Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Die Beziehung von Mathematik und Literatur

Marc Petit ist Literaturwissenschaftler, Romancier, Übersetzer deutscher Lyrik ins Französische und kein Mathematiker. Deshalb verschont er seine Leser mit Mathematik-Details, die diese nicht verstünden. Er hat sich eines Stoffes angenommen hat, der ihn zu lautmalerischen Mathematik-Jargon-Kompositionen treibt und zu kühnen Spekulationen über die Beziehung von Mathematik und Literatur.

16.10.2005
    "Es ist ein Schulheft der Serie Villes et Paysages de France (Städte und Landschaften Frankreichs). Das Deckblatt ist grau, die Rückenverstärkung ebenso dunkelblau wie der Titel und der Hinweis auf den Hersteller. (…) Den ganzen Mittelteil füllt ein lilafarbenes Bild aus, das quer (von Hand, wie man an der Ungleichmäßigkeit und den Blasen sehen kann) aufgeklebt und mit einem doppelten dunkelblauen Streifen eingerahmt wurde. Es zeigt den Felsen von Bonnevie im Département Cantal: Ein dunkelvioletter, an den Rändern eingebeulter Haufen, überragt von zwei nur schwer identifizierbaren Spitzen. Links davon ein weiterer Haufen, ein Hügel, der vom ersten durch eine Lücke getrennt ist, die ein Tal bildet, durch das sich eine von mehreren Gebäuden gesäumte Straße zieht. Rechts unten erblickt man ein Dorf; im blasseren, hellvioletten, fast grauen Hintergrund könnte man das Meer vermuten, wenn das Motiv nicht durch die Bildunterschrift am Rand des Drucks erkennbar wäre. Auf dem hinteren Deckblatt ist mitten auf der Seite eine zweite Vignette gedruckt, auch sie ist dunkelblau. Sie zeigt eine grob stilisierte Landschaft mit zwei Heuschobern, die wie Kreisel aussehen, mit Feldern und einem Weiler in der Ferne. In die obere linke Ecke ist ein Preis gestempelt: 1 F 30. Spuren von Klebstoff formen ein Y. Etwas Flüssigkeit muss auf das Blatt gekommen sein, als der Umschlag versiegelt wurde. Beim Öffnen musste man den Umschlag vom Deckblatt lösen, wobei die beiden Kratzer auf der Rückseite entstanden. "
    Sprachliche Landschaftsmalerei der sonderbaren Art: Ein banales Schulheft wird beschrieben, ein Gegenstand industrieller Herkunft, dessen Titelillustration Tausende von Kindern gleichgültig zur Kenntnis nahmen, wenn sie es aus ihren Tornistern zogen oder in langweiligen Unterrichtsstunden darin herumschmierten. Gewiss, das Heft ist mehr als sechzig Jahre alt, und dafür sieht es noch gut aus, was nicht verwundert, denn in dieser Zeit lag es vor Abnutzung geschützt im Archiv der Pariser Akademie der Wissenschaften.

    Das Heft, der Umschlag, die Deckblattzeichnung tragen zur Sensation des Heftinneren gar nichts bei. Dennoch lässt sich die Landschaftsmalerei nachvollziehen: Es ist die Flucht des Literaten vor der Abstraktion der Mathematik in die blühenden Gärten der Poesie; ein Festklammern am Strohhalm des Bildes, wo eine nackte, kalte Formelsprache das Kommando zu übernehmen droht. Denn das Heft enthält hastig niedergekritzelte Gleichungen und Formeln, die nur Spezialisten verstehen – und sogleich den Atem anhalten, weil sich vor ihnen erkennbar ein Geniestreich auftut.

    Einer freilich, und das macht die Tragödie aus, der lange unentdeckt blieb und bei seiner verspäteten Enthüllung längst von einem anderen Geniestreich überholt worden war. Mathematik ist eine gnadenlose Disziplin: Nicht der frühste Denker trägt den Ruhm davon, sondern der Verfasser der Erstpublikation, und das Pariser Akademiearchiv veröffentlicht nicht, sondern begräbt nur. Allenfalls können seine Schätze irgendwann die Wissenschaftsgeschichte korrigieren, doch davon haben die Übergangenen und Überholten wenig. Mathematik allerdings geht nicht nur gnadenlos mit den Verspäteten um, auch Außenstehende – cum grano salis: wir alle – dürfen sich reichlich brüskiert fühlen, zeigt sie ihnen arrogant die kalte Schulter. Selbst in Sprache übersetzt, bleiben die Vorgänge mysteriös:

