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Die Angst vor den herrenlosen Hunden

Immer dort, wo etwas in der Gesellschaft nicht stimmt, mehren sie sich: die herrenlose Hunde, die sich zum Teil sogar in Rudeln zusammenschließen. In seinen Reportagen geht Jean Rolin diesem Phänomen nach.

Von Christoph Vormweg | 19.02.2013
    Herrenlose, streunende Hunde haben in reichen Staaten wie Deutschland keine Chance. Ob ausgesetzt oder entlaufen: Nach zwei, drei Tagen sind sie wieder eingefangen und im Tierheim interniert. Mit anderen Worten: Hierzulande kennen die meisten verwilderte Hunde nur aus Filmen oder Büchern. Das ändert sich jedoch, sobald man die eng besiedelten Wohlstandsregionen des Nordens verlässt. Dann gehören streunende Hunde wieder zum Alltag. Die Idee zu seinem Buch "Einen toten Hund im nach" kam dem französischen Schriftsteller Jean Rolin, als er während des Krieges in Ex-Jugoslawien recherchierte. Im verlassenen Sarajewo hörte er nachts das Geheul streunender Hunde, die oft in Rudeln auftraten.

    "Der streunende Hund ist eine Art Indikator für extreme, zugespitzte Krisensituationen: zum Beispiel im Krieg, wenn Menschen von zu Hause vertrieben werden, wenn Städte bombardiert werden, wenn die Bevölkerung auf der Flucht ist. Doch manchmal genügen auch weniger dramatische Situationen, etwa ein Regime-Wechsel wie nach dem Ende der Sowjetunion. Die Sichtbarkeit streunender Hunde, ihre Anzahl und Arroganz sagen viel aus. Je kritischer der Zustand der Menschen, der menschlichen Gesellschaft, um so wohler fühlen sie sich. Die Sichtbarkeit streunender Hunde ist ein Zeichen für den Unfrieden unter den Menschen."

    Jean Rolin hat das Phänomen über viele Jahre hinweg an ganz verschiedenen Orten der Welt beobachtet: So in Turkmenistan, wo heute immer häufiger die Frauen in der Familie das Sagen haben und ihre arbeitslosen Männer, wenn sie betrunken nach Hause kommen, nicht mehr hereinlassen – was wegen der zunehmenden Zahl von aggressiven Hunderudeln lebensgefährlich ist. Oder in Australien entlang des 5400 Kilometer langen Zauns, mit dem die Wollindustrie ihre Herden vor den wilden Dingos beschützen will. Oder in Bangkok, wo die Hunde liebenden Buddhisten im Clinch mit Muslimen liegen, die Straßenköter lieber vergiften.

    In jedem Fall: Jean Rolin verschafft uns mit seinen Reportagen nicht nur Einblicke von den Rändern der Welt, wie der Untertitel der deutschen Ausgabe suggeriert.

    "Ich habe in diesem Zusammenhang auch Länder besucht, die nicht in einer zugespitzten Krisensituation steckten: zum Beispiel Chile, wo sich die allgemeine Lage gerade deutlich verbesserte. Trotzdem waren dort streunende Hunde weiterhin ungemein präsent, vor allem in den armen, aber auch in den chiquen Vierteln. Das eine von zwei Malen, wo ich dort von streunenden Hunden attackiert wurde, war direkt vor dem Palacio de La Maneda, dem Präsidentenpalast in Santiago de Chile."

    Jean Rolin besticht in seinem Reportage-Band "Einen toten Hund ihm nach" zum einen durch seine präzise Prosa und seine nüchterne Beobachtungsgabe, die ohne künstliche Dramatisierungen auskommt; zum anderen durch seinen mal trocken-lakonischen, mal sarkastischen Humor. Hinzu kommt – was nach 15, zum Teil preisgekrönten Büchern nicht erstaunt - seine umfassende literarische Bildung.

    "Der Aufbau des Buchs folgt eher dem Zufall und nicht exakt der Chronologie meiner Reisen zu diesem Thema. Und ich musste, ehrlich gesagt, im Vorfeld viel recherchieren, fast schon wie ein Wissenschaftler: vor allem über den streunenden Hund in der Weltliteratur, wobei ich viele Leute um Hinweise gebeten habe. Am Anfang stehen natürlich die "Ilias" und die Bibel, jene beiden Texte, die unsere Kultur begründet haben. Da taucht der streunende Hund bereits auf - natürlich als Fluch. Vor allem in Verbindung mit Toten, die nicht begraben wurden, was für Juden und Griechen, wie jeder weiß, Gräuel gewesen sind. Sterben ist akzeptabel. Nicht beerdigt zu werden aber nicht. Denn die Unbeerdigten werden zur Beute der streunenden Hunde."

    Eigene Beobachtungen, Zitate aus literarischen Werken, statistische Hinweise, Thesen wissenschaftlicher Untersuchungen: All das verzahnt Jean Rolin in seinem Buch "Einen toten Hund ihm nach" zu einem hoch informativen, spannenden Puzzel über das Phänomen "streunender Hund". Grauenhaftes aus Kriegszonen steht neben Berührendem, wenn Anwohner die verwilderten Tiere füttern oder sich Obdachlose mit ihnen verbrüdern. Die Unruhe, die Jean Rolin indirekt, aber permanent im Leser schürt, hat dabei ihren Grund. Denn unweigerlich fragt man sich bei der Lektüre: Ist es denkbar, dass unsere domestizierten, heißgeliebten Vierbeiner auch bei uns wieder ungemütlich werden könnten? Denn sobald ihre Fressnäpfe nicht regelmäßig gefüllt werden, steigt – wie dieses Buch anschaulich zeigt – unweigerlich auch ihr Appetit auf Menschenfleisch.

    Buchinfos:
    Jean Rolin: "Einen toten Hund ihm nach. Reportage von den Rändern der Welt", Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Berlin Verlag, Berlin 2012, 254 Seiten, Preis: 24,99 Euro