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"Die alte Dame in Marrakesch"
Kolonialgeschichte in Marokko

In seinem Roman "Die alte Dame in Marrakesch" gibt der Schriftsteller Fouad Laroui tiefe Einblicke in die marrokanisch-europäische Kolonialgeschichte. Bis heute ist das Verhältnis zwischen Marrakeschis und Franzosen gespannt, die kulturelle Kluft ist tief.

Von Lerke von Saalfeld | 12.01.2016
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    Etwa 10 000 Franzosen leben in Marrakesch (Foto: imago / Westend61)
    Wie wäre es, wenn wir uns einen Riad kauften" fragt der in Paris lebende Franҁois seine Frau Cécile; die reagiert nicht, und der Ehemann insistiert: "Also, was hältst du davon, wenn wir uns einen Riad in Marrakesch kaufen?"
    Riad, das sind die alten verwunschenen Paläste in der Medina, der Altstadt von Marrakesch, begehrte Objekte für viele Franzosen. Ein solcher Riad steht im Mittelpunkt des ersten ins Deutsche übersetzten Romans des marokkanischen Schriftstellers Fouad Laroui, "la vielle dame du riad", so die französische Originalausgabe aus dem Jahr 2011, "Die alte Dame in Marrakesch" lautet der deutsche Titel. In einem Interview erklärte der Autor, welche Idee er bei diesem Roman verfolgte:
    "Man schätzt, dass etwa zehntausend Franzosen sich in Marrakesch niedergelassen haben. Sie genießen den Exotismus und die Schönheit der Landschaften. Aber sehen sie die historische und philosophische Tiefenwirkung des Landes? Deshalb ist mein Ausgangspunkt, das sind alles Leute, die nach Marokko kommen, ohne irgendetwas von diesem Land zu wissen. Ich wollte ihnen eine Lektion im doppelten Sinne des Wortes erteilen: sie sollen etwas über die Geschichte unseres Landes lernen, und es soll für sie auch eine Lektion im metaphorischen Sinn des Wortes sein."
    Unter Mitgliedern der Pariser High Society beliebt: Ein Riad in Marrakesch
    Die Pariser Eheleute gehören auch zu diesen Ignoranten, sie haben genug Geld durch eine Erbschaft, aber sie haben keine Ahnung von der Geschichte und der Kultur Marokkos. Paris langweilt sie, sie wollen etwas erleben. Zum besonderen Chic gehört es, sie finden einen Riad in der Nähe der Häuser von Alain Delon, dem Philosophen Bernard Henry Levy und dem Haus von Pierre Bergé, das dieser gemeinsam mit dem Couturier Yves Saint-Laurent bewohnte. Nur, das begehrte Haus birgt ein Geheimnis. Als das Paar den Stadtpalast besichtigt, schreckt Cécile zurück, in einem Zimmer befindet sich etwas Unheimliches. Sie schickt ihren Mann vor:
    "Franҁois betrat mit geballten Fäusten und leicht gespreizten Armen das Zimmer, bereit jeden Angriff abzuwehren. Sein Blick schweifte durch den Raum, er kniff die Augen zusammen, um im Halbdunkel besser sehen zu können. Schließlich entdeckte er zur Linken auf einer Bank eine zusammengekrümmte Gestalt. Vorsichtig trat er näher. Kein Zweifel. Es war eine sehr alte Frau mit schwarzer Haut, so schwarz, dass sie bläulich zu schimmern schien."
    Ganz Marrakesch weiß von dieser Erscheinung, alle wissen, dass die Franzosen das Haus gekauft haben, aber keiner will ihnen Aufklärung geben, was es mit dieser Frau auf sich hat: Ist sie eine echte Person oder ein Geist, ein Spuk? Ein Nachbar, Professor seiner Profession nach, hilft. Er spricht mit der alten Frau, obwohl diese nicht die Lippen bewegt. Der Nachbar erfährt, dass die Frau Massouda heißt und schließlich erzählt die ihm in langen Nächten die Geschichte von Tayeb, die wiederum der Nachbar in einen Roman zusammenfasst. Diese Geschichte, die die neuen Eigentümer des Riad aufklären soll, bildet den zweiten Teil des Romans, in dem Fouad Laroui nun seine Lektion über die Unabhängigkeitskämpfe der Marokkaner gegen die spanische und französische Okkupation seines Landes seit Beginn des 20. Jahrhunderts erzählt. Zur Vorgeschichte gehört, der frühere Hausherr des Riad, Hadj Fatmi, der hundert Jahre zuvor das Anwesen besaß, war als Kaufmann nach Agadir gezogen, um neue Geschäfte einzufädeln. Dort nahm er sich eine Berberfrau, die er wieder nach Hause schickte, als er zurückging nach Marrakesch, denn dort wartete seine arabische Frau auf ihn. Einige Zeit später taucht eine dunkelhäutige Sklavin im Riad auf, sie trägt ein Kind bei sich, es ist Tayeb, der Sohn des Kaufmanns. Die Berberin, von deren Schwangerschaft der Kaufmann nichts ahnte, war bei der Geburt in Agadir gestorben. Der Knabe, zurückgebracht zu seinem leiblichen Vater, wird herzlich aufgenommen, ebenso wie die alte Sklavin, die fortan zum Haushalt gehört und die Tayeb wie seine wirkliche Mutter empfindet.
    Ignoranz der Franzosen ist spürbar