    " Gegeben ist ein Teilchen, das der kontinuierlichen Einwirkung des Zufalls und einer bestimmten Ableitung unterworfen ist. Aus mathematischer Sicht kann die Bewegung dieses Teilchens durch die beiden oben genannten Koeffizienten beschrieben werden. Die von Kolmogoroff angewandte analytische Methode besteht darin, eine bestimmte Gleichung durch die Wahrscheinlichkeit der beteiligten Zufallsereignisse zu lösen. Döblins Ansatz ist ein ganz anderer. Er ist "trajektoriell" und nimmt damit die modernen Prozesstheorien vorweg. Döblin zeigt, dass die Bewegung in zwei Teile zerfällt. Der eine ist ein Martingal und folgt der Trajektorie oder dem Pfad einer Brownschen Bewegung in Abhängigkeit von einer bestimmten Zeit. Seine innovative Methode wird erst zwanzig Jahre später verstanden werden, wenn der Beweis erbracht ist, dass "jedes kontinuierliche Martingal eine Brownsche Bewegung relativ zur Zeit ist". "

    Martingal, Trajektorie, Brownsche Bewegung … legte es ein literarischer Autor darauf an, möglichst wenige Leser zu versammeln – oder die versammelten schnell wieder aussteigen zu lassen – dann müsste er nur so weiterschreiben. Marc Petit ist aber Literaturwissenschaftler, Romancier, Übersetzer deutscher Lyrik ins Französische und kein Mathematiker, so verschont er seine Leser mit Details, die diese nicht verstünden; er selbst übrigens auch nicht. Ja er gibt – wenn auch viel später im Buch – frank und frei zu, dass er sich eines Stoffes angenommen hat, der ihn überwältigt, ihn zu Landschaftsmalereien und lautmalerischen Mathematik-Jargon-Kompositionen treibt und – wie wir noch sehen werden – zu kühnen Spekulationen über die Beziehung von Mathematik und Literatur. Zunächst einmal stehen sich beide verständnislos gegenüber:

    "Ein Mathematiker wird (wenn er nicht unter Autismus leidet) ohne Schwierigkeiten das Universum eines Proust oder sogar eines Joyce betreten können. Doch wie viele Schriftsteller oder Künstler können Kolmogoroff, Levy oder Döblin lesen, selbst wenn man ihnen Erklärungen mitlieferte? Da ist die Populärwissenschaft gefragt, und man weiß, dass sie in der Mathematik wenig ausrichten kann. Verstehen wir uns nicht falsch: Es gibt einige Werke für die Nicht-Spezialisten, die manche Grundkenntnisse oder sogar komplizierte Vorgänge in der Mathematik verständlich machen wollen. Für gewöhnlich mischt der Autor solcher Bücher (die zuweilen angenehm zu lesen sind) ein ganz klein wenig Mathematik mit viel Geplauder, so wie man eine Tablette in einem großen Glas Wasser auflöst, damit man nicht schmeckt, wie bitter sie ist. Doch die Mühe ist vergeblich: Das Gemisch bleibt bitter, die Mathematik lässt sich nur in sich selbst auflösen. "
    Warum dann aber – bei so viel Ablehnung von Populärwissenschaft (bei der Petit im übrigen irrt, es gibt grandiose Bücher, die Mathematik erzählen ohne sie dabei zu verraten, wie etwa Paul Hoffmans Biographie des ungarischen Rechengenies Paul Erdös, auf Deutsch unter dem Titel "Der Mann, der die Zahlen liebte" erschienen) – warum dann überhaupt die Annäherung an ein dem Autor wesensfremdes Thema? Die Antwort blinkt wie ein kleines Lichtsignal aus dem hoffnungslosen Dunkel der Unverständlichkeit herüber: Döblin. Ein großer Name der deutschen Literatur und ein großer Name der Mathematik des 20. Jahrhunderts, was man allerdings erst seit ein paar Jahren weiß. Wolfgang Döblin, geboren 1915, ist einer von drei ehelichen Söhnen Alfred Döblins; die Brüder Peter und Klaus haben ihn bis ins nächste Jahrtausend überlebt, so dass sie als Zeitzeugen Auskunft geben konnten. Wolfgang aber, nach Aussage aller das begnadetste der Döblin-Kinder, zugleich jedoch der dem Vater fremdeste Sohn, erschoss sich im Frühjahr 1940 nach dem Einfall deutscher Truppen in Frankreich. Längst hieß er da schon Vincent, war wie seine Eltern naturalisierter Franzose und diente seinem neuen Heimatland als einfacher Soldat. Als linker Jude sah er angesichts der Einkesselung durch deutsche Truppen keinen anderen Ausweg; es bleibt müßig zu spekulieren, ob er es wie alle anderen Familienmitglieder in die rettende zweite Emigration geschafft hätte. Wenige Monate zuvor hatte Wolfgang einen versiegelten Umschlag mit dem erwähnten Heft an die Akademie der Wissenschaften geschickt, die ihn, ihren Regeln folgend, erst im Jahre 2040 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hätte, wenn nicht die überlebenden Brüder einer vorzeitigen Öffnung zugestimmt hätten. Ganz unbekannt war der 35-jährige Doktor der Mathematik bei seinem Tode nicht gewesen; erste Veröffentlichungen hatten die Fachwelt schon in den Dreißigern aufhorchen lassen. Doch sein Spezialgebiet, die auf Pionierarbeiten des Russen Andrej Kolmogoroff aufbauende Wahrscheinlichkeitsrechnung, kam so recht erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Schwung. Wäre Wolfgang Döblins Arbeit noch publiziert worden, hätte es der Japaner Ito Kiyoshi vermutlich kaum zu jenem Ruhm gebracht, der ihm heute als Initiator einer folgenreiche Entwicklung zugebilligt wird, aus der beispielsweise das Black-Scholes-Modell zur Optionspreisbestimmung hervorging; ein Zentralinstrument des modernen Börsenkapitalismus. Der überzeugte Kommunist Wolfgang Döblin hätte diese Ironie der Geschichte vermutlich nicht lustig gefunden, denn von Humor weiß sein Biograph Marc Petit kaum etwas zu berichten, wie er überhaupt ständig im Dunkeln tappt. Selbstzeugnisse sind rar, Zeitzeugen spärlich gesät. Die Zweifel an der eigenen Arbeit durchziehen das Buch permanent:

