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"Die Aktivitäten im Deutschen Bundestag sind in einer Weise beinahe explodiert"

Immer mehr Reden werden nicht gehalten, sondern nur zu Protokoll gegeben. Ein Umstand, der laut Bundestagspräsident Norbert Lammert von der CDU, Neuerungen erfordert. Er selbst hat zwei Reform-Vorschläge.

Norbert Lammert im Gespräch mit Gerwald Herter | 28.10.2009
    Gerwald Herter: Schon seit fast drei Jahrzehnten ist Norbert Lammert Abgeordneter der CDU. Dieser Partei gehört er aus Überzeugung an, aber eben der Partei und dem Bundestag, nicht der Regierung. Auch das schwarz-gelbe Kabinett wird vom Parlament kontrolliert und nicht umgekehrt. Darauf legt der Bundestagspräsident Wert. Gestern hat er es wieder deutlich gemacht und jetzt sind wir mit ihm verbunden. Guten Morgen, Herr Lammert.

    Norbert Lammert: Guten Morgen, Herr Herter.

    Herter: Herr Lammert, wie viele Ihrer Reden haben Sie schon zu Protokoll gegeben, also nicht gehalten, sondern das Manuskript aus welchen Gründen auch immer an die Angestellten des Bundestags übergeben?

    Lammert: Ich weiß nicht, ob ich überhaupt je eine Rede zu Protokoll gegeben habe. Wenn, ist das allenfalls zwei- oder dreimal in diesem von Ihnen genannten Zeitraum von fast 30 Jahren passiert.

    Herter: Sie beklagen, dass mehr als jede vierte Rede in der abgelaufenen Legislatur zu Protokoll gegeben wurde. Warum ist das so ein Sündenfall?

    Lammert: Zunächst ist das ja kein Indiz für mangelndes Engagement. Ganz im Gegenteil: Es ist ein Anzeichen dafür, dass die Aktivitäten im Deutschen Bundestag in einer Weise beinahe explodiert sind, dass die dafür zur Verfügung stehende Beratungszeit nicht ausreicht. Ich habe darauf hingewiesen, dass ich diesen Zustand jedenfalls für nicht akzeptabel halte und dass er nach einer der beiden Seiten aufgelöst werden muss: Entweder durch eine größere Disziplin bei der Einbringung von Drucksachen, also von Resolutionen, Entschließungsanträgen, Gesetzentwürfen, die man vielleicht etwas gründlicher auf ihre Notwendigkeit und Ernsthaftigkeit prüfen muss, oder, wenn ein solcher hoher Beratungsbedarf besteht, deutlich höher als in früheren Legislaturperioden, dann muss eine größere Beratungszeit in Form von mehr Sitzungstagen vereinbart werden.

    Herter: Wahrscheinlich wäre beides die beste Lösung, also beides Amtsstreben, oder?

    Lammert: Ja. Realistisch scheint mir, dass man sich um das eine wie um das andere zugleich bemüht und auf diese Weise die Lücke schließt.

    Herter: Leidet der Bundestag unter mangelnder Beachtung?

    Lammert: Das würde ich so generell nicht sagen, aber dass es eine sehr starke Konzentration der Medien auf Regierungshandeln, Regierungspersonal gibt und im Vergleich dazu das Parlament allenfalls in zweiter Linie wahrgenommen wird, das lässt sich nun schwerlich überhören und vor allen Dingen nicht übersehen.

    Herter: Wir versuchen, unseren Zuhörerinnen und Zuhörern natürlich interessante Diskussionssendungen nahe zu bringen, Politik interessant zu machen. Sind Talkshows, sind Diskussionssendungen manchmal nicht doch interessanter als Debatten?

    Lammert: Jeder mag sich darüber sein eigenes Urteil bilden, ob sie interessanter sind. Jedenfalls wird in Talkshows nichts entschieden, während in den Verhandlungen des Deutschen Bundestages Entscheidungen herbeigeführt werden, häufig oder regelmäßig solche mit praktischen Wirkungen für ganz viele oder alle Menschen in unserem Lande, und allein deswegen ist auch an dieser Stelle ein Missverhältnis eingetreten zwischen dem Unterhaltungsbedürfnis, das sich auch in einer Fülle solcher Formate niederschlägt, und dem vergleichsweise sehr bescheidenen Anteil, den die unmittelbare authentische Vermittlung von politischen Auseinandersetzungen und Entscheidungen einnimmt.

