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Die Angst vor der Angst

Die Weltgesundheitsorganisation prophezeit, dass die Depression in zehn Jahren die zweitgrößte Volkskrankheit sein wird - hinter Kreislaufstörungen. Doch wie entsteht diese psychische Erkrankung?

Von Peter Leusch | 13.05.2010
    Marianne Leuzinger-Bohleber, eine der beiden Direktoren des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, ist spezialisiert auf die klinische Seite der Psychoanalyse, auf die therapeutische Arbeit mit dem Einzelnen, um ihm aus dem psychischen Leid herauszuhelfen. Aber die Frage nach den Ursachen und dem rasanten Anstieg von Depressionen weist über den Einzelnen hinaus.

    "Wir sind natürlich als Psychoanalytiker, auch als Kliniker immer damit konfrontiert, dass diese Menschen nicht irgendwo nur genetisch dieses Leiden in sich tragen, sondern mit einer Depression auf einen aktuellen Anlass reagieren, und das kann eben in der Arbeitswelt sein, das kann mit den extremen Beschleunigungen zu tun haben, ... mit der Enttraditionalisierung, dem Verlust an Sinnstrukturen, vor allem an konstanten Beziehungen, die wir als biologisch angelegte Primaten sehr brauchen, - und das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen an einer Depression erkranken."

    Neben der Depression haben auch andere seelische Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten zugenommen: die Sozialphobie, eine Angststörung, für die es überhaupt erst seit zehn Jahren eine eigenständige Diagnose gibt, ferner das Chronische Erschöpfungssyndrom bei Erwachsenen und das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) bei Kindern, oft verbunden mit Hyperaktivität.

    Hier steht die Psychoanalyse vor einer doppelten Aufgabe: die Ursachen der seelischen Krankheiten aufzuklären und eine wirksame Therapie zu entwickeln. Lange beanspruchte die Psychoanalyse dabei ein Deutungsmonopol, betrachtete sich selbst als die einzig legitime Großtheorie des Seelenlebens und schaute geringschätzig auf konkurrierende Ansätze herab. Doch auf manchem Feld, zum Beispiel bei den Phobien, arbeitet die Verhaltenstherapie inzwischen weit erfolgreicher.
    Marianne Leuzinger-Bohleber hat deshalb die Weiche umgelegt und plädiert für konstruktives Miteinander.

    "Am Freud-Institut führen wir jetzt auch eine Therapie-Vergleichsstudie durch zu chronischen Depressionen - übrigens eine zweite Studie im Kinderbereich zu ADHS, wo wir das Gleiche machen: psychoanalytische Behandlung von sogenannten ADHS-Kindern vergleichen wir mit medikamentösen verhaltenstherapeutischen Behandlungen - weil wir es diesen Patienten und ihren Familien schuldig sind, dass wir nicht nur einen Schulenkampf machen, wo es um Macht und Pfründe geht bei den Krankenkassen, sondern dazu lernen, welche Menschen können mit welcher Therapie am ehesten ihre Lebensqualität zurückgewinnen und auf die einschränkenden Symptome verzichten."

    Bei der Erforschung der Ursachen seelischen Leidens richtet das Sigmund-Freud-Institut wieder verstärkt den Blick auf die Gesellschaft. Das hat Tradition in dieser Einrichtung, wo bereits ihr Gründer Alexander Mitscherlich gemeinsam mit seiner Frau Margarete Mitscherlich der deutschen Nachkriegsgesellschaft eine "Unfähigkeit zu trauern" attestierte. Ging es damals um Vergangenheitsbewältigung und Politik in Deutschland, so stehen heute globalisierte Wirtschaft und Arbeitswelt im Fokus. Der Sozialpsychologe Rolf Haubl, er ist der andere Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, diagnostiziert, dass sich der neoliberale Wandel der Gesellschaft auch in die Individuen einschreibt.