    " Wie schreibt man eine Biografie? Manchmal habe ich gedacht, dass es ein fragwürdiges Unterfangen ist, dass die Biografie kein literarisches Genre, sondern eine Todsünde ist. "Du sollst dir kein Bildnis machen", lautet das Gebot Mose, das drei Viertel der Literatur und alle gegenständliche Kunst außer Kraft setzt. Entgeht der kommentierte Bericht dem Fallbeil? "
    Der Trick besteht darin, keine Biographie zu schreiben, sondern eine Paarbeziehung auszumessen, bei der der eine Partner – der Vater – überreichliche Dokumente hinterließ, während der Sohn eine tabula rasa blieb. Spannung gewinnt dieses Doppelportrait aus seiner kaum gegensätzlicher zu denkenden Verschiedenheit beider Personen. Hie der neurasthenische Literat und Schürzenjäger Alfred Döblin, als Arzt zwar in den Naturwissenschaften verankert, dort aber ausgerechnet die Psychiatrie wählend, die zu seiner Zeit aus Vagheiten und Vermutungen bestand; da der kühle Vernunftmensch Wolfgang, von dem nicht ein einziger Exzess überliefert ist, ja der in Briefen bedauernd mitteilt, dass ihm die Flucht aus dem langweiligen Militärtrott ins Delir versperrt sei, da er keinen Alkohol trinke. Stattdessen entwarf er mathematische Abhandlungen. Was für ein Kontrast zu seinem Vater!

    " Als ich fertig war mit dem Medizinstudieren..."
    Schreibt Alfred Döblin in einer autobiographischen Skizze.

    "…war ich Mitte zwanzig und hatte nichts so eilig, als mich dem Kampf um das so genannte Dasein zu entziehen. Ich ging als Assistent in mehrere Irrenanstalten. Unter diesen Kranken war mir immer sehr wohl. Damals bemerkte ich, dass ich nur zwei Kategorien Menschen ertragen kann neben Pflanzen, Tieren und Steinen: nämlich Kinder und Irre. Diese liebte ich immer wirklich. "
    Den eigenen Sohn Wolfgang, der eine enge Bindung zur Mutter hatte, musste er zu diesem Zeitpunkt wohl schon von dem Satz ausgenommen haben: Die beiden waren sich früh fremd, obgleich sich die mathematischen Neigungen erst in der Pubertät bei Wolfgang zeigten und sich nicht in irritierender kindlicher Genialität niederschlugen. Der rastlose Spurensucher Marc Petit stößt auf den Titel einer Radiosendung –"Vater und Sohn" – in der der 14-jährige Wolfgang öffentlich mit seinem berühmten Vater plauderte. Doch davon existieren keine Wachsplatten, es ist pure Spekulation, was damals über den Äther ging. So wie fast alles an dieser Beziehung vage bleibt, seelenvolle Aussagen sind von Wolfgang Döblin kaum vorhanden. Nur bei Alfred kann man sich auf Fakten wie auf Stimmungsberichte verlassen. Noch als Fünfzigjähriger erinnerte er sich voller Ressentiments seiner Gymnasialzeit:

