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Die Akte Günter Grass

Für das SED-Regime war Günter Grass ein Feind - sie ließ den ungebetenen Gast von der Stasi überwachen. Was das Ministerium für Staatssicherheit dabei alles anstellte, um den Schriftsteller zu observieren und zu kontrollieren, das ist jetzt in dem Buch von Kai Schlüter nachzulesen.

Von Marcus Heumann | 15.03.2010
    "Keines meiner Bücher, die ich geschrieben habe, hätte ich in diesem Staat veröffentlichen können. Und so geht es meinen Kollegen auch. Ein Lyriker wie Enzensberger dürfte hier gar nicht den Mund aufmachen. Lassen sie Taten sehen, geben sie den Schriftstellern die Freiheit des Wortes, geben sie einem Enzensberger in ihrem Land die Freiheit, die er noch in Westdeutschland hat, obgleich diese Freiheit des Wortes gefährdet ist – hier ist sie aber gar nicht vorhanden. Mit diesen Worten möchte ich schließen."

    Günter Grass auf dem 5. Schriftstellerkongress am 25. Mai 1961 in Ost-Berlin – ein Gastredner, dem seine Empörung deutlich anzuhören war. Provoziert hatte ihn die vorangegangene Rede des DDR-Kulturministers Hans Bentzien, die in üblich selbstherrlicher SED-Manier die Erfolge der DDR-Literatur pries und in dem Satz gipfelte "Wer könnte uns das Wasser reichen?". Grass stürmte zum Podium, um Bentziens rhetorische Frage mit der Nennung einiger Autoren zu beantworten: Musil, Kafka, der kurz zuvor nach West-Berlin übergesiedelte Uwe Johnson und eben Enzensberger könnten den DDR-Literaten durchaus das Wasser reichen, wenn sie denn publiziert werden dürften. Der Eklat war perfekt, die DDR-Medien brachten Grass' Redebeitrag nur in kurz- und kleingeschnittener Form, und im Protokollband des Kongresses wurde er erst gar nicht abgedruckt. Ironie der Geschichte: Keine drei Wochen später sprach SED-Chef Walter Ulbricht genau am Schauplatz des Grass'schen Wutausbruches, dem Ost-Berliner Haus der Ministerien, einen legendär gewordenen Satz, der sich vom Wahrheitsgehalt her durchaus mit Bentziens Lobpreisung der DDR-Literatur messen konnte:

    "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten."

    Den 13. August 1961 erlebte Grass – wie auch schon den Aufstand des 17. Juni 1953 - direkt an der Berliner Sektorengrenze mit eigenen Augen – und schon am 14.8. verfasste er einen offenen Brief an die Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbandes, Anna Seghers. Bezug nehmend auf ihren berühmten antifaschistischen Roman "Das siebte Kreuz" konstatierte Grass:

    "Die Angst ihres Georg Heisler hat sich mir unverkäuflich mitgeteilt; nur heißt der Kommandant des Konzentrationslagers heute nicht mehr Fahrenberg, er heißt Walter Ulbricht und steht ihrem Staat vor."

    Das war zu viel für die SED und ihr "Schild und Schwert", die Staatssicherheit: vier Tage später, am 18. August 1961, eröffnete das MfS eine Akte zu Günter Grass. "Angefallen wegen Provokation" ist dort handschriftlich notiert. Doch schon auf dem Kongress im Mai hatte Grass unter Beobachtung von DDR-Schriftstellerkollegen gestanden, die als "Geheime Informatoren", später "Inoffizielle Mitarbeiter" genannt, der Stasi zulieferten: darunter Erwin Strittmatter, Paul Wiens und der spätere Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes, Hermann Kant. Der hatte dem MfS schon am 19.Juli 1961 berichtet:

    Grass ist ein Mensch ohne jede feste politische Einstellung und Haltung. Er schießt praktisch nach beiden Seiten und kommt sich dabei sehr imposant vor.

    Die Stasi-Akte von Günter Grass wurde bis 1989 geführt - und die nun erschienene kommentierte Auswahl daraus ist ein ebenso unlesbares wie wichtiges Buch geworden: Unlesbar wegen dem notorisch menschenverachtend-technokratischen Stasi-Jargon, der einen Großteil der Dokumente durchzieht – wichtig, weil diese Dokumente viel über den deutsch-deutschen Literaturbetrieb zwischen 1961 und 1990 und seine Protagonisten verraten.

