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Die Angst der Franzosen vor der Obdachlosigkeit

Jedes Jahr in den Wintermonaten setzt die französische Regierung Zwangsräumungen aus. Die Schonfrist ist nun allerdings abgelaufen. Wegen der großen Wohnungsnot droht vielen Familien, Migranten und Geringverdienern die Obdachlosigkeit.

Von Bettina Kaps | 02.04.2013
    Eine Notunterkunft vor den Toren von Paris: Ehemalige Büroräume dienen als Schlafzimmer. Seit Dezember konnten hier 80 obdachlose Männer in Zwei- und Dreibett-Zimmern übernachten. Aber jetzt ist die winterliche Schonfrist abgelaufen. Das Heim kann jederzeit dichtgemacht werden. Um das zu verhindern, haben einige Obdachlose die Notunterkunft besetzt. Die Protestaktion wird von Mitgliedern des Vereins "Droit au Logement", auf Deutsch "Recht auf Wohnraum" angeführt.

    "Wir besetzen das Heim, um die Rechte der Bewohner zu verteidigen."

    sagt ein Angehöriger des Vereins, der für seine militanten Aktionen bekannt ist.

    "Falls es geschlossen wird, muss allen Bewohner eine Alternative angeboten werden, so steht es im Gesetz."

    Nicht nur die Heimbewohner fürchten den Frühling, auch Zigtausende von Mietern wissen, dass ihnen eine Zwangsräumung droht, weil sie ihre Mieten nicht mehr bezahlen können. Die französische Justiz hat im Jahr 2011 fast 119.000 Zwangsräumungen beschlossen, von Jahr zu Jahr werden es mehr. Über 12.000 Haushalte wurden tatsächlich unter Einsatz der Polizei aufgelöst.

    Der Grund für die explosive Lage: In Frankreich wird zu wenig gebaut, und das seit 25 Jahren. Inzwischen fehlen 900.000 Wohnungen. Ein weiteres Problem ist der Mietmarkt: Er ist blockiert, sagte Wohnungsbauministerin Cecile Duflot im französischen Rundfunk.

    "In unserem Land stehen 2,5 Millionen Wohnungen leer. Oft nur deshalb, weil die Besitzer Angst haben, dass sie ihre Miete nicht erhalten. Deshalb müssen wir Sicherheit für die Besitzer schaffen, auf diese Weise erleichtern wir den Mietern den Zugang zu Mietwohnungen."

    Duflot will eine Versicherungsgarantie schaffen, die Besitzer und Mieter schützt – ein entsprechendes Gesetz ist für Juni angekündigt. Doch für all die Menschen, denen in den kommenden Wochen und Monaten die Zwangsräumung droht, ist das kein Trost. Wer nicht bei Familie oder Freunden unterkommt, landet auf der Straße. Dann bleibt nur noch die landesweite Notrufnummer für Obdachlose, 115.

    Die Pariser Telefonzentrale der Hilfsorganisation "Samu Social" ist rund um die Uhr besetzt. Die Mitarbeiter besorgen den Hilfesuchenden einen Platz in einer Tagesstätte oder ein Bett für die Nacht. Oft müssen sie die Anrufer allerdings vertrösten, sagt Sandra. Die Sozialarbeiterin hat einen 56-jährigen Mann in der Leitung.

    "Im Moment habe ich keinen einzigen Platz mehr. Nein, wir haben wirklich alle Plätze vergeben. Es ist nichts mehr übrig."

    Aber immerhin kann Sandra derzeit alle Frauen mit Kindern unterbringen, die Hilfe brauchen. Der "Samu Social" quartiert sie in einfachen Hotels ein. In Paris beherbergt die Hilfsorganisation derzeit 2.700 Familien in Hotelzimmern. Eine Notlösung, die niemanden zufriedenstellt - die aber Millionen Euro kostet.

    Matthieu Le Charpentier, operativer Leiter der Telefonnotrufzentrale von Paris, stellt fest, dass sich das Profil der Hilfesuchenden in letzter Zeit deutlich verändert habe.

    "Inzwischen rufen uns nicht nur Menschen an, die sozial völlig ausgeschlossen sind. Wir haben auch Migranten, Asylbewerber, ja sogar Menschen, die voll oder Teilzeit arbeiten. Außerdem immer mehr junge Leute und sehr viele Familien."

    Die Wohnungskrise bedroht die untere französische Mittelschicht, sagt auch Christoph Robert von der Stiftung Abbé-Pierre. Seine Organisation hat einen Notruf eingerichtet, wo Menschen Rat suchen können, denen die Zwangsräumung droht. Die Stiftung stellt fest, dass sich das Phänomen dramatisch ausweitet und neuerdings auch Regionen betrifft, die zuvor nicht unter Wohnungsnot litten, wie die Dordogne, den Calavados und die Ardennen.

    "Die Schere klafft immer weiter auf zwischen sinkenden Gehältern und explodierenden Mieten. Alle politischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte haben versagt. Der Staat hat den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit bereits verloren. Jetzt besteht die Gefahr, dass wir auch den Kampf gegen die Wohnungsnot verlieren."