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Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen

"Es gibt nichts, was weniger wirklich wäre als die Gegenwart." Dieser Satz von Erwin Panofsky läßt sich als Bekenntnis zu einer geisteswissenschaftlich fundierten Kunstgeschichtsschreibung lesen: Wirklichkeit ist uns nicht im Hier und Jetzt gegeben, Wirklichkeit entsteht erst, wenn wir uns das Gewesene als Geschichte aneignen.

Klaus Englert | 22.04.2002
    Erwin Panofsky hatte im Jahr 1933 das nationalsozialistische Deutschland verlassen und war in die USA emigriert, wo er 1968 starb. Alle wichtigen Schriften, die der renommierte Kunsthistoriker während seiner Lehrtätigkeit am Princeton Institute for Advanced Studies verfaßt hatte, wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs ins Deutsche übertragen. Nur auf das Buch über die Bildkunst der alten Niederländer, das Panofsky selbst als sein Hauptwerk angesehen hatte, mußte man hierzulande fast 50 Jahre lang verzichten.

    Den beiden Kunsthistorikern Jochen Sander und Stephan Kemperdick ist es vor kurzem gelungen, diese Lücke mit einer sorgfältigen und sprachlich versierten Übersetzung zu schließen. Der Kölner DuMont Verlag hat sie unter dem Titel Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen als zweibändige Ausgabe im Schuber publiziert. Ausgestattet ist der umfangreiche Textband mit knapp 50 Farbtafeln, deren Qualität selbst den reproduktions-technisch widerspenstigen Gemälden eines Jan van Eyck alle Ehre macht. Sogar das magische Funkeln von Jans Tafeln, das Panofsky voller Entzücken beschwört, läßt sich beim Blick ins Buch erahnen. Allerdings sollte man sich von der wohlfeilen Aufmachung nicht täuschen lassen: Panofskys opus magnum ist kein Bildband, der sich als visuelles Fastfood konsumieren ließe. Das Buch fordert die Bereitschaft, den Ausführungen des Autors aufmerksam zu folgen und parallel dazu den Bildkatalog mit über 500 Schwarzweiß-Abbildungen zu studieren.

    Erst dann kann man die Wandlungsprozesse nachvollziehen, die mit der altniederländischen Malerei ein nordalpines Pendant zur italienischen Frührenaissance hervorbrachten. Und dann erschließt sich auch die Vorgehensweise Panofskys, der die Ikonologie mitbegründete und zu einer Methode kunstwissenschaftlicher Interpretation ausarbeitete. Sie hat das Ziel, die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und den zeitgenössischen Strömungen in Philosophie, Religion, Politik und Gesellschaft zu ergründen. So wird aus dem Kunstwerk ein Träger weltanschaulicher Bedeutung und ein Medium zur Aneigung kulturgeschichtlicher Wirklichkeit.

    Für Panofsky beginnt die Geschichte der altniederländischen Malerei bereits im 14. Jahrhundert, und sie fängt buchstäblich klein an: mit der französischen und frankoflämischen Miniaturmalerei. Hier wurden als erstes die neuen Stilelemente, die von den italienischen Malern seit Giotto und Duccio hervorgebracht worden waren, aufgenommen. Dabei zeigt sich, dass Kunstgeschichte aus ikonologischer Sicht nicht die Geschichte allein der "großen Meister" ist. Panofsky zeichnet den stilistischen Wandel in kleinen und kleinsten Schritten sorgfältig nach - deshalb ist ihm Jean Pucelle, Jacquemart de Hesdin oder der Boucicaut-Meister wichtiger als die Brüder von Limburg, die für ihr berühmtes Stundenbuch, die "Très Riches Heures du Duc de Berry", an ihre Vorgänger anknüpften.

    Über vier Kapitel hinweg macht uns Panofsky mit den einzelnen Stationen bis zur vollen Ausprägung des Naturalismus um 1420 vertraut. Drei Künstler entwickelten ihn weiter und wurden so zu Hauptvertretern einer nördlichen Frührenaissance: Jan van Eyck, daneben sein Bruder Hubert, der "Meister von Flémalle", hinter dem sich Robert Campin verbirgt, schließlich Rogier van der Weyden, der vermutlich Campins Schüler war.

    Den detaillierten Künstler-Monographien geht eine Studie voraus, die als Exempel ikonologischer Forschung bekannt wurde. Hier erläutert Panofsky die realistisch "verkleidete Symbo-lik" der alten Niederländer, vorwiegend am Beispiel Jan van Eycks. Dessen Gemälde Madonna in der Kirche etwa zeigt eine Maria, die zwar naturalistisch gestaltet ist, aber wie eine Gigantin im Gotteshaus emporragt - als Verkörperung der göttlichen Institution Kirche. Auch die Architektur ist mit Bedeutung aufgeladen: die im romanischen Stil gehaltenen Bereiche des Kirchenschiffs versinnbildlichen den Alten Bund und das Judentum; die gotischen Gebäudeteile wiederum symbolisieren den Neuen Bund und das Christentum. Jan hat die beiden Baustile in seinem Gemälde nahtlos ineinander übergehen lassen, bei ihm sind die jüdische und die christliche Religion versöhnt. In Bildern anderer Maler setzt die Geburt des Neuen die Zerstörung des Alten voraus: Das Judentum wird als romanische Ruine dargestellt, die dem unversehrten gotischen Bauwerk, Symbol des "wahren" christlichen Glaubens, weichen muß.

    Im Epilog des Buches weitet sich der Blickwinkel wieder: Panofsky gibt eine Übersicht über die wichtigsten Strömungen der Malerei im Gefolge der sogenannten "Gründungsväter". Man liest über Errungenschaften und Mißerfolge weniger bekannter Maler wie Petrus Christus, Dirk Bouts, Hugo van der Goes oder Hans Memling. Bis zuletzt wird die Mittler-Funktion der altniederländischen Malerei deutlich: So weist beispielsweise die Nacht-Darstellung von Geertgen tot Sint Jans zurück auf Versuche der Brüder von Limburg oder Piero della Francescas, und sie geht dem Hell-Dunkel eines Georges de la Tour oder Caravaggio unverkennbar voraus.

    Die deutschsprachige Ausgabe von Panofskys "Klassiker" bringt in Erinnerung, dass die Ikonologie schon früh dazu angeregt hat, die Kunstgeschichtsforschung für andere Wissenschaften zu öffnen. Wiederholt wurden Panofskys Ansätze in diesem Sinne von Kunsthistorikern und Soziologen aufgenommen. Der Mitbegründer der Ikonologie fand sich sogar in die "Klassiker der Kunstsoziologie" eingereiht. Gleichwohl sind viele Bezüge zu anderen Disziplinen unentdeckt geblieben, sind die Möglichkeiten zum Austausch noch lange nicht ausgeschöpft. Zudem kann man Panofskys Buch über die alten Niederländer als vorbildliche Synthese der verschiedenen kunstgeschichtlichen Methoden lesen - mit einer Einschränkung: Die Ikonologie tendiert dazu, die visuell-ästhetische Erscheinungsweise des Kunstwerks, die Analyse seiner Form, zu vernachlässigen. Aber gerade weil Panofskys Buch über die altniederländische Malerei die Vorteile und die Nachteile ikonologischer Forschung offenbart, kann die vorliegende Übersetzung nicht hoch genug geschätzt werden. Sie fordert dazu auf, die verborgenen Potentiale der Ikonologie aufzuspüren und ihre Mängel zu beheben - kurz und gut: Erwin Panofskys Ansatz im Sinne einer interdisziplinären Kunstwissenschaft weiterzuentwickeln.