Freitag, 29. März 2024

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Die bibliophile Sammlung von Carl Georg von Maassen (1880-1940) in der Universitätsbibliothek München

"Ich habe (E.T.A.) Hoffmann nicht gelesen, ich habe ihn gelebt." So heißt es in Carl Georg Maassens 1927 erschienenem Essay "Wie ich zum Bibliophilen wurde". Der 1880 in Hamburg geborene und seit 1904 bis zu seinem Tod 1940 in München lebende Sohn eines wohlhabenden Oberleutnants und Kunstsammlers hatte siebzehnjährig ein Erweckungserlebnis der besonderen Art. Sein Bruder gab ihm, von der Lektüre gelangweilt, ein billig broschiertes Exemplar von Hoffmanns "Goldenem Topf" weiter, das er sofort zu lesen begann: "Da geschah das größte Erlebnis meines Lebens, das ihm in der Folge seine ganze Richtung geben sollte." Der junge Maassen wurde alsbald nicht nur zum damals gewiß intimsten Kenner der Werke E.T.A. Hoffmanns, sondern darüber hinaus zum Herausgeber der von ihm weitgehend selbst finanzierten, auf 15 Bände angelegten historisch-kritischen Hoffmann-Ausgabe (1908-1925, unvollendet), zu einem der besten Kenner der romantischen Bewegung überhaupt, zu einem begnadeten Büchersammler (Schwerpunkt war dabei natürlich die Romantik und besonders das Werk Hoffmanns) und nicht zuletzt zu einem Mitglied der Münchener Bohème, in deren Kreisen er als Hoffmann redivivus geistigen Getränken sowie gastrosophischen und erotischen Genüssen nachstrebte.

Jochen Hörisch | 13.04.1998
    Genießen, jouis-sens, Genieß-Sinn: 1928 publizierte Maassen einen Essay mit dem klugen Titel "Die Weisheit des Essens", das kein geringerer als Karl Wolfskehl unter dem gleichermaßen klugen Titel "Der platonische Epikureer" in der Zeitschrift für Bücherfreunde (23/1931) besprach. Eine treffende Charakterisierung - Maassen, der romantisierende, "platonische Epikureer". Soll heißen: Maassen war ein Jünger E.T.A. Hoffmanns, der es eher mit dem platonischen Symposion als mit der Ideenlehre hielt, aber eben auch ein Gelehrter, der in die tiefe Weisheit initiiert ist, danach Geist und Genuß nicht etwa ein Oppositionspaar bilden, sondern wie die Seiten eines Möbiusbandes ineinander verschlungen sind. Maassens Ex-Libris für den Erotica-Teil seiner Büchersammlung - es wurde von Franz von Bayros nach den Wünschen des Sammlers gestaltet - gibt diesem Lebensmotiv einen witzigen Ausdruck: eine barbusige, nur knapp verschleierte Schöne lockt einen Mann zwischen ihre geöffneten Schenkel. Er hat seinen Blick vom vorherigen Objekt seines Begehrens ab- und der Frau zugewendet. Doch seine Hand will von diesem Objekt nicht lassen; noch steckt sein Finger zwischen den Seiten des Buches, das er zuvor las. Pagina, vagina: an diesem Tage lasen sie nicht weiter. Der Ordner seiner Korrespondenz zu "Damen mit halben und ohne erotische Beziehungen" (so Maassens eigene Kategorisierung) umfaßt 48 Namen.

    Die gastrosophischen Diners bei Maassen waren legendär. Maassens Hauptgenuß aber war und blieb der Umgang mit Büchern. Maassen hat immens viel gelesen. Und zwar nach den geselligen Abendgenüssen in Schwabing, die ihm, der etwa um 18 Uhr aufstand, den Tag eröffneten. Gelesen wurde dann in den Stunden nach Mitternacht. Sein einer Alkoholvergiftung erlegener Rabe hat ihm dabei häufig über die Schulter gesehen. Bei aller Zerstreuungslust im Kreise der Schwabinger Freunde (Ringelnatz, Mühsam, Schaukal und Halbe zählten dazu) und der jungen Frauen, die er - so sein diesbezüglicher Lieblingsausdruck - gerne "fing", war seine Bibliothek doch seine eigentliche Passion. "Ich weiß von keiner feurigeren, keiner zärtlicheren, keiner besorgteren, keiner pädagogischeren, der Pflege, ja Entwicklung geliebter Bücher mehr gewidmeten Bibliophilie als der seinen", schrieb Wolfskehl über den Freund.

