Dienstag, 23. April 2024

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Die andere Moderne
Schwärmen, mischen, krächzen

Eine neue Doppel-CD mit Kammermusik für Bläser und Klavier besticht durch Farbreichtum und große stilistische Bandbreite. Unter dem Titel „Moderniste“ widmet sich das Ensemble Les Vents Français wenig bekannten Werken von Komponisten wie Albéric Magnard, André Jolivet und Darius Milhaud – und demonstriert dabei seinen Ausnahmerang.

Am Mikrofon: Marcus Stäbler | 25.08.2019
    Das Ensemble Les Vents Francais posiert mit Instrumenten vor einer Fensterfront
    Les Vents Francais erkunden die französische Moderne. (Parlophone Records Ltd.)
    Musik: Milhaud, Sonate op. 47, 4. Satz
    "Moderniste" heißt das Doppelalbum von Les Vents Français; es konzentriert sich auf Werke aus dem 20. und 21. Jahrhundert, von Komponisten wie Darius Milhaud, André Jolivet oder Tierry Escaich. Nur das älteste und mit einer Spieldauer von rund 30 Minuten längste Stück des Programms ist noch in einer früheren Epoche verwurzelt. Das Quintett op. 8 von Albéric Magnard für vier Holzbläser und Klavier von 1894 bekennt sich ganz klar zum romantischen Erbe: mit seiner kantablen Melodik und einem schwärmerischen Ton, den die Musiker von Les Vents Français in ihrer Aufnahme sehr schön nachempfinden.
    Musik: Magnard, Quintett, 1. Satz
    Der Beginn des Quintetts für Bläser und Klavier von Albéric Magnard. Eine echte Entdeckung, hierzulande vollkommen unbekannt und vom Ensemble Les Vents Français lebendig musiziert. Es schlägt eine Brücke ins 19. Jahrhundert und bildet damit einen Ausnahmefall des Albums. Unter dem Titel "Moderniste" erkundet die CD das Repertoire der Moderne – aber aus einer französisch gefärbten Perspektive, die andere Facetten sieht und betont, als wir es aus dem Blickwinkel der deutsch-österreichischen Tradition gewohnt sind. Wer mit dem Begriff der Moderne vor allem Zwölftonmusik oder serielle Techniken verbindet, wird vielleicht überrascht sein. Diese Art von Avantgarde und Strenge hat im vorliegenden Programm kaum Spuren hinterlassen. Die auf dem Album versammelten Werke schlagen andere Wege ein.
    Ensemble mit hervorragendem Niveau
    Das jüngste ist erst drei Jahre alt; es stammt vom Komponisten Philippe Hersant und war ein Auftragswerk für Les Vents Français, uraufgeführt bei einem Festival in der Provençe im Sommer 2016. "Osterlied" nennt Hersant sein Stück für Bläserquintett und Klavier und verneigt sich damit vor Johann Sebastian Bach. Bachs Choral "Christ lag in Todesbanden" ist der Ausgangspunkt für eine Folge von Variationen.
    Musik: Hersant, Osterlied
    Geschmeidig schmiegen sich Flöte und Klavier in den Trillerfiguren aneinander an, die Instrumente amalgamieren zu einer neuen Farbe. Das ist vom Komponisten Philippe Hersant in seinem "Osterlied" filigran komponiert, aber von den Interpreten auch fein abgemischt. Da offenbart sich das hervorragende Niveau des Ensembles. Die Mitglieder von Les Vents Français sind international renommierte Solisten, wie etwa der Flötist Emanuel Pahud, der Klarinettist Paul Meyer oder der Hornist Radovan Vlatković, die teilweise schon seit Jahrzehnten zusammen musizieren und eine perfekte Balance gefunden haben. Sie lassen die Instrumente zu einer Einheit verschmelzen, wenn es der Notentext vorgibt. Das ist etwa im Quintett von Carl Nielsen zu erleben. Am Beginn des Variationssatzes strömt das sangliche Thema auf einem gemeinsamen Atem aller fünf Instrumente; Phrasierung, Klang und Dynamik sind ideal aufeinander abgestimmt. Zunächst führt die Flöte, später die Oboe.
