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Die begrenzte Demokratie

In unserer dreiteiligen Gesprächsserie über Mexiko unterhält sich heute Peter B. Schumann mit der Publizistin Carmen Aristegui.

Gespräch mit der mexikanischen Publizistin Carmen Aristegui | 23.05.2010
    Peter Schumann: Die Revolution war vor 100 Jahren der erste Versuch, in Mexiko die Demokratie zu verankern. Er wurde sehr rasch vom Verlangen nach einer gründlichen Umgestaltung der sozialen Verhältnisse verdrängt. Als diese Wende in den 1930er-Jahren endlich vollzogen war, erhielten die autoritären Herrschaftsstrukturen lediglich eine demokratische Fassade. An dieser begrenzten Demokratie hat sich seither nur wenig verändert. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden allerdings verschiedene Schritte zur Demokratisierung unternommen. Transición hat deshalb Carmen Aristegui ihr neues Buch genannt, in dem sie eine Reihe der Protagonisten dieser Zeit des Übergangs interviewt hat. Sie ist eine der bekanntesten Publizistinnen Mexikos und thematisiert in ihren Rundfunk- und Fernsehsendungen immer wieder die Defizite der mexikanischen Demokratie, die sich ganz besonders im Bereich der Medien zeigen.

    Carmen Aristegui, lassen Sie uns bei der Mexikanischen Revolution beginnen. Worin sehen Sie deren bleibende Werte?

    Aristegui: Die Mexikanische Revolution hat nicht nur 1 Million Tote gefordert. Dieser große revolutionäre Kampf hat auch die lange Diktatur von Porfirio Díaz beendet. Und sie ist ein zentraler Bestandteil der mexikanischen Identität: unseres Wertesystems, unserer Kultur, unserer Musik und unserer Ikonografie. Zapata, Villa, Madero – diese großen Helden sind die zentralen Bezugspersonen. Francisco Madero ist beispielsweise die Hauptfigur jenes revolutionären Prozesses, der 1910 zu einer Demokratie führen sollte. Aber auch 2010, 100 Jahre nach der Revolution, fragen wir uns noch immer, ob wir wirklich eine lebendige Demokratie erreicht haben. Denn wir leben heute in einem Machtsystem, das von Kräften abhängig ist, die nicht im Sinne der Allgemeinheit handeln und die daran zweifeln lassen, dass es in Mexiko eine Demokratie gibt.

    Schumann: Aber der äußeren Form nach ist doch nicht zu bestreiten, dass in Mexiko demokratische Verhältnisse herrschen: Es gibt Meinungsvielfalt, verschiedene Parteien, Wahlen usw.

    Aristegui: Wir hatten tatsächlich bei den Wahlen Fortschritte gemacht und konnten anfangen, von Demokratie zu sprechen. Denn es gab auch lichte Momente in den letzten 15 oder 20 Jahren: Machtwechsel, die endlich stattgefunden haben bei den Regierungen der Bundesstaaten bis hin zu den Gemeindevertretungen. Und es gab einen goldenen Moment im Jahr 2000, als es gelang, die PRI nach 70 Jahren von der Herrschaft zu vertreiben und so ein nicht gerade demokratisches, aber in seiner Form einzigartiges Regime zu beenden.

    Schumann: Der Historiker Lorenzo Meyer hat diese Art der Machtausübung durch die PRI in unserem ersten Gespräch "ein modernisiertes Porfiriat" genannt.

    Aristegui: Ich weiß nicht, ob ich diese Formulierung benutzen würde. 70 Jahre lang hatte die PRI mit undemokratischen Mitteln geherrscht und beispielsweise nach eigenen, ungeschriebenen Regeln den Machttransfer von einem Präsidenten auf den nächsten gesichert. Nach einer langen Entwicklungsphase und durch den Kampf vieler Menschen in unserem Land war es dann schließlich möglich, so etwas wie eine repräsentative Demokratie zu schaffen, zunächst in den Bundesstaaten und dann im Jahr 2000 bei der Präsidentschaftswahl von Vicente Fox.

    Schumann: Würden Sie sagen, dass der Kampfgeist, der Kampf um die Demokratie, ein Erbe der Mexikanischen Revolution ist?

