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Die antike Stadt Aquileia
See- und Handelsmacht am Mittelmeer

Lange vor Venedig war das 120 Kilometer entfernt gelegene Aquileia eine See- und Handelsmacht am Mittelmeer. Es war vor 2.200 Jahren, in römischen Zeiten, die viertgrößte Stadt des italienischen Stiefels. Heute erzählen die berühmten Mosaike von Aquileia, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören, tausend und eine Geschichte aus der Blütezeit der Stadt.

Von Franz Nussbaum | 15.03.2015
    Eben pfeift drüben ein Schiedsrichter zur Fußballhalbzeit. Und über uns pfeifen die Spatzen uns die Stadtgeschichte von den Dächern. AS Aquileia hat heute seinen Sportplatz genau da, wo etwa vormals die Stapelhäuser des Stadthafens enden. Auch da, wo dann die repräsentativen Bauten des opulenten Forum Romanum beginnen. Man ahnt noch den Umfang der antiken Hafenkais. Und neben dem Stadthafen hatte Aquileia auch noch einen Seehafen, draußen in der Lagune der Halbinsel Grado. Wir sehen hier beim Fußballplatz noch die Fundamente dieser Stapelhäuser. Sie waren mehrstöckig, da passte schon was rein.
    Wenn man die Fundamente fragt - erzählen sie uns vielleicht von den wichtigen Getreidespeichern. Getreide heißt Vorrat, heißt Brot, heißt auch Brot und Spiele. Und der Schriftsteller und Philosoph Biagio Marin notiert: "Hier beginnen die Steine zu sprechen, die Statuen stellen sich wieder auf ihre Sockel, die Göttinnen kommen in ihre Tempel zurück. In der Stille sind die Stimmen der Vergangenheit deutlich wahrzunehmen. Auf den gepflasterten Straßen hallt der schwere Schritt der ausrückenden Legionen wieder, die zu den Alpenpässen marschieren oder von Noricum und aus dem Donauraum zurückkommen."
    Aquileia ist also eine bedeutende Militärbastion. Und Noricum, das waren die Ostalpen. Sie sind für die Römer wegen der Erzvorkommen wichtig. Erz braucht man auch für die Militärwaffen. Ich hab einen Stadtplan des antiken Aquileia dabei. In ihrer Blütezeit soll die Stadt rund 100.000 Einwohner gehabt haben. Zusätzlich noch weitere hunderttausend Handwerker, Waffenschmiede, Schiffsbauer und Werften im Umkreis von zehn Kilometern. Und der antike Stadtplan zeigt uns auch, Aquileia besitzt natürlich ein angemessenes Amphitheater für "Brot und Spiele", für geschätzt 30.000 Besucher. Zusätzlich hat die Stadt auch ein Theater, hat auch einen Circus für Wagenrennen. Eine 400 Meter lange Bahn, wo Kampfwagen oder nennen wir sie "Rennwagen" von schnellen Rössern gezogen, von tollkühnen Hasardeuren, wie wir sie aus dem Film "Ben Hur" kennen, wo die Karren ungebremst in die spitze Kurve gelenkt werden, wo skrupellos um die Pol-Position gekämpft wird oder sich Rösser, Mann und Wagen beim "Großen Preis von Aquileia" spektakulär überschlagen. Und Christian Ulrich mit einer historisch interessanten Notiz aus diesem Circus Maximus.
    "Sie geht auf das Jahr 425 nach Christus zurück. Da wird im Circus von Aquileia ein hoher kaiserlicher Beamter hingerichtet. Er wollte den Kaiser Valentinian III. stürzen, ein unmündiges sechsjähriges Kind. Dass sich die führenden Familien des Römischen Reiches gegenseitig umlegten, war an sich keine Besonderheit. In Aquileia deuten sich da doch schon die stärkeren Erosionen des weströmischen Weltmachtverfalles an. Knapp 30 Jahre später trägt die Erosion das Gesicht Attilas, das im Abendland Entsetzen auslöst. Der Hunnenkönig belagert das reiche Aquileia, er erstürmt es und plündert es."