    Herter: Und was könnte da die Lösung sein? Sie haben Ihren Kollegen ja schon mal Talkshow-Pausen empfohlen.

    Lammert: Ja, gut, das ist vielleicht auch eine persönliche Vorliebe. Mir gefallen die allermeisten dieser Sendungen überhaupt nicht, weil mir sie viel zu sehr zu einer Variante des ohnehin überreichlichen Unterhaltungsangebots geworden sind und der Anteil der Politik darin immer kleiner geworden ist bis hin schon zur Auswahl des Personals, das mir in vielen Fällen unter dem Gesichtspunkt ihres Unterhaltungspotenzials mindestens so sehr ausgewählt erscheint als unter dem Gesichtspunkt ihres jeweils einzubringenden Sachverstandes.

    Herter: Und hat die Debatte in ihrer klassischen Form vielleicht ausgedient? Talkshows, Diskussionssendungen haben ja den Vorteil, dass da mehrere Gesprächspartner zu Wort kommen. Leiden Sie manchmal darunter, dass, wenn es zu einem Schlagabtausch im Bundestag kommt, Sie oder Ihre Kollegen dies dann beenden müssen, Sie einschreiten müssen?

    Lammert: Ja, es gibt schon mal die Situation. Allerdings hängt die auch doch dann von dem Fingerspitzengefühl des amtierenden Präsidenten ab, dass bei der strengen Bewirtschaftung der Redezeiten eine Situation entstehen kann, wo man auch als amtierender Präsident den Eindruck hat, es wäre eigentlich schade, hier einem gerade debattierenden Redner das Wort abzuschneiden. Das muss dann ja auch nicht sein, das kann man mit einem dezenten Hinweis auf die knappen noch verfügbaren oder bereits ausgeschöpften Zeiten durchaus moderieren. Das ist sicher kein unlösbares Problem. Im Ganzen ist es nicht nur aus den genannten Gründen der begrenzten verfügbaren Zeiten unvermeidbar, sondern auch durchaus hilfreich, dass nicht jeder gewissermaßen endlos lange sprechen kann. Auf diese Weise werden übrigens auch Debatten lebendiger und für einen Zuhörer interessanter, als wenn da endlose Monologe gehalten würden.

    Herter: Wenn man das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts liest, dann kann man den sanften Eindruck bekommen, dass sich der Bundestag um wirklich wichtige Themen europäischer Politik zu wenig kümmert. Stimmt das?

    Lammert: Nein, das stimmt nicht, auch wenn sicher richtig ist, dass die unmittelbare Beteiligung des Bundestages an europäischen Rechtsetzungsakten gegenüber der Vergangenheit deutlich gestärkt werden muss. Dazu haben wir auch gerade in den letzten Monaten eine Reihe von wichtigen Voraussetzungen geschaffen, einige im Übrigen schon vor der denkwürdigen und übrigens auch hilfreichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das ja keinen Zweifel daran gelassen hat, dass es für das zu Stande kommen europäischer Rechtsetzungsakte nicht reicht, wenn hier die Regierungen der Europäischen Gemeinschaft zusammenwirken, weil Gesetzgebung nun einmal eine Aufgabe der Parlamente und nicht der Regierungen ist. Zu den wichtigen Voraussetzungen, die wir selbst geschaffen haben, gehört, dass wir seit Anfang der letzten Legislaturperiode ein eigenes Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel unterhalten, das aus Mitarbeitern der Verwaltung und aus Vertretern der Fraktionen, aller Fraktionen im Deutschen Bundestag besetzt ist und das uns in die Lage versetzt, Informationen über beabsichtigte Gesetzgebungsvorhaben in Europa zu einem Zeitpunkt aufzunehmen und in unsere eigene zu integrieren, die uns auch die Möglichkeit gibt, auf solche Vorhaben in ihrer Akzentsetzung und Richtung Einfluss zu nehmen und nicht mit fertigen Texten dann anschließend nur noch mit Ja oder Nein umgehen zu können.

    Herter: Der Präsident des Bundestages, Norbert Lammert, im Deutschlandfunk-Interview. Vielen Dank, Herr Lammert.

    Lammert: Keine Ursache. Schönen Tag!