    Aristegui: Im Prinzip schon. Es ist jedoch nicht einfach festzustellen, wie tief bei den Revolutionären, die Porfirio Díaz besiegten, demokratische Ideen verwurzelt waren. Sie besaßen sicher eine demokratische Grundüberzeugung: Sie strebten einen Machtwechsel an, eine angemessene Vertretung des Volkes bei den politischen Entscheidungen – und das ist nichts anderes als ein Anfang von Demokratie. Auch ihre zentralen Forderungen – Land und Freiheit – könnte man als ein Verlangen nach Demokratie begreifen.

    Schumann: Und nach sozialer Gerechtigkeit.

    Aristegui: Natürlich. Land, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und alles, was dazu gehört, um die Unterdrückung zu beseitigen, mit der das Díaz-Regime über die Mehrheit herrschte.

    Schumann: Sie haben gesagt: Die Mexikanische Revolution hat das Wertesystem der Mexikaner bestimmt hat. Welche dieser Werte – Demokratie, Freiheit, Land, soziale Gerechtigkeit – sind denn heute noch erhalten?

    Aristegui: Ich befürchte, es gibt schlechte Nachrichten. Was die soziale Gerechtigkeit betrifft, brauchen wir nur aus dem Fenster zu blicken. In Mexiko herrscht eine äußerst extreme Verteilung der Reichtümer und der Einkünfte. Dieses Land nimmt heute die 10. oder 11. Position in der Weltwirtschaft ein und hat die zweifelhafte Ehre, den reichsten Mann der Welt zu besitzen – laut der Forbes-Liste. Gleichzeitig lebt die Hälfte der Bevölkerung in Armut, großen Teils sogar in extremer Armut. Das heißt: Einer der wichtigsten Impulse des revolutionären Prozesses vor 100 Jahren hat nicht zu einer dauerhaften Entwicklung geführt.

    Schumann: So steht es um die soziale Gerechtigkeit. Und was ist aus dem Recht, der Justiz, geworden?

    Aristegui: Dafür gilt das Gleiche. Die Justiz hat in unserem Land einen Kollaps erlebt. Das ist ein auswegloses Labyrinth, denn wir erleben eine der blutigsten, gewaltreichsten Etappen unserer Geschichte. 22.000 Tote in den vier Jahren der Regierung Calderón – das ist die offizielle Zahl und das Resultat des Kampfes gegen das organisierte Verbrechen. Dazu gehören Morde und Exekutionen, bei denen nicht der geringste Versuch einer juristischen Untersuchung gemacht wurde.

    Schumann: Die meisten Opfer hat aber doch der Bandenkrieg innerhalb der Drogenmafia gekostet.

    Aristegui: Wir können nur hoffen, dass die offizielle Auskunft stimmt. Denn gerade dieser Bereich ist außer Kontrolle, dort herrscht völliges Chaos. Die Unsicherheit ist eine Einladung zum Verbrechen, Personen einfach zu eliminieren, denn es wurde so gut wie nie untersucht, unter welchen Bedingungen die 22.000 gestorben sind. Es gibt keinerlei exakte Information darüber, wie viele dieser Opfer auf das Konto der Narcos gehen und wie viele von den Streitkräften verursacht wurden. In diesem Bereich und in vielen anderen ist die Justiz nur sehr beschränkt tätig. Auch ist die Generalstaatsanwaltschaft nicht unabhängig, denn ihre Mitglieder werden vom Präsidenten ernannt. Sie ist weder willens noch technisch dazu ausgerüstet, diese Fälle zu untersuchen. Die Justiz gehört zu den nicht erfüllten Zielen der Revolution.
    Schumann: Wie ist es überhaupt zu dieser Eskalation der Gewalt gekommen?

    Aristegui: Dieses Phänomen hat seine Wurzeln bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Felipe Calderón kam mit einem ernsten Defizit an Legitimität ins Amt, durch ein umstrittenes Wahlergebnis. Deshalb machte er den Kampf gegen die Drogenkartelle zum zentralen Thema seiner Regierung. Er verstärkte die Präsenz der Streitkräfte in diesem Kampf massiv. Das führte zu einer Spirale der Gewalt in unserem Land. Die Zahl der Exekutionen geht in die Tausende, die Zahl der Toten ist so hoch wie in einem Krieg.

    Schumann: Die Regierung musste doch etwas gegen die ständig zunehmende Gewalt und die Entmachtung des Staates in einzelnen Gebieten unternehmen.

