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"Die Bosnier verdienen das Gleiche"

Ausgerechnet Bosnien, ausgerechnet Sarajevo: Das vom Krieg in den 90ern geschundene Land unterliegt noch immer der Visumspflicht in der EU - Serbien dagegen nicht. Bis Juli soll es soweit sein, sagt Valentin Inzko - auch wenn das politische Klima im Land eher diskriminierend als demokratisch ist.

04.01.2010
    Gerwald Herter: Für die Bürger von immerhin drei Balkan-Staaten, nämlich Serbien, Montenegro und Mazedonien, ist das alte Jahr 2009 versöhnlich zu Ende gegangen. Seit dem 19. Dezember brauchen sie kein Visum mehr, um in die meisten Länder der Europäischen Union zu reisen, endlich keine Bürokratie, keine Bescheinigungen mehr, kein Schlangestehen vor Botschaften. Umso bitterer muss es jedoch für die Bosnier sein, dass es für sie bei der Visumspflicht bleibt, obwohl dieses Land Anfang der 90er-Jahre doch so sehr unter dem Krieg gelitten hatte. Wie erklärt man das den Menschen in Sarajevo oder Banja Luka? – Der Österreicher Valentin Inzko muss das zumindest versuchen. Er ist der Hohe Beauftragte der internationalen Gemeinschaft für Bosnien-Herzegowina und damit der mächtigste Mann in Sarajevo. Mit ihm bin ich nun verbunden. Guten Morgen, Herr Inzko.

    Valentin Inzko: Guten Morgen!

    Herter: Die Europäische Union sagt, junge Menschen aus Belgrad oder Skopje sollen endlich die Chance haben, auch andere europäische Länder kennenzulernen, ohne Visum. Warum sollen bosnische Jugendliche diese Chance nicht bekommen?

    Inzko: Die Bosnier verdienen das Gleiche, auch die bosnische Jugend soll Europa kennenlernen. Bedauerlicherweise ist es aber wegen der Regierenden zu einer Verspätung gekommen. Gewisse Bedingungen wurden zu spät erfüllt, gewisse Aufgaben zu spät in Angriff genommen, wie zum Beispiel das Drucken und das Verteilen der biometrischen Reisepässe. Dadurch hat Bosnien eine Verspätung, aber wir hoffen alle, dass es mit dem Beginn der Reisesaison vor dem Juli auch eine Visa-Liberalisierung geben wird und damit dieses schmerzliche Kapitel abgeschlossen werden kann.

    Herter: Mangelt es hier aber nicht trotzdem an Fingerspitzengefühl in Brüssel? Bosnien hat schwer unter einem furchtbaren Krieg gelitten. Jahrelang war das Leben in Sarajewo, beispielsweise auch in Mostar, die Hölle und die Aggressionen gingen in erheblichem Maße auch von Belgrad aus. Die einen brauchen immer noch ein Visum, die anderen nicht mehr. Ist das gerecht?

    Inzko: Ja, diese Optik gibt es und diese Optik wird auch von den Zeitungen, von manchen Zeitungen genährt. Ich sehe das ein bisschen anders, ich sehe das auch technisch, nicht nur politisch, und da gehört eben dazu, dass man gewisse Bedingungen erfüllt. Es waren sehr viele Bedingungen, insgesamt 174, und es sind jetzt beinahe alle erfüllt bis auf ganz wenige Kleinigkeiten. Auch der biometrische Reisepass wird bereits ausgestellt. Bosnien hat leider eine gewisse Verspätung gehabt bei diesen 174 Punkten. Die Mazedonier waren die Besten, die waren die Ersten. Die Optik war die, dass orthodoxe Länder wie Serbien, Mazedonien und Montenegro die Visa-Freiheit bekommen haben, und die sogenannten muslimischen wie Bosnien, der Kosovo und Albanien eben nicht. Aber es ist, glaube ich, mehr technisch und das kann man aus dem Weg räumen.

    Herter: Sie sprechen von Verspätungen, die es da immer noch gibt, weil die Administration, die Behörden in Bosnien offenbar nicht gut funktionieren. Was haben Ihre Vorgänger und vielleicht auch Sie selbst in den letzten 15 Jahren in Bosnien falsch gemacht, also seit dem Ende des Krieges?

