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"Die Aggressivität im Straßenverkehr nimmt offensichtlich zu"

Grobe Geschwindigkeitsüberschreitungen, unerlaubtes Überholen und Drängeln mit Lichthupe: Wer mit dem Auto unterwegs ist, bekommt die Aggressivität mancher Autofahrer zu spüren. Der Unfallforscher Siegfried Brockmann fordert mehr Video- und Abstandsüberwachung.

Fragen von Tobias Armbrüster an Siegfried Brockmann | 24.01.2013
    Tobias Armbrüster: Wenn heute in Goslar der Verkehrsgerichtstag eröffnet wird, dann geht es dabei um Themen, die Autofahrer auf deutschen Straßen jeden Tag auf die Palme bringen. Es geht um Radarfallen und die Genauigkeit von Messergebnissen, es geht um die Verkehrssünderdatei in Flensburg und deren Reform, und ein Thema wird natürlich auch die Aggressivität auf deutschen Autobahnen sein, eine breite Themenpalette also. Darüber können wir jetzt sprechen mit Siegfried Brockmann, er ist Unfallforscher beim Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft. Schönen guten Morgen, Herr Brockmann.

    Siegfried Brockmann: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Ich habe es schon gesagt: Viele Verkehrsforscher machen sich Sorgen über Raser und Drängler, ganz allgemein über aggressive Autofahrer. Wie schwerwiegend ist dieses Problem auf deutschen Straßen?

    Brockmann: Ja man muss zunächst mal sagen, das Thema ist hier in Goslar so ein bisschen missverständlich, weil wir wissenschaftlich zum Thema Aggression eigentlich so wahnsinnig viel nicht beizutragen haben. Der Punkt ist ja der: Erstens, wir haben keine Messzahl, ab wann ist jemand aggressiv. Das andere ist: Wir sitzen ja nicht daneben, wenn einer Auto fährt, und hinterher wird er es uns in der Regel auch nicht sagen. Er wird nicht sagen, ja den habe ich jetzt bedrängt, weil ich aggressiv war. Das heißt, wissenschaftlich können wir gar nicht sagen, wie viele Unfälle, wie viele Delikte auf das Thema Aggression zurückgehen. Es ist aber natürlich so, dass jeder von uns ein Gefühl hat und ich persönlich habe natürlich auch ein Gefühl, und nach diesem Gefühl ist es jedenfalls nicht besser geworden. Im Gegenteil: Die Aggressivität im Straßenverkehr nimmt offensichtlich zu.

    Armbrüster: Gibt es denn dafür eine Erklärung, selbst wenn man das nicht wissenschaftlich belegen kann?

    Brockmann: Aus meiner persönlichen Sicht gibt es Erklärungen aus zwei Richtungen. Das eine ist, dass wir in unserer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren sehr stark einen Schwenk hin zum eigenen Ich, zum Ego gemacht haben. Das heißt, meine Interessen müssen vor allen Dingen durchgesetzt werden. Das ist natürlich im Verkehrssystem ein Riesenproblem: Da stellt sich mir ständig jemand in den Weg, ein anderer Autofahrer, ein Fußgänger, ein Radfahrer, der geradeaus will, wenn ich abbiegen will. Und das führt dann dazu, zusammen mit dem Verkehr, der ja auch in den letzten Jahrzehnten noch mal dramatisch zugenommen hat, dass ich mein Ziel nicht so erreiche, wie ich das möchte, und das führt dann zu Aggressionen.

    Armbrüster: Müssen wir vielleicht auf Deutschlands Straßen, gerade auch auf den Autobahnen ein bisschen mehr tun, zum Beispiel gegen Drängler?

    Brockmann: Ja wir müssen zunächst noch mal beim Thema Aggression sagen, jeder von uns kann schon mal sagen, manchmal nimmt er einen Konflikt mit ins Auto, manchmal entsteht er beim Fahren, man kann schon mal ausrasten. In der Regel beruhigt man sich dann auch wieder. Es gibt nur einen Persönlichkeitstyp, der ist aggressiv innerhalb des Autos und auch außerhalb des Autos. Da muss man erst mal klar sagen: Dem werden wir nicht beikommen mit irgendwelchen Appellen an die Vernunft, mit den Appellen, vorsichtig oder langsam zu fahren. Diesem Fahrertyp werden wir nur beikommen mit Härte.

    Armbrüster: Das heißt?

    Brockmann: Das heißt ganz praktisch, dass wir uns die Delikte mal angucken, die mit Aggression im Zusammenhang stehen. Das heißt grobe Geschwindigkeitsüberschreitungen, das ist das Überholen an Punkten, wo das eigentlich gar nicht geht, das ist Drängeln vor allen Dingen mit Lichthupe, wenn der Abstand so was von unterschritten wird, dass jeder klar sagt, so geht das gar nicht. Und solche Delikte müssen dann auch mit entsprechender Punktzahl im Flensburger Register belegt werden, denn unser Ziel muss es ja sein, solche Fahrer aus dem Verkehrssystem zumindest mittelfristig zu identifizieren und dann auch auszuschließen.

