Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Die Anatomiestunde

"Die Anatomiestunde" sei der Schlüssel zu seinem Werk, hat Danilo Kis selbst gesagt. Es erstaunt deshalb, daß Kis’ Buch so lange beim Verlag liegenblieb, während die erzählerischen Hauptwerke, etwa die "Enzyklopädie der Toten", "Sanduhr" und "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch", alle längst auf deutsch erschienen und überaus positiv aufgenommen worden sind. Wenn man auf die deutsche Übersetzung der "Anatomiestunde" zwanzig Jahre warten mußte, dann gibt es hierfür Gründe, die nichts mit einem Mangel an Wertschätzung für Danilo Kis zu tun haben; eher schon mit den spezifischen Schwierigkeiten eben dieses Buches.

Christoph Bartmann | 20.01.1999
    "Die Anatomiestunde" ist eine Streitschrift, eine eloquente, bissige und über weite Strecken noch heute lesenswerte Replik auf Anwürfe seitens der ideologisch orthodoxen Belgrader Literaturkritik. Stattgefunden hat diese ansonsten längst vergessene Kontroverse in den Jahren 1976/77. Stein des Anstoßes war Kis’ Prosawerk "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch". Kis sei ein Plagiator und sein Buch "eine Kette aus fremden Perlen", so lautete die Anklage eines einflußreichen, latent antisemitischen und in ästhetischen Fragen manifest unzurechnungsfähigen Kritikers. Hinter ihm, so argwöhnt Kis, hatte sich fast der ganze regimekonforme Literaturbetrieb Jugoslawiens versteckt. Mit Literatur-Funktionären dieser Couleur macht Kis nun in der "Anatomiestunde" - nicht etwa kurzen Prozeß, nein, er nimmt sich ihre Texte mit großer Geduld und Sorgfalt vor, um, wie er schreibt, "die Sache ins reine zu bringen und an klaren und lehrreichen Beispielen zu zeigen, daß sie nicht berufen sind, ein wie auch immer geartetes Urteil über Bücher vorzubringen, weil ihnen die Qualifikation fehlt, die moralische ebenso wie die literarische." Und er tut das auf eine Weise, die aufs Neue den Unmut seiner Gegner nähren muß. Denn Kis zieht wiederum eine "Kette aus fremden Perlen" auf. Nicht nur, daß der Titel seines Buches auf Rembrandts gleichnamiges Gemälde anspielt und es als visuelle Metapher für Kis’ Vivisektion an toten Texten in Dienst nimmt: Überdies besteht Kis’ "eigene" Schrift zum guten Teil aus Zitaten. Er hat eine "Chrestomathie", eine Textsammlung also, von und über Autoren zusammengestellt, die ihm nahestehen: Borges, Thomas Mann, Flaubert, Ivo Andric. So führt Kis einesteils noch einmal die literarischen Verfahren, also das Montageprinzip und die historische "Metafiktion" vor, die seine Gegner erzürnten. Und er erteilt andernteils den auf sozialistische Nationalliteratur bedachten Kritikern eine kleine Lektion in Weltliteratur. "Nationalismus ist vor allem Paranoia", schreibt Kis, "der Nationalist kann im Prinzip keine einzige Sprache, (...) er kennt keine anderen Kulturen (sie gehen ihn nichts an)." Kis, der in der Vojvodina geborene, in Ungarn aufgewachsene, in Belgrad zum Schriftsteller gewordene und in Paris gestorbene Jude, bot sich für sie als Zielscheibe geradezu an.

    Auf den ersten zweihundert Seiten entwickelt Kis im lebhaften Selbstgespräch die Grundzüge seiner Poetik. Ein Grundzug dieser Poetik ist, daß sie sich, in der Tradition des russischen Formalismus, auf Verfahren beruft. So zitiert Kis gleich mehrfach den Formalisten Sklovskij mit dem Satz: "Die Fabel ist eigentlich nur das Material für die Sujetfügung". Kis’ Romane bedienen sich selbstverständlich "fremder Perlen", nämlich literarischen, dokumentarischen und pseudo-dokumentarischen Fremd-Materials. Aus ihnen fügt Kis sein Sujet, wobei die historischen Quellen der "literarischen Mystifikation" dienen sollen, diese ihrerseits aber wieder einer umgreifenderen "historischen Wahrheit".

    Ein anderer Grundzug seiner Poetik ist, daß Kis sich auf Vorfahren beruft, zum Beispiel, um eine der für Kis so typischen Aufzählungs-Litaneien zu zitieren, auf "Ady, Andric, Apollinaire, Babel, Barthes, Bellow, die Bibel, Borges, Broch, Cervantes, Crnjanski, Cvetajeva, Cechov, Faulkner, Foucault, Gogol (...) Pünktchen, Pünktchen". Es sind viele Schriftsteller darunter, die mit Kis ein "Differenzempfinden" teilen. Die Differenz, die sie empfinden oder erleiden, kann ethnischer, politischer oder sexueller Natur sein; was die Namen verbindet, ist die Unvereinbarkeit ihres Schreibens mit einem Kanon des nationalen Schrifttums. Ein Problem des Literaturstreits, dessen Zege uns Kis werden läßt, ist freilich dieses: seine Gegner haben literarisch und literaturkritisch nichts zu bieten. Kis steht in dieser Fehde ganz allein auf Seiten der Literatur. Seine Verächter dagegen repräsentieren nur eine machtbewußte, aber hochgradig bornierte (Anti-)Literaturpolitik stalinistischer Prägung.

    So sind denn auch die letzten hundert Seiten dieses Buches eher überflüssig. Kis widmet sich darin, unter dem vielversprechenden Titel "Das doppelte Gulasch des Branimir Scepanovic" der stilkritischen Exekution eines jener Nationalliteraten und seines nach den Richtlinien der offiziellen Ästhetik verfaßten Romans. Das mag für jugoslawische Leser vor zwanzig Jahren interessant gewesen sein, wirkt heute aber langatmig und rechthaberisch. Der Verlag hätte das Buch getrost um dieses Viertel kürzen können; der Qualität der anderen drei Viertel tut das überflüssige letzte freilich keinen Abbruch.