    Herausgeber Kai Schlüter hat es zudem verstanden, mittels erläuternder Zwischentexte und durch aktuelle Kommentierungen seitens Günter Grass und anderer in den Akten auftauchender Personen dem Leser die Einordnung und Wertung der Stasi-Berichte zu erleichtern.

    Schon 1965 versetzt Günter Grass die Staatssicherheit erneut in Alarmstimmung: am West-Berliner Schiller-Theater bereitet er ein Bühnenstück vor, das - kaum verschlüsselt – die widersprüchliche Haltung Bert Brechts zum Aufstand des 17. Juni thematisiert. Doch alle Versuche der Stasi, vor der Uraufführung im Januar 1966 ein Manuskript von "Die Plebejer proben den Aufstand" zu erlangen, scheitern kläglich. Schlüter schreibt:

    Als Grass zwei Jahre später linksradikale Tendenzen in der Studentenbewegung ebenso kritisiert wie die Niederschlagung der Reformbewegung in der Tschechoslowakei wandelt er sich aus der Sicht der offiziellen DDR vom Kritiker bundesdeutscher Verhältnisse zum westlichen Systemapologeten. Mögliche Bündnispartner im Literaturbetrieb sieht die DDR jetzt eher links von Grass, bei Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Franz Xaver Kroetz oder Rolf Hochhuth.

    Trotzdem darf Grass weiter nach Ost-Berlin einreisen, wo er sich zwischen 1974 und 1978 immer wieder zu privaten Autorenlesungen und Arbeitsgesprächen mit DDR-kritischen Autoren trifft – viele von ihnen werden nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns das Land verlassen. Die Treffen finden unter konspirativen Bedingungen statt – die Stasi aber beschattet Grass, sobald er an der Friedrichstraße aus der S-Bahn steigt. Am 18.11.1980 verhängt die Stasi schließlich ein Einreiseverbot gegen Grass. Begründung:

    Grass inspiriert feindlich-negative Kräfte in der DDR zu Aktivitäten gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung.

    Freilich währt diese Sperre nicht lange: Erich Mielke hebt sie im Dezember 1981 vorübergehend auf, als Grass von Stephan Hermlin zu einer "Berliner Begegnung zur Friedensförderung" zwischen Schriftstellern aus Ost und West eingeladen wird. Im Zeichen des NATO-Doppelbeschlusses erhofft sich die SED offenbar, Grass bei diesem Treffen vor ihren propagandistischen Karren spannen zu können. Sie wird enttäuscht. Wie schon beim Schriftstellerkongress 20 Jahre zuvor, teilt Grass in Ost-Berlin wieder nach allen Seiten aus:

    "Vietnam und Afghanistan seien stellvertretend genannt für den seit drei Jahrzehnten anhaltenden konventionellen Krieg. Nicaragua und Polen stehen schrecklich auf der Tagesordnung."

    Mitte 1983 wird Grass zum neuen Präsidenten der West-Berliner Akademie der Künste gewählt, was Mielke dazu veranlasst, die Einreisesperre höchstpersönlich wieder auszusetzen. 1984 erscheinen erstmals zwei Grass-Bücher in DDR-Ausgaben: "Das Treffen in Telgte" bei Reclam in Leipzig, "Katz und Maus" bei Volk und Welt in Ost-Berlin. Und dort auch 1986 endlich "Die Blechtrommel" – 27 Jahre nach der westdeutschen Erstausgabe. Das verschafft dem Autor die Gelegenheit zu mehreren Lesereisen durch die DDR – vor mehrheitlich selektiertem Publikum und begleitet von Verlagslektoren, die selbstverständlich Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi sind. Eine der letzten, der im Buch dokumentierten hochbrisanten Stasi-Beobachtungen vom Sommer 1989, beschäftigt sich mit Grass' Aufenthalt auf Hiddensee:

    Am 26. und 27.6.89 hat G. Strandgut und alte bzw. vom Wetter zerzauste Bäume gemalt.

    Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so traurig wäre.

    Sagt unser Rezensent Marcus Heumann. Das Buch "Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte" kommt aus dem Ch. Links Verlag, der Autor ist Kai Schlüter. Das Buch hat 300 Seiten und kostet 25 Euro 60 (ISBN: 978-3-86153-567-6).