    Musik: Nielsen, Quintett, 4. Satz
    Das 1922 entstandene Quintett von Carl Nielsen ist von klassischen Formen geprägt und schlägt einen freundlichen Tonfall an. Überhaupt sind die meisten Werke des Programms eher moderat modern und vergleichsweise leicht zugänglich. Nur der Auftakt fällt aus der Reihe. Die Sonate für Flöte, Oboe, Klarinette und Klavier von Darius Milhaud – 1921, also ein Jahr vor dem Nielsen-Quintett uraufgeführt – gibt sich deutlich spröder als die anderen Stücke. Mit seinen bitonalen Harmonien, in denen sich oft zwei verschiedenen Tonarten aneinander reiben, hat der damals noch junge Milhaud bei Webern und Bartók Eindruck gemacht, aber "im Allgemeinen schockiert", wie sein Kollege Francis Poulenc in einem Brief bemerkte. Ihre schockierende Wirkung hat die Musik heute verloren, aber nicht ihren Biss. Der dritte Satz, "emporté" überschrieben, zwingt den Hörer förmlich zur Aufmerksamkeit. Mit gehetzten Gesten und Klängen, die sich teilweise grell ins Ohr fräsen. Das erinnert bisweilen an die Hektik eines aufgescheuchten Vogelschwarms.
    Musik: Milhaud, Sonate, 3. Satz
    Die Sonate von Darius Milhaud ist das harmonisch aufregendste, aber auch das anstrengendste Stück des Programms, von Les Vents Français beeindruckend virtuos und präzise gespielt.
    Stilistisch weitgefächertes Repertoire
    Mit dem stilistisch weitgefächerten Repertoire der Aufnahme demonstriert auch das Ensemble seine große Wandlungsfähigkeit. Die Einspielung umfasst ein breites Spektrum an Stimmungen, dynamischen Nuancen und Klangfarben: vom penetranten Pfeifen der hohen Bläser bei Milhaud über die weichen Linien im Quintett von Albéric Magnard bis zu geräuschhaften Sounds, mit denen der Komponist Thierry Escaich eine idyllische Passage in seinem Mecanic Song verfremdet. Hier werden die zärtlich verschlungenen Linien von Oboe und Fagott von instrumentalen Krächzlauten gestört.
    Musik: Escaich, Mecanic Song
    Der Mecanic Song von Thierry Escaich, 2007 in Tokyo uraufgeführt von Les Vents Français, damals schon in derselben Besetzung wie heute. Die Premiere der Serenade von André Jolivet hat dagegen noch keins der Ensemblemitglieder miterlebt. Sie entstand 1945 und verkörpert das Ideal der Komponistengruppe "Jeune France", "Junges Frankreich". Diese Gruppe, zu der auch Olivier Messiaen gehörte, hatte sich auf die Fahnen geschrieben, der Kunst ihre humanistischen Werte zurück zu geben; Musik sollte den Hörern in einer harten und unpersönlichen Zeit wieder eine spirituelle Kraft spenden. Und das konnte sie für André Jolivet vor allem im organischen Fluss des Atems bei den Blasinstrumenten. Jolivets Serenade ist für Bläserquintett mit konzertanter Oboe geschrieben, doch auch die anderen Stimmen bekommen Raum zur solistischen Entfaltung. Eine Einladung, die die Mitglieder von Les Vents Français gern wahrnehmen. In der edlen Klagkultur, mit der sie hier jede Phrase beseelen, tritt einmal mehr das Luxusniveau des Ensembles zu Tage.
    Musik: Jolivet, Serenade, 3. Satz
    Der dritte Satz aus der Serenade von André Jolivet, zu hören in einer Aufnahme mit dem Ensemble Les Vents Français. Das Doppelalbum mit dem Titel "Moderniste" ist bei Warner Classic erschienen. Auf unserem Musikportal unter Deutschlandfunk.de können Sie diese Sendung auch im Internet hören und in unserer DLF-Audiothek-App auf ihrem Mobiltelefon. Folgen Sie auch gerne unserer Playlist "Dlf_Klassik" bei Spotify.
    "Moderniste"
    Werke von Darius Milhaud, André Jolivet, Albéric Magnard, Philippe Hersant, Carl Nielsen, Thierry Escaich
    Les Vents Français
    Warner Classics (2 CD)