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Die Ästhetik der Mythen und Riten

Im fotografischen Werk des 1902 in Paris geborenen Pierre Verger stehen die Riten und in Szene gesetzte Mythen im Mittelpunkt. Seine Reisen machten ihn zu einem profunden Kenner der brasilianischen candomblé-, der haitianischen voodoo- und der kubanischen santaría-Zeremonien. Die ästhetische Kraft der Fotografien ist jetzt im Bildband "Schwarze Götter im Exil" erkennbar.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 12.05.2005
    Riten sind inszenierte, in Szene gesetzte Mythen. Sie erschließen sich in ihrer Dichte, ihrer magischen Kraft und Faszination den daran Teilhabenden unmittelbar. Ist diese Fremdheit und Andersheit überhaupt in Fotografien darstellbar und vermittelbar? Oder wird aus dem in die Gesellschaft und in das soziale Leben integrierten Ritual purer Exotismus, wenn man sich die Fotografien auf Hochglanzpapier anschaut? Für einen Großteil der Bildbände und natürlich auch für die entsprechenden Filme über "Voodoo” und "fremden Zauber”, über die "Magie” Afrikas, Südamerikas und Asiens trifft dies tatsächlich zu. Es gibt nur wenige Ausnahmen, zum Beispiel Ulrike Ottingers und Michael Oppitz’ Filme, Leonore Maus und Pierre Vergers Fotografien.

    Der 1902 in Paris geborene Verger fotografierte von 1932 an für das ethnographische Museum in Paris, bereiste in den dreißiger und vierziger Jahren Asien, Afrika und Amerika und lebte von 1946 an bis zu seinem Tod 1996 in Salvador da Bahia/Brasilien. Vergleichbar den Forschungen Hubert Fichtes und den Fotografien seiner Lebenspartnerin Leonore Mau stehen auch in Vergers Werk (von 1946 an) die afro-brasilianischen Religionen im Mittelpunkt. Sein Hauptwerk Die Götter Afrikas, seine zahlreichen Fotobände, das nun vorliegende großformatige, in hervorragender Qualität gedruckte Katalogbuch und die gleichzeitige Ausstellung geben einen angemessenen Eindruck von diesem ungewöhnlichen Leben und Werk, das vor allem den Schwarzen Göttern gewidmet ist. Die Trance- und Besessenheitsbilder, die durch den Schriftsteller Georges Bataille sehr bekannt wurden, sind von einzigartiger ästhetischer und geschichtlicher Bedeutung, vor allem für die Erforschung des religiösen Synkretismus, das heißt für die Vermischungen zwischen afrikanischen und brasilianischen Traditionen. Aber Verger zeigt auch Menschen im Alltagsleben und bei der Arbeit, beim Vergnügen, beim Spiel, Tanz und Karneval, betont die gewöhnliche und die ekstatische Schönheit, Anmut und Stärke der Körper, in denen die Götter leibhaftig anwesend zu sein scheinen. Ganz ohne heldische Posen und ethnographischen Exotismus geht das natürlich nicht.

    "Ehrlich gesagt, interessiert mich die Ethnographie nur mäßig. Ich mag es nicht, Menschen zu erforschen, als handelte es sich um Käfer oder exotische Pflanzen. Was ich auf Reisen liebe, ist, mit den Menschen zusammen zu sein, ihnen bei einem Leben zuzusehen, das anders ist als meines, dann hat mich immer interessiert, was nicht ich war oder was mich bei den anderen an mich erinnerte."

    So äußerte sich Verger einmal, in entschiedener Ablehnung einer schein-objektiven Wissenschaft, die glaubt, sich ganz auf den neutralen Beobachter und Interpreten reduzieren zu können. Darin stand er dem Ansatz Hubert Fichtes und dessen Ethnopoesie sehr nahe. Fichte war es auch, der Verger in Deutschland etwas bekannter machte, nachdem er durch ihn Zutritt zu den sogenannten candomblé-Zeremonien bekommen hatte. Die kurze Freundschaft endete jäh, als Fichte Verger als Homosexuellen outete. Auch kritisierte Fichte die Beschreibungen und Deutungen des mysteriösen und reichen "Pierri” (wie er ihn nannte), sah seine Stärke eindeutig in der Fotografie und bedauerte, dass dieser Nomade und Geistesverwandte von Rimbaud und Chatwin 1980 seine Rolleiflex ins Abstellregal gelegt hatte.

    Besonders charakteristisch für Verger war seine große Gabe, gleichsam in die Haut der anderen zu schlüpfen, was auch dazu führte, dass er von den Menschen, unter denen er lebte und die ihn an ihren Zeremonien teilhaben ließen, den Namen "Fatumbi” und auch "Oju-Obá” (Auge des Königs) erhielt, wodurch er Zugang zu einem geheimen Wissen erlangte. Seine Reisen in Afrika und im afrobrasilianischen Kulturraum sowie seine Initiation in die fremde Religion machten ihn zu einem der profunden Kenner der brasilianischen candomblé-, der haitianischen voodoo- und der kubanischen santaría-Zeremonien. Er konnte auch zeigen, dass die afrikanischen Negersklaven in Bahia ihre Kultur und Religion zuallererst neu erfinden und etablieren mussten. Dies war ein Akt der Identitätsfindung und Wirklichkeitsaneignung, wie die Herausgeber zu Recht in ihrem Vorwort bemerken:

    "In jenen Jahren der Dekolonisierung verstand Verger die afro-brasilianische Gesellschaft einerseits als ein Gegenmodell zum europäischen Kolonialismus und Rassismus, andererseits aber auch zu den aufkommenden ethnischen Nationalismen in den unabhängig gewordenen Ländern Afrikas."

    Der vorliegende Band gibt uns nun die einzigartige Möglichkeit, das politische Bewusstsein Vergers und die ästhetische Kraft seiner Fotografien kennenzulernen, eine Kraft, die zeigt, welch ein Erkenntnispotential in der Ästhetik beschlossen liegt. In dem klugen Interview, das den Auftakt des Bandes bildet, vermittelt Verger spannende Einblicke in seine Arbeitsweise, in seine Geduld und Zurückhaltung bei der Arbeit, in seine Teilhabe am anderen Leben, bevor er zu fotografieren begann, in sein Vertrauen auf den unbewusst richtigen Augenblick der Aufnahme und was das Foto vom Unbewussten der dargestellten Menschen auszusagen vermag.

    Die dem Band beigefügten Essays von Pierre Verger selbst und von Roger Bastide, von Angela Lühning, Jane de Hohenstein und Stefan Eisenhofer sowie das letzte Interview mit Verger benennen die entscheidenden Etappen in der Entwicklung und Struktur dieses ethnographisch-fotografischen Jahrhundertwerks.

    Kurz vor seinem Tod antwortete Verger auf die Frage, ob die "afrikanischen Elemente” Brasilien helfen werden, seine eigene Identität zu offenbaren:

    "Interessant ist, dass die einzelnen Religionen respektvoll miteinander umgehen ... man versteht und ergänzt sich ... Wenn man bedenkt, was zwischen Protestanten und Katholiken alles geschieht, die bringen sogar hier die Gläubigen um. Da passieren ganz fürchterliche Dinge."

    Pierre Verger: "Schwarze Götter im Exil. Fotografien"
    (Wunderhorn Verlag)