    Hadj Fatmi, es ist das Jahr 1912, wird eines Tages in den Gassen von Marrakesch von französischen Militärs zu Pferde in den Sand gestoßen und gedemütigt. Die Schande sitzt für den Muslim so tief, dass er den Schwur tut, nie wieder sein Haus zu verlassen, so lange die Ungläubigen dort ihr Unwesen treiben. Tayeb versteht seinen Vater, er verlässt das Haus, um sich den Rebellen im Norden des Landes anzuschließen, bei den Rifkabylen, die an der Küste zum Mittelmeer unter der Führung des legendären marokkanischen Freiheitshelden Abdelkrim eine unabhängige Republik gründen und sich gegen die Kolonialmächte Spanien und Frankreich erheben.

    Die Sklavin Massouda bleibt Tayeb eng verbunden, sie hat seherische Kräfte und weiß, wann es dem Jungen gut und wann es ihm schlecht geht. Sie wird Teil des Hauses, vielleicht auch seine Seele:
    "Massouda sitzt in einer Ecke des Raums mit gesenktem Blick, darauf bedacht, nicht aufzufallen, und hält den Atem an. Die beiden Männer, die hereingekommen sind, scheinen sie nicht gesehen zu haben – so wird es ihr ganzes Leben lang sein, sie wird diese Fähigkeit behalten, zu erscheinen und zu verschwinden, wie ein Djinn, man wird auf sie blicken, ohne sie zu sehen, oder man wird glauben, sie zu sehen, wenn sie nicht mehr da ist."
    Die Geschichte des Ziehsohnes Tayeb erzählt der Autor bis zur Schlacht bei Monte Cassino im Frühjahr 1944. Tayeb hat die Niederlage gegen die Kolonialtruppen 1926 im Rifgebirge überlebt, im II. Weltkrieg schließt er sich der französischen Armee an, um gegen Hitler zu kämpfen. In Monte Cassino, wo marokkanische Soldaten entscheidend mit zum Sieg beigetragen haben, wird er schwer verletzt und verschwindet. Seitdem wartet Massouda, die schwarze Sklavin – die alte Dame in Marrakesch - auf ihn, in der Hoffnung, die neuen Besitzer des Riad, das Pariser Ehepaar, wird ihn ihr zurückbringen und sie kann verschwinden. Ob es gelingt, das möchte ich nicht vorwegnehmen.
    Es ist die verworrene Vita des Tayeb, wobei die Kolonialgeschichte Marokkos dem deutschen Leser nicht unbedingt präsent ist und im Roman viel vorausgesetzt wird. Fouad Laroui findet einen eigenen Weg der Darstellung, er erzählt voller Witz und sprachlicher Finessen. Die Marrakeschis verstehen die Franzosen nicht, diese wiederum begreifen die Einheimischen nicht. Die kulturelle Kluft ist zu tief. Die Einheimischen machen sich auf subtile Weise lustig, sie spielen elegant mit den Sprachen, sie sprechen das Französisch des Voltaire oder ein gebrochenes Idiom aus arabisch und französisch. Der einstige koloniale Hochmut hinterlässt immer noch seine Spuren. Faszinierend ist jedoch, dass Fouad Laroui ohne Bitterkeit diese Geschichte fast heiter erzählt, die auch etwas mit seinem eigenen Leben zu tun hat.
    Laroui wurde 1958 in Marokko geboren, in Casablanca besuchte er ein renommiertes Gymnasium, in Paris studierte er auf einer der Elite-Hochschulen Ingenieurswissenschaft und Wirtschaftsmathematik. Dann übernahm er die Leitung einer Phosphatmine in Marokko. Eine blendende Karriere stand ihm bevor, aber Laroui war plötzlich erschrocken über diesen Weg, zwanzig Jahre, so der Autor, habe er vergeudet, bis er sich ganz der Literatur verschrieb. "Die alte Dame in Marrakesch" ist sein achter Roman – wie schon gesagt, der erste auf Deutsch übersetzte – er veröffentlichte Erzählungen –und Essay-Bände. Seit langem lebt Laroui in Amsterdam, wo er auch an der Universität französische Literatur und Philosophie lehrt. Als marokkanischer Aufklärer fühlt er sich im weltoffenen Amsterdam wohl:
    Um über Marrakesch schreiben zu können, musste ich mir Marokko austreiben. Nur so hatte ich die nötige Distanz. In der Fremde fremd zu sein, verkrafte ich besser als fremd zu sein im eigenen Land.
    Fouad Laroui: Die alte Dame in Marrakesch
    Deutsch von Christiane Kayser
    Merlin Verlag, 197 S., 22 €