    " Eine lächerliche Sache überhaupt, diese Mathematik auf den Schulen. Für die meisten wertlos, ein abseitiges Gedankenspiel, eine Qual, weil ohne Anschauung, ohne Ziel, ohne Bindung mit einem Leben. Man soll diese Art Abstraktion verbieten oder in die Akademien schicken. "
    Und als Wolfgang promoviert, drückt Alfred in einem Brief seinen unterschwelligen Ärger über den gleichsam fahnenflüchtigen Sohn aus, der sich nicht den Buchstaben, sondern den Zahlen verschreibt:

    " Wolf, der unnahbare, der in den Wolken schwebt, schreibt seine meilenlange Doktorarbeit in Hieroglyphen, welche wahrscheinlich im ägyptischen Museum einen ersten Platz finden werden. Hebräisch ist gar nichts dagegen. Er geht aber nicht zu einer anderen Schrift über. Da ist nichts zu machen. Es ist eben Mathematik." "
    Was um alles in der Welt treibt dann Marc Petit dazu, eine Nichtbeziehung in eine Beziehung verwandeln zu wollen? Warum lässt er zwei offensichtlich parallel nebeneinander existierende Menschen nicht sein, wie sie sind, sondern zwingt sie in eine Verwandtschaft hinein, die mehr auf dem Papier als im Herzen bestand? Zum einen geht das wohl auf schlichte erzählerische Notwendigkeiten zurück, denn ohne das reichliche Lebensmaterial des berühmen Vaters gäbe die kurze Biographie des Sohnes kaum ein nennenswertes Buch her. Zum anderen aber schlägt sich darin eine psychoanalytisch angehauchte Arroganz nieder, als nachgeborener Beobachter mehr sehen zu wollen denn die Betroffenen zu ihrer Zeit. Das ist zwar eine häufige Hybris von Biographen, nimmt aber im Verlauf des Buches zwanghafte bis groteske Züge an. Zunächst verharrt Petit noch halbwegs auf dem Boden der Tatsachen, wenn er auf Seite 76 spekuliert:

    " Ich glaube, etwas gefunden zu haben, das Vater und Sohn, Worte und Schweigen, Erinnerungen und Vergessen, das ihnen gleicht, das sie versöhnen kann. Es ist dieselbe Idiotie, dasselbe Gefühl der Fremdheit gegenüber dem Leben, das den einen in die Arme der Literatur und den anderen in die der Mathematik trieb. Doch es war keine Zuflucht, sondern im Gegenteil eine verängstigte Flucht, die so weit wie möglich von dem, was "sich von selbst versteht", wegführte. Der eine (Alfred) war bis zur Verblendung vom Realen fasziniert, wobei er aus Sorge, am abgehackten, "cinematografischen" Rhythmus des Stadtlebens kleben zu bleiben, den Naturalismus auflöste, der andere (der Sohn) wählte aus allen Mathematikzweigen den sonderbarsten, weil er zugleich der Intuition am unzugänglichsten und aus Sicht der Vernunft der widersinnigste war. Was für einen Sinn hat die Idee, die Berechnung auf das Unvorhersehbare anzuwenden? Kann es eine Wissenschaft des Ungewissen geben? "

    Dann, auf Seite 122, wird die vereinnahmende Metapher schon kühner, greift vom sprachlich vermittelbaren Wahrscheinlichkeitsdenken auf Fachtermini über:

    " Könnte Berlin Alexanderplatz (...) nicht der erste "stochastische Roman" in der Literaturgeschichte sein oder anders gesagt: der erste Versuch der literarischen Umschreibung der Brownschen Bewegung? "

    Von jener Brownschen Bewegung – dem ziellosen Umherschwirren sehr kleiner Teilchen in Flüssigkeiten und Gasen – nahm Wolfgang Döblins mathematische Entdeckungsreise ihren Ausgang, doch das genügt Marc Petit nicht. Auf Seite 249 vermischen sich Lautmalerei und metaphorisches Denken zu einem die Vernunft sedierenden Gebräu:

    "Versetzen wir uns also in das Jahr 1905 zurück, in die Zeit, zu der Alfred in Freiburg promoviert. Welches Thema hat seine Doktorarbeit? Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose. Die Ähnlichkeit der beiden Namen Kolmogoroff und Korsakoff springt ins Auge. Was genau aber ist dieses mysteriöse Syndrom? Es ist eine Art Amnesie, bei der der Erkrankte sich an nichts erinnert, was länger als einige Sekunden zurückliegt "Er ist ein Mann ohne Vergangenheit (…)", schreibt Oliver Sacks. (…) "Bei all diesen Geistesverfassungen wird die Welt in ihre Bestandteile zerlegt, unterminiert und auf Anarchie und Chaos reduziert. Obwohl die formalen intellektuellen Fähigkeiten vollständig erhalten sein können, verfügt der Geist über kein Zentrum mehr. Lurija sprach einmal davon, dass die Geistestätigkeit in diesem Zustand auf eine bloße Brownsche Molekularbewegung reduziert sei.""