    Aristegui: Aber diese Konfrontation mit der Gewalt der Drogenmafia wird nicht von anderen Maßnahmen ihrer Bekämpfung begleitet wie der Eindämmung ihrer Finanzen und der Unterstützung durch Politik und Polizei. Hier ist Calderón nicht aktiv geworden. Er setzte voll und ganz auf die Militarisierung, ohne den Beweis zu erbringen, dass er das Monstrum des Drogenhandels dadurch würde schlagen können.

    Schumann: Dabei sind neue Formen von Brutalität aufgetaucht: Verstümmelungen, Enthauptungen. Werden sie nur von den Narcos praktiziert?

    Aristegui: Ich vermute, dass sie von dieser Seite kommen. Ich habe keine Beweise dafür, dass sie von staatlichen Organen verübt werden. Sie sollen Terror verbreiten, und sie sind wohl durch die internationale Vernetzung des Drogenhandels bei uns eingeführt worden. Experten haben errechnet, dass die mexikanischen Drogenbosse Verbindungen zu 47 Städten in aller Welt unterhalten. Die Praktik der Enthauptung stammt wohl von einer guatemaltekischen Bande. Diese neuen Grausamkeiten werden ergänzt durch eine neue Form der Kommunikation: Sie verbreiten Terror-Botschaften auf Leintüchern, die sie beispielsweise an Brücken aufhängen. In Dutzenden von Städten tauchen sie ständig auf: Drohungen gegen andere Kartelle, gegen die Regierung, gegen die Bevölkerung. Diese neuen Formen der Gewalt sind Ausdruck des Kampfes unter den Kartellen und der Handlungsweise des Staates.

    Schumann: Kommen wir noch einmal zurück zu den Zielen der Mexikanischen Revolution. Was ist aus der Freiheit geworden, Carmen Aristegui? Aus der Presse- und Meinungsfreiheit beispielsweise?

    Aristegui: Da herrscht Licht und Schatten. Natürlich haben wir wichtige Fortschritte gemacht. Wir haben heute eine sehr viel freiere Presse als Jahrzehnte zuvor. Kritik ist gefragt, wird gelesen, gehört und gesehen in den verschiedenen Bereichen unseres Kommunikationssystems. Aber im wichtigsten, einflussreichsten Sektor, dem Fernsehen, herrscht ein Duopol und Hyperkonzentration. Das Fernsehen ist auch in Mexiko die entscheidende Quelle der politischen Information. In einer funktionierenden Demokratie müsste diese Situation verändert werden. Stattdessen sind neue Machtfaktoren hinzugekommen, durch die die junge Demokratie Mexikos großen Gefahren ausgesetzt wird.

    Schumann: Das Duopol – das sind die beiden Kommerzsender Televisa und TV Azteca.

    Aristegui: Beide verfügen über mehr als 90 Prozent der Einschaltquoten und der Frequenzen. Sie haben nicht nur die letzten Wahlkampagnen massiv beeinflusst, sondern sie haben auch damit begonnen, eigene Kandidaten aufzubauen. Der neueste Fall heißt Enrique Peña Nieto, ist Gouverneur des Bundesstaates Mexico und steht an der Spitze aller Umfragen, seit Televisa ihn systematisch zum führenden Politiker der PRI gemacht hat. Seine Popularität stammt jedoch lediglich vom Fernsehen: Er ist ein fast unvermeidbarer Kandidat geworden.

    Schumann: Sie haben davon gesprochen, dass Kritik in den Medien geschätzt wird. Ich habe aber den Eindruck, dass sie nur in ganz wenigen, nicht elektronischen Medien wirklich an die Substanz geht, das Machtsystem attackiert.

    Aristegui: Das ist ein sehr ernstes Problem und hängt mit dem von mir beschriebenen System zusammen. Das schwächste Glied sind die Journalisten. Viele arbeiten sowohl im Rundfunk als auch im Fernsehen und in der Presse. Ein Beispiel, von dem ich selbst betroffen war. In meinem Buch Transición, das 26 Interviews über diese Etappe des demokratischen Übergangs von 1988 bis heute enthält, habe ich auch ein Gespräch mit Ex-Präsident Miguel de la Madrid publiziert. Es hat in der Presse und im Radio hohe Wellen geschlagen. Einer der wichtigsten Fernsehleute, der auch ein Rundfunk-Programm hat, fand dessen Äußerungen so wichtig, dass er darüber zunächst ausführlich im Radio berichtete. In seinem abendlichen Fernseh-Programm hat er nicht mit einem Wort erwähnt, was ihm Stunden zuvor so wichtig war.

