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"Die Atomkraft ist keine Zukunft, sondern sie ist Vergangenheit"

Jo Leinen, SPD-Europaabgeordneter und Vorsitzender im Ausschuss für Umweltfragen, begrüßt, dass die Atomdebatte jetzt auch auf europäischer Ebene beginnt, nachdem sie dort jahrzehntelang tabu war. Er ist zuversichtlich, dass es letztendlich eine Ausstiegsdebatte sein werde, nach der Anlagen in Europa stillgelegt werden.

Jo Leinen im Gespräch mit Jasper Barenberg | 19.05.2011
    Jasper Barenberg: Viele Fragen lässt die Reaktorsicherheitskommission in ihrem Bericht zum Zustand der 17 Atomkraftwerke in Deutschland offen. Zumindest eine aber beantwortet das Gutachten klar: Sieben der 17 Meiler müssen schon vor einem mittelgroßen Verkehrsflugzeug kapitulieren. Das allerdings ist alles andere als neu und hilft auch nicht bei der Antwort auf die Frage, ob die Kraftwerke in Deutschland nun sicher sind oder nicht, ob sie abgeschaltet gehören oder am Netz bleiben könnten. Von Robustheit spricht Umweltminister Norbert Röttgen einerseits, andererseits von den Grenzen der Robustheit. Alles eine Frage der Auslegung also. Gilt das auch für den geplanten Stresstest für alle Atomkraftwerke in Europa? - Jetzt am Telefon der SPD-Europaparlamentarier Jo Leinen in Brüssel, unter anderem Vorsitzender im Ausschuss für Umweltfragen. Schönen guten Morgen, Herr Leinen.

    Jo Leinen: Guten Morgen!

    Barenberg: Herr Leinen, welchen Reim machen Sie sich denn auf das Gutachten der Reaktorsicherheitskommission, das hier veröffentlicht wurde?

    Leinen: Nun, es zeigt doch deutlich, dass alle Atomkraftwerke gegen moderne Gefahren nicht gesichert sind. Seit den Angriffen von Al Kaida auf das World Trade Center in New York wissen wir, dass solche Anschläge möglich sind, und alle Atomkraftwerke in Deutschland wären gegen einen solchen Angriff nicht gefeit. Und da muss man sich fragen, welches Risiko sind wir in der dicht besiedelten Bundesrepublik bereit, auf uns zu nehmen, wissend, was für Folgen ein Nuklearunfall, eine Kernschmelze in Deutschland hätte.

    Barenberg: Und dafür hat der Bericht dieser Reaktorsicherheitskommission neue Informationen, neue Einschätzungen geliefert?

    Leinen: Na, das war schon bekannt bei dem Ausstiegsbeschluss von Rot-Grün im Jahre 2002. Man wusste ja, dass seinerzeit, als diese Kraftwerke gebaut worden sind, niemand an Al Kaida, an terroristische Angriffe gedacht hat. Das ist halt eben neu und diese Anlagen müssten nachgerüstet werden, falls das überhaupt ginge. Sie sind jedenfalls nicht sicher, das kann man sagen.

    Barenberg: Könnte denn der Bericht, der jetzt vorliegt in Deutschland, auch eine Blaupause geradezu sein für die geplante Überprüfung aller europäischen Meiler?

    Leinen: Ja, es war ja der große Streit in den letzten Wochen, ob man die europäischen Atomkraftwerke nur auf die natürlichen Gefahren überprüft, also was in Japan passiert ist, ein Erdbeben, ein Tsunami, das heißt eine große Überschwemmung, oder ob auch menschliches Fehlverhalten, menschliche Gefahren einbezogen werden. Wir im Europaparlament haben Kommissar Oettinger immer bestärkt, jetzt einen Risikotest zu machen, der alle Gefahren beschreibt und nicht nur die halbe Wahrheit auf den Tisch bringt. Und das ist ein Ringen der Atomkraftwerkslobby gegen die vielen, die befürchten, dass diese Anlagen nun eine große Gefahr für uns bedeuten.

    Barenberg: Sie haben es erwähnt: Der zuständige Kommissar Günther Oettinger, er will sich auf einen strikten und umfassenden Stresstest festlegen. Glauben Sie, dass er sich dabei durchsetzen wird.

    Leinen: Ja, er hat in dem Umweltausschuss im Parlament in aller Öffentlichkeit gesagt, er gibt keine Unterschrift für die Europäische Kommission an Stresstests, die das Wort nicht wert sind. Und ich glaube, da wird schon sehr hart verhandelt. Heute soll ja in Brüssel auch eine neue Runde laufen aller 27 Länder mit der Europäischen Kommission, und ich glaube, die Europäische Kommission sitzt am längeren Hebel, weil die Öffentlichkeit nach den Ereignissen in Japan doch wissen will, wie sieht es denn aus mit unseren Atomanlagen, und Herr Oettinger hat eigentlich gute Karten, sich durchzusetzen, weil im Prinzip sind es nur zwei Länder, die blocken: Das ist Frankreich, was sich total im nuklearen Strudel verwoben hat, und das ist natürlich auch Großbritannien, die noch ein paar Atomkraftwerke bauen wollen.