    Aha, weiß der aufmerksame Leser da, nun steht die endgültige Vereinigung von Vater und Sohn bevor. Und so kommt es auch:

    "Das Bindeglied, das ich (…) zwischen der erzählerischen Flugbahn von Berlin Alexanderplatz und Wolfgangs Arbeit zu den Ketten und den Streuungen herzustellen versuchte, bekommt jetzt vielleicht eine unvorhergesehene Bestätigung. Von einer Brownschen Bewegung zur nächsten, von Korsakoff zu Kolmogoroff besteht zwischen Alfreds und Wolfgangs Arbeiten eine seltsame Analogie. Die Verlagerung des Tätigkeitsfelds von der Medizin und der Literatur zu den Naturwissenschaften gab dem Sohn die Möglichkeit, sich auf ganz subtile Weise mit seinem Vater zu messen, seinen "Platz einzunehmen", ohne seinen Verdacht zu erregen, sozusagen im Verborgenen. "

    Sehr im Verborgenen – vermutlich so, dass der Vater es nie bemerkte. Ihm rückte der Sohn erst im Tode nahe. Bis an ihr Lebensende konnten sich Alfred Döblin und seine Frau kaum dazu durchringen, den Selbstmord Wolfgangs als solchen zu bezeichnen. Auch als es daran nichts mehr zu rütteln gab, hielten sie an der Version fest, Wolfgang sei als Soldat gefallen. Da mag Alfred Döblins Konvertierung zum Katholizismus eine Rolle gespielt haben, oder die tiefen Schuldgefühle, die alle Eltern übermannen, deren Kinder vor ihnen sterben. Was Alfreds Gefühle angeht, ist der Bericht von Marc Petit glaubhaft und nachvollziehbar, nur vor Wolfgang muss er kapitulieren. Zu vielen Ausweichbewegungen, deren Ursprung man in der französischen Essayistik mit ihren stilistischen und poetischen Arabesken vermuten mag, lenken von der dürftigen Faktenlage ab, dass Wolfgang Döblin ein ebenso hochintelligenter wie sozial desintegrierter Mensch war, was ihn weder als Held eines spannenden Sachbuchs, noch zur Romanfigur qualifizierte. Nur die intellektuelle Exhumierung durch den geheimnisvollen Akademie-Umschlag weist das Potenzial zu einem Wissenschaftsthriller auf. Doch das erschöpft sich rasch, denn Sensationen, die man erst erläutern muss, verhalten sich wie Witze, deren Pointen niemand versteht. Gerade da die Qualität der Döblinschen Formeln in Bereichen liegt, die nicht mal seinem Biographen zugänglich sind, hätte der eigentlich nur eine Möglichkeit gehabt, den Leser für diesen Nicht-Helden zu begeistern: durch ein aufregendes Liebesleben. Die vorgefundenen, dürftigen Fragmente ermuntern Marc Petit indes nur dazu, literarisch aufzubauschen, was in der Realität nie stattgefunden hat: die große Liebe des Genies zu einer Frau. Ernüchtert zitiert der Biograph den Mathematiker Arnaud Denjoy:

    "Die Mathematik ist der Feind der Verführung [...] Die Wissenschaft ist nicht die Zivilisation. Diese ist eine menschliche Blüte, jene ein Brombeerstrauch und eine Distel der Götter [...] Die Wissenschaft ist gleichermaßen der Liebe als der Lüge verschlossen. "

    Abstrakte Wissenschaft und Literatur gehen selten zusammen, und wendet sich die eine der anderen zu, wird es entweder spröde oder ungenau. Spröde ist das Buch von Marc Petit nicht – doch seine Blüten wirken wie eine Folge reichlicher Überdüngung. Man schaut in diesen Garten hinein und findet alles doch ein bisschen zu ungeordnet. Einfach nur bunt.


    Marc Petit:
    "Die verlorene Gleichung"
    Aus dem Französischen von Antoinette Gittinger
    Eichborn, 398 Seiten, 24,90 Euro