    Schumann: Denn inzwischen hatte ein anderer Ex-Präsident massiv interveniert: sein Vorgänger Carlos Salinas de Gortari, den de la Madrid ungewöhnlich scharf kritisiert hatte.

    Aristegui: Er hatte von unmoralischem Verhalten, Korruption und Beziehungen zur Drogenmafia gesprochen. Ich habe das Gespräch nicht für das Radio geführt, sondern für mein Buch. Ich wollte aber angesichts der Brisanz nicht Monate mit dessen Publikation warten. Deshalb habe ich dann die entsprechenden Passagen in meinem morgendlichen Rundfunkprogramm gesendet. Zwei Stunden später ließ de la Madrid eine Erklärung verbreiten, in der er seine Äußerungen bestritt. Eine Stunde danach erhielt ich einen Brief von Carlos Salinas de Gortari, in dem er mich beschuldigte, ein Interview mit einem kranken Mann geführt zu haben. De la Madrid ist tatsächlich lungenkrank, ich hatte jedoch in keinem Augenblick des eineinhalbstündigen Gesprächs den Eindruck, dass dies seinen geistigen Zustand irgendwie beeinträchtigt hätte. Die Intervention von Salinas zeigt, über welche Macht dieser auch heute noch in unserem Land verfügt.

    Schumann: Ich will unseren Hörern kurz erklären, wer dieser Carlos Salinas de Gortari ist. Er hat von 1988 bis 1994 regiert und gilt als einer der umstrittensten Präsidenten Mexikos. Bei seiner Wahl brach das Computersystem zusammen, als die Ergebnisse eine Mehrheit für den linken Kandidaten signalisierten. Sein Bruder wurde später wegen Korruption zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt. Ihn schützt bis heute die Immunität gegen eine Vielzahl von Strafverfahren. Konnte auch er sich in diesem Fall auf Televisa und TV-Azteca verlassen?

    Aristegui: Zweifellos. Dieser Mittwoch liefert ein gutes Bild davon, wie heute die Macht in Mexiko funktioniert. Die Ausstrahlung des Gesprächs mit Miguel de la Madrid machte die Kräfte mobil, über die Carlos Salinas de Gortari verfügte. Er vermochte es, einen Ex-Präsidenten zum Dementi seiner Äußerungen zu veranlassen. Er bewirkte außerdem, dass das Fernseh-Duopol nicht ein einziges Wort über den Skandal verbreitete, der in allen übrigen Medien Schlagzeilen machte. Und sehr traurig und schmerzvoll für Journalisten finde ich es, dass Kollegen, die im Radio die Dinge auf den Punkt bringen, später im Fernsehen darüber schweigen müssen. Der schon erwähnte Kollege war nämlich nicht der Einzige. Das zeigt die Verzerrungen, die es heute bei den mexikanischen Massenmedien gibt. Die Hyperkonzentration beim Fernsehen, weniger im Radio, ist eines der größten Hindernisse für die demokratische Entwicklung in Mexiko.

    Schumann: Frau Aristegui, es gibt noch ein ganz anderes Problem für die freie Meinungsäußerung: die Ermordung von Journalisten, meistens durch das organisierte Verbrechen. Mehr als 70 Journalisten sind im letzten Jahrzehnt umgebracht worden, seit die PAN, die Partei der nationalen Aktion, das Land regiert.

    Aristegui: Wir beide können wirklich nicht weiterreden, ohne über diese Toten zu sprechen. Mir kann man ein Radioprogramm wegnehmen, kritische Zeitschriften können überfallen werden, aber viele Journalisten haben ihr Leben verloren bei der Ausübung ihres Berufs. Erst vor Kurzem ist ein weiterer Kollege in Michoacán verschwunden: der Korrespondent der Zeitschrift Cambio. Und gerade haben sie dort den für das Radio- und Fernsehsystem des Bundesstaates verantwortlichen Direktor ermordet. Die Liste der toten Journalisten wird immer länger, ohne dass auch nur einer dieser Fälle aufgeklärt worden wäre oder dass die Justiz überhaupt untersucht hätte, wer die Täter waren. Mexiko ist wahrscheinlich das Land mit den meisten getöteten Journalisten.

    Schumann: Aber nicht nur die Medienkonzentration gefährdet die Meinungsfreiheit, sondern in zunehmenden Maße auch das organisierte Verbrechen.