    "Die Ökonomie ist das Leitsystem unserer Gesellschaft geworden, und sie gibt den Takt vor, ... überall entwickeln sich Marktdynamiken bis dahin, dass Psychotherapie unter Marktdynamik gerät, man muss Nutzen nachweisen, Kosten-Nutzen-Kalkulationen machen, und das erzeugt einen extremen Druck in der Lebensführung. Und dieser Druck in der Lebensführung - das ist nicht nur These, sondern gut bestätigt seit den späten 80er-Jahren - bedingt einen sukzessiven Anstieg psychischer Störungen, auch im Bereich der Jugendlichen. Psychische Störung heißt immer auch: daran kann eine Gesellschaft ihre Kosten erkennen, die ihre Lebensführung produziert."

    Rolf Haubl berichtete auf der Tagung über das laufende Forschungsprojekt "Arbeit und Leben in Organisationen". Seit 2008 führt das Sigmund-Freud-Institut in Kooperation mit mehreren Universitäten eine Expertenbefragung durch, um die psychosozialen Auswirkungen einer veränderten Arbeitswelt näher zu untersuchen.

    "Wir haben über 1000 Supervisoren der Deutschen Gesellschaft für Supervision daraufhin befragt: 'Was ist denn in eurer Wahrnehmung in den letzten zehn Jahren passiert?' Und wir haben aus deren Antworten eine Reihe von Risikofaktoren entwickelt, die die Arbeitszufriedenheit senken und die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Arbeitnehmern haben."

    Bei der Analyse der Interviews verbinden die Forscher psychoanalytische Begriffe und Denkfiguren mit sozialwissenschaftlichen, auch empirischen Methoden. Die Studie ist noch nicht abgeschlossen, gleichwohl kristallisiert sich eine Perspektive heraus, wie sich der Einzelne im rauen marktradikalen Klima seelisch wappnen könnte.

    "Wir versuchen das Konzept der Selbstfürsorge auszuarbeiten, - es gibt in den Sozialwissenschaften in den letzten Jahren eine Thematisierung von Lebensführung, Lebenskunst sogar, - dass wir zunehmend nicht mehr in den Tag hinein leben können, sondern ein hoch reflektiertes Konzept der eigenen Lebensführung haben müssen. Zur Selbstfürsorge gehört zum Beispiel auf die eigenen körperlichen Bedürfnisse hören zu können, seine Kräfte einschätzen zu können, in einem Rhythmus zu leben, in der Lage zu sein, Nein zu sagen, auch wenn der Druck steigt. Die Psychoanalyse hat früher mal zu solchen Dingen Ich-Stärke gesagt und das wird zunehmend wichtiger, denn um sich psychisch gesund erhalten zu können, bedarf es einer reflektierten Lebensführung, die die eigenen Kräfte mit den Zumutungen ausbalancieren kann."

    Die Psychoanalyse, jedenfalls die im Sigmund-Freud-Institut, praktiziert die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften, - das belegte die Tagung. Aber die Psychoanalyse solle dabei ihr eigenes Verständnis des menschlichen Seelenlebens, ihre spezifische Perspektive nicht aufgeben, forderte Lilli Gast, Vizepräsidentin der Internationalen Psychoanalytischen Hochschule in Berlin. Vor allem dürfe sich die Psychoanalyse nicht unter das Diktat der raschen Verwertbarkeit stellen lassen, denn -nachhaltige Wissenschaft braucht Zeit.

    "Wir brauchen nicht die schnellen Antworten, die schnellen Lösungen, wir brauchen gute Analysen, etwas was nachhaltig ist, was uns als Gesellschaft ermöglicht von der Gegenwart in die Zukunft zu denken, ... Ich glaube, jede Wissenschaft die sich ernst nimmt, möchte nicht in Drei-Jahres-Kategorien der Drittmittelforschung zum Beispiel denken, jede Wissenschaft, die sich ernst nimmt, möchte diesen Raum haben für Grundlagenforschung, vielleicht ist die Psychoanalyse eine der letzten, die darauf besteht, und sagt: wir legen Wert darauf, wir wollen darauf beharren."