    Endpunkt der Bernsteinstraße
    Zurück zum Forum Romanum. Auf dem große Flanier- und Versammlungsplatz sehen wir mächtige Säulen, die wahrscheinlich einen tempelartigen Gebäudekomplex getragen haben. Später ist das alles eingestürzt. Und ein Benito Mussolini lässt vor 80 Jahren ein Dutzend der Säulentrümmer wieder aufrichten. Als wolle er sich damit auch selber als Nachfolger der römischen Cäsaren aufrichten. So trat Mussolini ja auch in seiner Bombastik auf.
    Das Forum Romanum, wo einst das Herz Aquileias pulsiert, wo die führenden Familien ihr Geld arbeiten lassen. Dieser Platz hatte Wasserspiele. Sie bringen frisches, kühles Wasser aus den Dolomiten mit einer extra erbauten Fernleitung in die antike Stadt. Man lässt sich von Sklaven und Militärs Viadukte für quellfrisches Wasser bauen. Und wir lesen: "Rund um das Forum, mit Platten aus hellem istrischem Stein belegt, spaziert man damals unter schattigen Laubengängen. Da warten eleganten Boutiquen auf die betuchte Hautevolle. Ein Großteil der eingewanderten Kaufleute stammt aus dem Orient. Hier findet also ein internationaler Waren und Kulturaustausch statt. Wie wäre es mit zierlichen Sandalen, mit goldfarbigen Bändern an den Fesseln eleganter Frauen befestigt? Oder beispielsweise die Juweliere von Aquileia. Sie verkaufen in Gold gefassten Bernsteinschmuck. Mit einem Bernsteinkreuz aus Aquileia schmückt sich sogar ein Papst.
    "Aquileia ist damals Endpunktder Bernsteinstraße. Der römische Schriftsteller Plinius der Ältere berichtet von Bernstein, der von der Weichselmündung und aus dem Baltikum bis nach Aquileia transportiert wurde. Das sind damals rund 1.400 Karawanen-Kilometer. Was kostete alleine diese Logistik? Und die cleveren Schmuckhändler von Aquileia verkaufen dann nicht nur das bloße Harzklümpchen. Der Wert des Bernsteins wird in Aquileia verzwanzigfacht. Denn spezialisierte Manufakturen fassen den mythischen Bernstein in Gold, für Ketten, Broschen, Diademe."
    Gold wurde auch aus nahen Dolomitenflüsschen heraus gesiebt und zusammen mit Bernstein an die "Kleopatras" rund um das Mare Nostrum, made in Aquileia verkauft. Diese Adria-Metropole hält natürlich auch eine formidable Residenz für durchziehende römische Kaiser bereit. Der mehrfache Besuch von Augustus und anderen Kaisern ist verbürgt. Und Christian Ulrich zeigt uns dazu die Fotografie eines Teenager-Kopfes aus dem Museum.
    Cäsar empfing hier Gesandte
    "In Stein gehauen, ein Kopf, der vermutlich den 12- oder 14-jährigen Octavian zeigt. Octavian ist der spätere Kaiser Augustus, ein Adoptivsohn Cäsars. Cäsar war auch sein leiblicher Onkel. Und der junge Octavian wird also von einer Schwester Cäsars aufgezogen."
    Da könnte man die interessante Frage stellen, ob der junge Octavian seinen Onkel Gajus Julius Cäsar in Aquileia zu einem Sonntagsspaziergang in den Circus begleitet hat? Brot und Spiele aus der VIP-Loge. Denn auch Cäsar ist öfter in Aquileia. Wir lesen, zusammengefasst: "In jener Zeit ist er knapp 50 Jahre alt und fast zehn Jahre lang mit der Eroberung Galliens bis zur Rheingrenze voll beschäftigt. Eroberung heißt, Cäsar braucht unbedingt die Tributzahlungen, quasi die Steuern der Völker jenseits der Alpen. Auch deren Bodenschätze. Cäsar ist, bevor er den gewaltigen Feldzug nach Norden plant, privat hochverschuldet. Der langjährige Eroberungszug durch Gallien wird aber jährlich für fast sechs Wintermonate unterbrochen. Die jungen verheirateten Soldaten bekommen Heimaturlaub, sollen Kinder zeugen. Nur eine kleinere Truppe bleibt in Gallien, jenseits der Alpen im Winter zurück und sichert die eroberten Gebiete. Andere erholen sich in der Garnisonsstadt Aquileia, kurieren sich aus."