    Seine legendäre Büchersammlung hat Maassen der UB München vermacht. Sie ist nun endlich (DFG-Geldern sei Dank) in mustergültiger Form katalogisiert - zusammen mit dem handschriftlichen Nachlaß, den durchzugehen lohnt, wie einige (zu wenige!) Mitteilungen in den Vorworten von Wolfgang Müller (über Maassens Bibliothek) und von Cornelia Töpelmann (über den handschriftlichen Nachlaß) belegen. Etwa diese Zeilen, die zeigen, daß Maassens Romantik-Enthusiasmus sich selbst kritisch-witzig ins Wort fallen konnte:

    Wahnfried. Gedicht an Wagners Villa

    In Bayreuth da hatte Richard Wagner einst sein Haus begründet Und er gab ihm einen Namen Der des Hauses Sinn verkündet ‘Wahnfried’ nannte der weise Künstler stolz sein selbsterworbnes Haus Denn das Wort von Wahnfried drücket ‘Tollhaus’ euphemistisch aus. V.M 99"

    Andere Reime zeugen von ähnlicher Lust an Drastik, Groteske und durchaus auch Obszönem. So das Gedicht, das er 1920 seinem Hochzeitsgeschenk an Ringelnatz beifügte. "Ich schenke dir zum Ehespiele / Als Leitmotiv die Kaffeemühle / Fest mußt du gleich den Schwengel fassen / Du orgelst eifrig darauf los / Und drückst den Schieber in die Dos." Nun ja. Unsterblich dürften Maassens eigene Produktionen (u.a. unter dem Pseudonym Jacobus Schnellpfeffer für den "Simplicissimus" und der 1903 erschienene Band "Gedichte eines Gefühllosen") nicht sein. Und auf Unsterblichkeit haben sie auch nicht Anspruch erhoben. Als sein eigentliches Werk hat er seine Bibliothek begriffen. Zu recht. "Über die Seltenheit von Romantiker-Erstausgaben" war der Titel einer seiner Abhandlungen zur Bücherkunde. Sie durfte selbstbewußt ausfallen. Denn Maassens nunmehr mustergültig erschlossene Sammlung (mit Namen- und Titelregister; mit Wiedergabe der wichtigsten handschriftlichen Bucheintragungen) enthält neben den Erstausgaben fast aller romantischer Autoren auch weitere Rarissima. "Livre érotique très rare" - so die Notiz eines Vorbesitzers in "La vie du fameux père Norbert" aus dem Jahr 1762. "Sehr selten! Wurde gleich nach Erscheinen konfisziert und alle Exemplare vernichtet!" notiert Maassen in sein Exemplar von Romulo Echtermeyers Roman "Der Theaterrüpel" aus dem Jahr 1904.

    Wer sich heute mit romantischer Literatur beschäftigt und etwa Bände der kritischen Heine-, Eichendorff-, Novalis- oder Friedrich-Schlegel-Ausgabe zur Hand nimmt, wird zu ganz anderen Texten und Textpräsentationen gelangen als ein Romantikforscher und/oder -liebhaber um 1900. Es lohnt stets erneut, an diese Binsenweisheit zu erinnern. Die Geschichte der Romantikforschung und der Romantikrezeption ist recht zu verstehen nur dann, wenn man sie anhand der für die Wirkungsgeschichte tatsächlich ausschlaggebenden Ausgaben entwickelt. Wer den Lektürehorizont der bibliomanen Romantiker um 1810 und durchaus auch die Aura der damaligen Neuerscheinungen erfahren will, wird durch den vorliegenden, sehr sorgfältig bis bibliophil gestalteten Katalog schnell in die Münchner UB und die dortige Maassen-Sammlung gelockt werden. Eine beachtliche Anzahl von Bänden aus Maassens Bibliothek hat übrigens für die vom K.G. Saur Verlag herausgegebene "Bibliothek der Deutschen Literatur" als Vorlage gedient und ist also über Mikrofiche in allen großen Bibliotheken einzusehen. Für Bibliophile ist das natürlich nur ein pragmatisch-zweitklassiger Zugang.

    Maassen, durch die Folgen der Inflation schon seit langem um sein Vermögen gebracht, starb im Dezember 1940 an den Folgen eines Sturzes. Er, der eher unpolitische Bohemien, hatte sich mit einem von Hitler begeisterten Kellner angelegt, der ihn aus dem Lokal warf und mit einem Fußtritt auf Glatteis zu Fall brachte. Ein lesendes Leben, das dem Klischée vom Stubengelehrten weiß Gott nicht entsprach, das vielmehr im Schwabing des frühen 20. Jahrhunderts noch einmal E.T.A. Hoffmanns "Lutter und Wegner"-Existenz revitalisieren wollte, endete mit einem Sturz, der dem des Anselmus im "Goldenen Topf" nicht mehr ähneln konnte.