    Aristegui:
    Und zwar deshalb, weil Verbrecherbanden Teile des mexikanischen Staates beherrschen und Journalisten deshalb ihre Arbeit nicht mehr ausüben können. Verschiedene Zeitungen haben bereits öffentlich erklärt, dass sie über die Drogenmafia nicht mehr berichten werden, um ihre Mitarbeiter nicht zu gefährden. Das zeigt, wie es um Teile der Republik steht.

    Schumann: Ich habe jedoch den Eindruck, dass auch die Regierung daran mitwirkt, ihr unangenehm werdende Stimmen mundtot zu machen. Mitte April wurden die Redaktionsräume der Wochenzeitschrift Contralinea überfallen, einem ihrer schärfsten Kritiker.

    Aristegui: Bei dem Überfall auf die Büros von Contralinea wurden Protokolle, Computer-Festplatten, journalistische Dokumente und Materialien entwendet, die kein gemeiner Dieb sucht, um sie weiterzuverkaufen. Es handelte sich hier ganz klar um eine politische Aktion, die sich gegen die journalistische Arbeit richtete.

    Schumann: Carmen Aristegui, Sie haben selbst Anfang 2008 einen Anschlag auf die Meinungsfreiheit erlebt. Damals moderierten Sie für W-Radio eines der meistgehörten Rundfunkprogramme Mexikos, bis man Ihnen den Stuhl vor die Studiotür setzte. Was ist passiert?

    Aristegui: Televisa, der mexikanische Telekommunikationsgigant, und Prisa, das spanische Pendant, hatten sich verbündet, um einen einflussreichen Rundfunksender aufzubauen. Wir waren eine Gruppe von bekannten Journalisten, die ein vierstündiges Vormittagsprogramm gestalteten. Fünf Jahre lang haben wir kontroverse Themen aufgegriffen, die großes Echo fanden, denn wir hatten einen Vertrag mit den Spaniern, der uns einen ungewöhnlichen Spielraum einräumte. Allmählich nahm der Druck des mexikanischen Gesellschafters zu, ganz besonders, als wir über das neue Televisa-Gesetz berichteten, das für Mexiko von enormer Wichtigkeit war und damit auch für die Hörer. Es herrschte in der Öffentlichkeit ein geradezu skandalöses Schweigen, sodass wir eine Diskussion darüber eröffnen wollten. Aber Televisa wollte sie verhindern.

    Schumann: Das war wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, denn Sie hatten über zahlreiche provokante Themen im Programm diskutiert: über Abtreibung, Wahlmodalitäten, Fälle von Korruption usw.

    Aristegui: Dadurch wurde auch die Beziehung zwischen Televisa und Prisa zunehmend schwieriger. Es kam schließlich zum Bruch. Mein Rauswurf fand ein großes Echo in Zeitungen und Zeitschriften, denn er zeigte die Schwäche von uns Journalisten: wie leicht wir aus verlegerischen Gründen aus der Öffentlichkeit entfernt werden können, selbst wenn wir Erfolg haben, und wir hatten damals gerade beste Einschaltquoten.
    Schumann: Wer hat die Macht in Mexiko? Oder besser gesagt: Wer ist die 4. Macht? Televisa oder das organisierte Verbrechen?

    Aristegui: Politisch gesehen: Televisa. Ökonomisch könnte es das organisierte Verbrechen sein. Aber ich weiß nicht, wie weit die Drogenmafia das gesellschaftliche Gefüge durchdrungen hat. Ich vermute, bis in die höchsten Kreise, denn was wir heute erleben, ist ohne die Verstrickung vieler Interessen und vieler Kräfte nicht möglich.

    Schumann: Reicht der Einfluss des Fernseh-Molochs Televisa nicht auch bis in höchste Kreise? Ist er nicht die vierte Macht im Staat?

    Aristegui: Die Frage ist provokant. Ich denke, dass Televisa in gewisser Hinsicht die vierte Macht darstellt, denn seine Verantwortlichen greifen inzwischen in parlamentarische Vorgänge und in politische Entscheidungen ein. Sie nehmen sich sogar das Recht heraus zu bestimmen, wer der nächste Präsident Mexikos sein wird. Im Parlament gibt es inzwischen so etwas wie eine 'Fernseh-Bank': eine Gruppe von Abgeordneten, die vom Fernsehen unterstützt wird und die direkt aus der Rechtsabteilung von Televisa kommt.