    Cäsar soll in Aquileia Unterhändler der germanischen Provinzen empfangen haben. Er muss zudem laut Verfassung die Stadt Rom meiden. Cäsar darf den kleinen Grenzfluss Rubikon nicht nach Süden, Richtung Rom überschreiten. Schließlich tut er es dann doch und läuft sechs Jahre später quasi dem Brutus ins offene Messer.
    Und wir sehen nun das Foto eines schönen Männerkopfes, auch aus dem Archäologischen Museum, wo hunderte solcher Köpfe den Besucher stumm anstarren. Herr Ulrich, bringen Sie uns doch bitte den Kopf zum Sprechen.
    "Es ist ein Kopf des Apollon und gehört zu einer mannshohen Figur, deren Korpus verloren gegangen ist. Antike Gottheiten spiegeln ja die ewige Sehnsucht der Menschen nach einer höheren Welt, nach einer göttlichen Ordnung. Und Apollon, römisch Apollo, war ja in der Antike der Gott des Lichtes, der Gott des Frühlings, die Verkörperung der strahlenden Schönheit. Apollo unterstanden damals auch die Orakel. Salopp gesagt, Orakel und Tempel waren die Medienanstalten der Antike. Sie waren Verkündigung und Auslegung, und auch etwas politische Talkshow, könnte man sagen."
    Das "Schisma von Aquileia"
    Es ist unfassbar wie der anonyme Bildhauer diesen Apollo-Kopf plus Statue aus einem Stück gearbeitet hat. Die gegelten Haare, die fast göttliche Nase, die vollen Lippen, der schöne Mund.
    "Diese Gesichtszüge des Apollo haben sehr starke Ähnlichkeit mit Abbildungen, die von Augustus bekannt sind. Die Künstler und Auftraggeber haben dem Kaiser natürlich auch dadurch gehuldigt, dass sie ihn gottgleich darstellten. Und Augustus hat ja auch die beste Zeit des römischen Viel-Völker-Imperiums eingeleitet - mit einer fast 200-jährigen Friedenszeit, Pax Romana, auch Pax Augusta genannt."
    Was uns die Köpfe von Aquileia nicht alles erzählen, wenn man sie fragt. Nun springen wir 300 Jahre weiter. Das junge Christentum wird römische Staatsreligion. Die neue Religion kommt durch die Kaufleute aus dem Orient nach Aquileia. Der neue Glauben ist noch längst nicht in trockenen Tüchern. Und die Stadt wird auch in Zusammenhang mit dem "Schisma von Aquileia" bekannt, es findet hier auch ein Konzil statt. Auch da geht es um Verkündigung und Auslegung oder Exegese. Wir lesen "Schisma ist griechisch, heiß Trennung, Kirchenspaltung. Die junge Christenheit erschüttert ein erbitterter Glaubensstreit, gleichzeitig ein Machtkampf um die richtige Auslegung. Ist Jesus Christus der Sohn Gottes, der sich zur Erlösung der Welt kreuzigen lässt? Oder ist er ein gottgefälliger Menschensohn, ein Prophet, mit außergewöhnlicher Ausstrahlung?"
    Um diese Frage streiten sich die Kirchenführer, verteufeln sich gegenseitig, verbannen, verbrennen und verfolgen sich.
    Und nun betreten wir die Basilikavon Aquileia. In dieser Bischofskirche des Patriarchen und in den Krypten zweier Vorgängerkirchen sind nun die berühmten Mosaike, das Weltkulturerbe von Aquileia ausgestellt. Aber das Wort Mosaik geht uns leider zum einen Ohr rein und zum anderen Hörgang wieder raus. Also greifen wir wenige Bilder auf, um sie etwas verständlicher "auszulegen". Wir stehen auf gläsernen Stegen über einem großflächigen Bodenmosaik. Auf dem Mosaik wird wie in einem Video die bekannte Geschichte von Jonas erzählt, der ja von einem Walfisch verschlungen wird. "Eine Geschichte aus dem Alten Testament. Da ist ein Boot, eine Nussschale auf dem Mittelmeer unterwegs. Und Gott lässt einen mächtigen Seesturm aufkommen. Und der Mensch von damals sieht wohl in jeder Naturkatastrophe ein negatives Zeichen einer Himmelsmacht."
