprache frei und veränderte die Kirchenpolitik.

    Die Analyse visueller Inszenierungen der "Kommune I", linker Subkulturen der 70er Jahre oder die der frühen Anti-AKW-Bewegungen bilden weitere mehr oder minder gelungene und bisweilen theoretisch sehr überfrachtete Zugriffe im Sammelband, die erklären sollen, wie es zu neuen Partizipationsformen kommen konnte. Hinzu tritt ein Beitrag von Jörg Requate über die Demokratisierung der Justiz, und von hier aus lässt sich der Bogen spannen zur "verunsicherten Republik" seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Neue Begriffe tauchten auf: "Unregierbarkeit", "Krisenhaftigkeit".

    Der "kritische Bürger" war plötzlich zum "Sicherheitsrisiko" geworden. "Radikalenerlass" und "terroristische Sympathisantenszene" - im Zeichen des RAF-Terrorismus erlebten konservative Gesellschaftsvorstellungen eine Renaissance. Nicolas Büchse verdeutlicht dies eindringlich. "Bürgerpflicht" verdrängte "Bürgerfreiheit", und laut einer Allensbachumfrage aus dem Jahr 1977 hielten 74 Prozent der Westdeutschen den Staat für zu schwach, um dem Terrorismus etwas entgegen setzen zu können. Mit der diagnostizierten Schwäche des Staates einher ging eine vehemente Kritik am Staatsverständnis der sozialliberalen Koalition. Das letzte Gefecht kämpften konservative Publizisten und Politiker nicht nur gegen den Terrorismus, sondern auch gegen die vermeintlich sozialdemokratische Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik. Grass und Böll vor allem waren Schmähungen ausgesetzt, und sie veranlassten Grass zu einem Brief an Bundeskanzler Schmidt:

    Zwar bin ich im Ertragen solcher Dinge hartgesottener als mein Kollege Heinrich Böll, doch wäre es in dieser Situation auch mein Wunsch, ein öffentliches Wort des Bundeskanzlers zu erfahren.

    Ein Gralshüter konservativer Staatlichkeit war der baden-württembergische Ministerpräsident und einstige Marinerichter Hans Filbinger. Nicht nur er sah in den "selbstmörderischen Liberalisierungsmaßnahmen" von SPD und FDP die Ursache für die Rote Arme Fraktion. Heinemann und Brandt wurden in die Nähe von Staatsfeinden gerückt. Beschworen wurde ein autoritäres Bürgerideal. "Mehr Demokratie wagen" - dies galt angesichts einer radikalen Minderheit im Land als Selbstaufgabe staatlicher Ordnungsmacht. Man habe es hier mit einer falschen, geradezu totalitären Auffassung von Volksdemokratie zu tun, tönte es von rechts. Indessen: Aus der schwersten Staatskrise, in der sich die alte Bundesrepublik je fand, kam sie einigermaßen unbeschädigt heraus. Und es schien paradox: In den folgenden Jahren erlebte bürgerliches Engagement eine neue Blütezeit und zwar außerhalb der etablierten Parteienlandschaft. Heterogen zusammengesetzte Bürgerinitiativen griffen die "Menschenfeindlichkeit" des Systems an und stabilisierten es zugleich. Die ehemals staatskritische Linke versöhnte sich im deutschen Herbst mit dem Staat, indem sie dessen Liberalität zu verteidigen suchte. Der konservative Roll-back blieb aus, und die "geistig-moralische Wende" sollte sich später als eine mediale Konstruktion entpuppen. Vielleicht, das macht der Band am Schluss deutlich, sind die meisten Bundesbürger doch bessere Demokraten geworden als ihnen manchmal unterstellt wird.

    Habbo Knoch (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren
    Wallstein Verlag, Göttingen 2007, 332 Seiten, Euro 32