    Schumann: Ich will kurz erklären: Das Televisa-Gesetz wurde 2006, kurz vor dem Ende der Regierungszeit von Präsident Fox, verabschiedet und räumte dem Privatfernsehen, das heißt vor allem Televisa und TV Azteca, ungewöhnliche Privilegien ein. Wie kam es dazu?

    Aristegui: Es war Verrat an der Nation und wurde fast einstimmig im Parlament angenommen. Das Televisa-Gesetz wurde von den Rechtsanwälten des Fernsehsenders entworfen, untermauerte den Status quo, erweiterte die Frequenzen und dehnte die Konzessionen auf alle neuen Technologien aus. Das Gesetz wurde deshalb kurz vor den letzten Wahlen verabschiedet, weil zu befürchten war, dass sie der linke Präsidentschaftskandidat gewinnen würde. Ein schwaches Parlament stimmte in sieben Minuten über ein Telekommunikationsgesetz ab, über das ein Vierteljahrhundert lang in Mexiko diskutiert worden war.

    Schumann: Aber der Oberste Gerichtshof kippte es 2007.

    Aristegui: Das war ein Glück für Mexiko und ist einer der lichten Augenblicke unserer Geschichte in den einhundert Jahren seit der Revolution. Der Oberste Gerichtshof bewies ausnahmsweise seine Unabhängigkeit und erklärte nach einer wirklich brillanten Verhandlung die wichtigsten Paragrafen des Telekommunikationsgesetzes für nicht verfassungsgemäß.

    Schumann: Das Duopol Televisa und TV Azteca musste mit dieser Entscheidung leben und einen weiteren Schlag verkraften: Das neue Parlament verfügte auch noch eine Veränderung des Wahlgesetzes.

    Aristegui: Dadurch wird der An- und Verkauf von Sendezeit für Wahlspots in Fernsehen und Rundfunk verboten. Seither müssen die Medien den Parteien kostenlos Sendezeit für die Wahlwerbung zur Verfügung stellen.

    Schumann: Wie in Deutschland.

    Aristegui: Das Fernsehen war darüber sehr verärgert, denn es verlor ein wichtiges Geschäft, über das sich die Bevölkerung oft empört hatte. Die Kandidaten hatten Unsummen öffentlicher Gelder für ihre Kampagnen verschleudert. Was daraufhin geschah, ist unbeschreiblich. Die Eigentümer der betroffenen Sender zogen persönlich zum Parlament, um dagegen zu protestieren. Und sie zwangen ihre wichtigsten Journalisten, sie zu begleiten. Es war eine bizarre Debatte, die ihre Sender übertrug. Doch die neuen Parlamentarier bewiesen Standfestigkeit und stimmten trotz dieses Drucks für das Gesetz.

    Schumann: Noch ein Hoffnungsschimmer für die Demokratie in Mexiko. Aber es gibt auch neue Schatten, gerade im Umgang der konservativen Regierung mit oppositionellen Kräften. Im Oktober 2009 wurde die SME, die Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter, entmachtet. Sie wurde bereits 1914 als eine Errungenschaft der Revolution gegründet und war bis dahin verantwortlich für die Stromversorgung im Großraum von Mexiko-Stadt sowie in einem Drittel des Landes. Warum ist die Regierung gerade gegen sie vorgegangen?

    Aristegui: Diese Gewerkschaft hat sich als eine der ganz wenigen Arbeitervertretungen eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt und sich immer gegen Versuche der Privatisierung des Elektrizitätssektors energisch gewehrt. Man kann ihr sicher Ineffizienz, Korruption und andere derartige Praktiken vorwerfen, wie auch allen übrigen Gewerkschaften. Wenn sich die Regierung nun aber entschieden hat, ausgerechnet diese kämpferische Gewerkschaft zu eliminieren, dann kann das nur mit ihrem kritischen, oppositionellen Profil zusammenhängen, mit ihrer Unterstützung von einem Teil der Linken. Deshalb hat die Regierung handstreichartig das Unternehmen geschlossen, in dem die Gewerkschaft tätig war, und mitten in der Wirtschaftskrise 47.000 Personen auf die Straße gesetzt.

    Schumann: Nachts rückte die Armee an und besetzte sämtliche Einrichtungen des Betriebs. Es war eine flagrante Verletzung aller Arbeitsgesetze.