    Symbolik der österlichen Auferstehung
    Jonas in Seenot. Und in diesem schaukeligen Boot rätseln die ängstlichen Mitfahrer, warum es so stürmt? Das alles ist mit hunderten kleinen, oft nur fingernagelgroßen bunter Mosaik-Steinchen herausgearbeitet. Ein Meer mit unzähligen Fischen, mit einem Boot in hohen Wellen.
    "Zum Hintergrund. Gott will im sündigen Ninive, im heutigen Irak, den Bewohnern wegen ihrer Bosheit durch seinen Propheten ein Strafgericht androhen. Aber Jonas kneift und flieht, oder er macht lieber eine Schiffstour. Das sehen wir in verschiedenen Bildern dieses Mosaiks."
    Und schließlich outet sich Jonas seinen verzweifelten Gefährten. Und er sagt denen wahrscheinlich, Gott habe den Jonas auf dem Kieker, weil er dessen Botschaft nicht nach Ninive bringt. Und Jonas bietet seinen Mitfahrern an, dass man ihn zur Sicherheit am besten über Bord werfen soll. Und ein gewaltiger Fisch, ein See-Ungeheuer mit geringeltem Schwanz verschluckt den armen Jonas. Und augenblicklich ist der Sturm vorbei.
    "Und nun bekommt diese Jonas-Legende aus dem Alten Testament eine frühchristliche Adaption. Jonas im dunklen Bauch des Fisches betet drei Tage und Nächte zu Gott. Drei Tage und Nächte liegt auch der vom Kreuz abgenommene Jesus zwischen Karfreitag und Ostersonntag im Grab. Dann steht Christus als Erlöser auf. Diese Deutung - Jonas und Christus-drei-Tage-im-Grab oder im Bauch - ist damals die bekannteste christliche Ikonografie, also Symbolik für die österliche Auferstehung."
    Das heißt, das frühe Christentum kupfert sich die Jonaslegende quasi ab. Ist doch hochinteressant?
    "Die Christen gegen 315, als dieses Mosaik entstanden ist, kennen noch kaum öffentlichkeitswirksame Bilder für die Botschaften der Evangelien. Es gibt eine gewisse Unsicherheit Jesus im Bilde darzustellen. Und so bedienen sie sich der verschnörkelten Jonasgeschichte. So muss man sich das vorstellen."
    Übernahmen aus der griechischen Götterwelt
    Und so wandern wir ja heute in der Basilika und in der Krypta über gläserne Laufstege und befragt die freigelegten Mosaike, so aus dem 4. Jahrhundert. Ich sehe hier beispielsweise ein Mosaik vom guten Hirten. Da trägt einer, wahrscheinlich ist das Jesus, ein verirrtes Schaf auf der Schulter zur Herde zurück.
    "Das Bild vom guten Hirten übernehmen die jungen Christen von Orpheus aus der griechischen Halbgötterwelt. Orpheus ist ein berühmter Sänger, der mit dem Zauber seiner Musik, mit seinem Gesang alle Geschöpfe, auch die Tiere betören kann. Sogar Steine kann er erweichen. Das schafft heute nicht mal Dieter Bohlen. Der sagenhafte Orpheus ist hauptberuflich Hirte und wird häufig auf griechischen Keramiken mit einem Schaf auf der Schulter dargestellt. Sehen Sie mal hier dieses Bild. Da zupft Orpheus ein Instrument und um ihn herum sitzen die Tiere, ganz entspannt. Auch ein starker Löwe lauscht verzückt neben einem Osterlämmchen sitzend dem Musiker."
    Und die frühen Christen leihen sich also diesen Orpheus aus einem ganz anderen Kulturkreis aus und stilisieren damit Jesus zu ihrem guten Hirten. Und auch Reinhard May wünscht sich ja, ich möchte wie Orpheus singen.
    So ist das in Aquileia. Hier werden viele Geschichten erzählt. Und in der Geschichte der Stadt kommen und gehen die Hunnen und die West- und die Ostgoten. Auch Karl der Große und später unsere "Otto-Kaiser". Irgendwann erleidet der wichtige Hafen von Aquileia ein ähnliches Schicksal wie die Hafenstädte Ephesos und Milet. Die Hafenanlagen werden mit Schwemmland und Sand aus den Flüssen aus den Dolomiten zugeschüttet. Erdbeben lassen die Bauten einstürzen. Und der Letzte macht dann vor rund eintausend Jahren in Aquileia das Licht aus.