    Barenberg: Wenn es diesen Stresstest dann geben wird, kann man dann an dem deutschen Beispiel auch ablesen, dass am Ende auch dann alles eine Frage der Auslegung sein wird? Mit anderen Worten: Rechnen Sie damit, dass am Ende auch nur ein einziges Kraftwerk vom Netz gehen muss wegen dieses Tests?

    Leinen: Ja, das glaube ich schon. Wir haben 143 Kraftwerke in Europa, Atomkraftwerke, und wir wissen, dass da einige in Erdbebenspalten angelegt sind, dass andere an der Küste sind, wo es zu wenig Schutz gegen Überschwemmungen gibt. Und dann haben wir auch welche, die in Einflugschneisen von großen Flughäfen liegen. Also Atomdebatte auf der europäischen Ebene war bisher ja eher ein Tabu. Das hat kaum stattgefunden. Der Euratom-Vertrag aus dem Jahre 1955, der einzige Europavertrag, der nie mit einem Komma oder einem Wort geändert wurde. Das wurde immer zur Seite geschoben. Und diese Debatte beginnt jetzt. Das ist der Beginn einer europäischen Atomdebatte, die letztendlich eine Ausstiegsdebatte sein wird. Und ich bin schon sicher, dass die eine oder andere Anlage in Europa dann auch stillgelegt wird.

    Barenberg: Nehmen wir ein Beispiel: Das AKW Fessenheim liegt in Frankreich, keine 30 Kilometer entfernt von Freiburg, gleiches Baujahr wie Fukushima, gleiche Technik, in einem Gebiet, das als erdbebengefährdet gilt. Wäre das ein Kandidat?

    Leinen: Ganz sicher! Das ist ein uraltes Kraftwerk mit wirklich großen Gefahren und es ist bemerkenswert, dass die Mauer des Schweigens auch in Frankreich aufbricht. Immerhin hat der Stadtrat von Straßburg, also der Hauptstadt des Elsass, vor einigen Wochen beschlossen, dass die zwei Anlagen in Fessenheim stillgelegt werden sollen. Also man kann sehen, auch in Frankreich ist das Thema nicht mehr tabu, sondern bricht auf, und die Franzosen haben nächstes Jahr Präsidentschaftswahlen. Da bin ich ganz sicher, dass die Atomdebatte zum ersten Mal in der Republik ein großes Thema sein wird. Und da alle Anlagen in Frankreich denselben Bautyp haben, ist dieses Land natürlich besonders gefährdet. Wenn da irgendwo ein großer Unfall passiert, dann gibt es quasi eine Serie in Frankreich.

    Barenberg: Ist es auf der anderen Seite, Herr Leinen, nicht legitim, dass unterschiedliche Staaten in Europa auch unterschiedliche Konsequenzen aus der Katastrophe von Fukushima ziehen und weiter auf Atomkraft setzen?

    Leinen: Also in Tschernobyl hat man ja gesagt, das ist ein kommunistischer Reaktor, so was passiert bei uns nicht. Jetzt ist es in Japan passiert, in einem Hochtechnologieland. Ich glaube, wir haben mittlerweile eine Debatte, dass die Gefahren der Atomanlagen nicht mehr alleine der nationalen Souveränität unterliegen, sondern ja die Nachbarn mit gefährden und insofern eine echt europäische Angelegenheit sind. Das ist ein Bohren dicker Bretter, weil der Energiemix bisher in nationaler Verantwortung liegt. Da hat Europa direkt keine Kompetenz. Aber wir sehen ja auch beim Klimawandel, da schreiben wir vor, dass jedes Land 20 Prozent erneuerbare Energien im Energiemix haben soll bis 2020, also in diesen zehn Jahren, und so kann natürlich auch eine Atomdebatte dazu führen, dass mehr und mehr die Überzeugung reift, dass wir in Europa aus dieser gefährlichen Technologie aussteigen.

    Barenberg: Den Energiekonzern RWE hat diese Überzeugung noch nicht erreicht. Er hat gerade bekannt gegeben, dass er sich in den Niederlanden an dem einzigen Atomkraftwerk dort beteiligen will, möglicherweise auch an einem Neubau, keine 200 Kilometer also jenseits der deutsch-niederländischen Grenze. Ist das auch ein Stück der Zukunft der Atomkraft in Europa?

    Leinen: Dieses Thema ist noch nicht gegessen. Also in den Niederlanden ist dieselbe Debatte wie bei uns. Das würde mich sehr wundern, wenn RWE jetzt in einem Ausweichmanöver zu einem Nachbarland Erfolg hätte. Also da wünsche ich denen "viel Glück", in Anführungszeichen. Ich meine, dass gerade die Niederlande viele Potenziale haben mit Erdgas. Sie haben die Nordseeküste wie wir, wo große Potenziale der Windkraft existieren. Also das gilt auch für die Niederlande: Die Atomkraft ist keine Zukunft, sondern sie ist Vergangenheit.