    Aristegui: Diese Probleme muss die Justiz lösen. Bis jetzt hat die Gewerkschaft mit ihren Klagen keinen Erfolg gehabt, denn der Justizapparat ist nun mal nicht so unabhängig, wie er sein müsste. Es war ein Schlag der Regierung gegen eine oppositionelle Körperschaft unter dem Vorwand, die Stromversorgung des Landes zu verbessern.

    Schumann: Die Gewerkschaften waren in der Vergangenheit in ein korporatives System eingebunden: Sie waren der verlängerte Arm der Regierung, die Machtbasis der PRI. Welche Rolle spielen sie heute, in Zeiten der PAN?

    Aristegui: Der Korporativismus ist lebendiger denn je. Da ist beispielsweise Esther Gordillo, die Vorsitzende der SNTE, der Nationalen Lehrergewerkschaft, der größten in Lateinamerika. Sie hat dieses Potential von Millionen von Stimmen in eine Wahlmaschine für jene Partei verwandelt, die der Lehrerin Gordillo die größten Versprechungen machte. Früher war es die PRI, heute ist es die PAN. Dabei ist die Gewerkschaft stärker und reicher geworden. Und es wird vermutet, dass die minimale Differenz von 0,5 Prozent, mit der Felipe Calderón gewann, auf die Unterstützung der gewerkschaftlichen Organisation von Esther Gordillo zurückzuführen ist.
    Schumann: Hat sie dem neuen Präsidenten danach die Quittung präsentiert?

    Aristegui: Die Lehrerin Gordillo hat mit der Regierung beste Geschäfte für ihre Gewerkschaft gemacht. Ihr ist es gelungen, engste Mitarbeiter in jenen Regierungsämtern zu positionieren, die das meiste Geld verwalten: in der Lotterie zum Beispiel oder im Erziehungsministerium, wo sie ihren Schwiegersohn als stellvertretenden Minister platziert hat. Ein so wichtiges Instrument wie das Erziehungsministerium wird der Machtlogik einer Gewerkschaft mit den skizzierten Eigenschaften unterworfen. Felipe Calderón ist heute abhängig von solchen Kräften. Seine Präsidentschaft ist völlig erschöpft und gefesselt, sein Handlungsspielraum sehr gering.

    Schumann: Zum Schluss möchte ich noch einmal auf meine Anfangsfrage zurückkommen, Carmen Aristegui: Was bleibt von der Mexikanischen Revolution?
    Aristegui: Eine lange Reihe von bewegenden, anregenden, Identität stiftenden Kapiteln, die an uns als Gesellschaft immer wieder Fragen stellen. Wir sind als Volk manchmal etwas chauvinistisch. Aber diese Kämpfe um die Unabhängigkeit, um die Revolution werden in unserer Gesellschaft hoch gehalten, sie gehören zu dem stolzen Gefühl, Mexikaner zu sein, das heute allerdings etwas beschädigt ist. Doch sie enthalten jene historischen Elemente, die uns und unser Land ausmachen. Und wir dürfen auch die heroischen Taten nicht vergessen von Pancho Villa, Emiliano Zapata, Francisco Madero oder Miguel Hidalgo, an diese großen Geschichten voller Bezüge und Symbole sollten wir uns erinnern.

    Schumann: Wird es auch etwas zu feiern geben am 16. September, dem Tag der Unabhängigkeit, und am 20. November, dem Beginn der Mexikanischen Revolution?

    Aristegui: Angesichts des bedauerlichen Panoramas gibt es wenig zu feiern. Ich würde sehr viel lieber Raketen steigen lassen und 'Viva Mexico!' rufen – und das werden wir sicher auch tun in den Nächten des Bicentenario und des Centenario. Doch Mexiko befindet sich in einer sehr schwierigen Übergangszeit. Diese Regierung von höchst zweifelhaftem Prestige hat einen falschen, tragischen Weg eingeschlagen bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Ohne gründliche Analyse und ohne Strategie ist sie einfach auf den Tiger losgegangen, und der Tiger hat reagiert. Und noch weiß niemand, wie er einzufangen ist, wie wir einen Mittelweg finden, der zu weniger Gewalt und zum angemessenen Umgang mit der Drogenmafia führt. Die zentrale Frage lautet: Wie kann Mexiko seine Regierung, seine Bürgerschaft wieder dorthin zurückfinden, wo mit dem Aufbau begonnen werden kann? Heute befinden wir uns mitten im Schrecken, und der taugt wenig zum Feiern und zur Erinnerung.