    Armbrüster: Brauchen wir dann mehr Videoüberwachung auf deutschen Straßen?

    Brockmann: Ja, ganz klar. Es sind zwei Aspekte. Das eine ist ja die Abstandsüberwachung auf Autobahnen. Wenn da die Kamera nicht hoch auflösend genug ist, dann wird jeder Anwalt eine gute Chance haben zu sagen, dieser Fahrer, der dort abgebildet ist, war das nicht. Auf der anderen Seite habe ich persönlich das Gefühl, dass die notorischen Raser und Drängler irgendwie auch einen sechsten Sinn dafür haben, wenn Polizei in der Nähe ist, und sich dann komischerweise sehr vorschriftsmäßig verhalten. Und deswegen glaube ich daran, dass wir mehr Zivilfahrzeuge brauchen und auch mehr Videoüberwachung.

    Armbrüster: Herr Brockmann, Sie haben gerade schon mal die Verkehrssünderdatei in Flensburg angesprochen. Die soll reformiert werden, großes politisches Projekt. Künftig soll es zum Beispiel für Geschwindigkeitsüberschreitungen weniger Punkte geben. Dafür reichen dann bald schon zum Beispiel acht Punkte für ein Fahrverbot. Kritiker sagen, ein solches Fahrverbot kommt dann einfach zu schnell für sehr viele Autofahrer, die werden schon nach ein paar Delikten ihren Führerschein los. Ist da was dran?

    Brockmann: Ich sehe das genau anders herum. Zunächst mal hat ja die Bundesregierung bei dem Entwurf, der ja bereits vorliegt, mal ausgerechnet, sozusagen anhand der Zahlen der Vergangenheit, zu wie viel Entziehungen der Fahrerlaubnis kommt es nach dem neuen System und nach dem alten System. Und siehe da: Es ist so austariert, dass die Entziehungen fast nicht zunehmen, um einen ganz geringen Prozentsatz, und das war ja eigentlich nicht der Sinn der Sache. Im Koalitionsvertrag stand ja, dass die Reform gemacht wird zwar zum Thema Erleichterung, jeder soll also besser verstehen, welchen Punktestand er hat. Das heißt, die Punkte verfallen diesmal tatsächlich, auch wenn man ein weiteres Delikt begeht. Das darf man nicht vergessen. Früher wurden die ja einfach verlängert. Auf der anderen Seite ist es so, dass auch der Sicherheitsaspekt gestärkt werden soll, und da ist meine Kritik eher eine andere. Das ist aus meiner Sicht eher in den Kinderschuhen stecken geblieben, da können wir noch erheblich nachlegen.

    Armbrüster: Zum Beispiel wie?

    Brockmann: Indem man einfach sagt, wie ich es vorhin schon sagte: Es sind ja die Punkte, wenn man so will, einfach nur transponiert worden. Wir hatten vorher die Entziehung bei 18 Punkten, jetzt ist sie bei acht Punkten. Dafür gab es vorher für sehr viele Delikte drei oder vier Punkte, bei Alkohol sogar sieben Punkte, und jetzt ist es nur noch ein Punkt oder zwei Punkte. Das heißt, in der Praxis haben wir aus meiner Sicht gar nichts Wegweisendes verändert. Das müssen wir aber, um die besonders aggressiven und auch die besonders notorischen Täter tatsächlich zu identifizieren.

    Armbrüster: Das heißt, wir sollten deutlich mehr Führerscheine einziehen?

    Brockmann: Ja! Die Entzugsquote aufgrund des Punktesystems ist verschwindend gering in Deutschland. Da darf man sich nichts vormachen, dass das irgendwas Wesentliches im Moment beiträgt. Und es soll ja auch so sein: Im jetzigen System ist es ja so, dass Sie ja auch freiwillig Punkte abbauen können. Das wird dann nicht mehr gehen. Dafür werden wir aber jetzt nach sechs Punkten voraussichtlich eine medizinisch-psychologische Untersuchung bekommen, die dem Delinquenten tatsächlich hilft, die ihn versucht, wieder auf den richtigen Pfad zu führen, und das finde ich erst mal einen tollen Ansatz. Und wer diesen Ansatz dann verschmäht, der hat es dann auch verdient, dass wir ihn aus dem Verkehr ziehen.

    Armbrüster: ... , sagt hier bei uns heute Morgen in den "Informationen am Morgen" Siegfried Brockmann, Unfallforscher beim Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft, heute zum Start des Verkehrsgerichtstags in Goslar. Vielen Dank, Herr Brockmann, für das Gespräch heute Morgen.

    Brockmann: Auf Wiederhören – gerne!

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