    Inzko: Ja, man könnte das so sehen. Man könnte das aber auch anders betrachten: Was haben wir richtig gemacht? Ich war ja Botschafter nach dem Krieg ab 1996 in Bosnien-Herzegowina. Da gab es tatsächlich noch vier verschiedene Reisepässe, vier verschiedene Währungen. Jetzt ist das alles einheitlich und es gibt auch eine Hymne. Das ist nicht so selbstverständlich in so einem Land. Es gibt zwar noch keinen Text, aber es gibt eine gemeinsame Hymne, auch eine gemeinsame Fahne. Und Sie werden sich nicht vorstellen können, dass es nach dem Krieg in Bosnien nur drei Ministerien gab. Jetzt gibt es zehn. Also es gab große Fortschritte, aber leider die letzten drei Jahre gab es eine Stagnation und deshalb haben wir im Moment ein politisches Klima, das man wirklich nicht als optimal bezeichnen kann.

    Herter: Einiges scheint in Bosnien falsch zu laufen, Sie haben es eingeräumt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Bosnien jüngst verurteilt, weil die Verfassung bestimmte Minderheiten diskriminiert. Akzeptieren Sie dieses Urteil?

    Inzko: Ja, das war ein fantastisches Urteil. Um es den Hörern zu verdeutlichen: In Bosnien konnte jemand für gewisse Ämter nur kandidieren, der einem der staatstragenden Völker angehört hat, zum Beispiel ein Kroate, ein Serbe oder ein Moslem, also ein Bosniake. Wenn man aber dort Jude war oder Albaner, oder, was man vergisst, aus einer gemischten Ehe – das sind vielleicht 20, 30 Prozent der Bevölkerung -, die durften für gewisse Ämter nicht kandidieren. Deshalb hat Jakob Finci, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Sarajevo, eine Klage eingebracht und Gott sei Dank auch gewonnen und das ist eine gigantische Sache für alle. Da muss jetzt die Verfassung geändert werden, ich freue mich schon darauf, damit dann endlich alle Bürger für alle Ämter kandidieren können.

    Herter: Das ist aber nicht die einzige Verfassungsänderung, die notwendig wäre. Sie haben es angesprochen: Es gibt in manchen Ämtern alles dreifach, Bosnier, Kroaten, Serben. Die Bürokratie ist eine große Last für dieses Land, verschlingt einen großen Teil des Staatshaushalts. Das konnte man wohl nicht anders machen, diesen Super-Föderalismus musste man einführen, sonst wäre der Krieg vielleicht gar nicht zu Ende gegangen. Aber ist es nicht längst Zeit, da zurückzuschneiden und zu einer anderen Verfassung zu kommen?

    Inzko: Ja, Sie haben recht und es gibt in Bosnien 14 Regierungen, es gibt Hunderte Minister und Vizeminister, das kostet wahnsinnig viel Geld und das ist eigentlich ein armes Land. In Österreich haben wir auch 10 Regierungen, in Deutschland, glaube ich, 17 oder so, aber das sind natürlich größere Länder und, ich glaube, trotz gewisser Kritik arbeiten diese Regierungen auch sehr effizient. Das kann man aber in Bosnien nicht immer sagen. Da könnte man wirklich mit Sparmaßnahmen, mit Verwaltungsreformen sehr viel erreichen, ohne dass der Bürger irgendeinen Verlust spüren würde. Ich glaube, das wäre auch ein Schritt Richtung Europa.

    Herter: Haben Ihre Vorgänger Verfassungsänderungen wirklich mit aller Energie, die nötig gewesen wäre, vorangetrieben?

    Inzko: Ich glaube schon. Da gab es zum Beispiel diese Bestimmung, dass alle drei Völker im ganzen Staatsgebiet gleichberechtigt sein sollen. Das hat mein Kollege Petritsch vorangetrieben. Das war sehr, sehr mühsam und ich weiß, die letzte Verhandlungsrunde hat über 100 Stunden gedauert, denn bis zu diesem Zeitpunkt gab es nur eine gewisse Gleichberechtigung auf eigenem Gebiet, wo man die Mehrheit hatte, und Petritsch hat eben durchgesetzt, dass es auf dem ganzen Staatsgebiet so sein soll. Aber natürlich, es ist nicht eine ideale Verfassung, es ist eine Verfassung, die auf einem Flughafen geschrieben wurde nach dem Krieg und innerhalb von drei Wochen. Man könnte vieles verbessern und auch deshalb ist der Weg nach Brüssel so wichtig.

    Herter: Warum müssen Soldaten, auch die der Bundeswehr, also deutsche Soldaten, dann immer noch für Stabilität sorgen? Warum brauchen sie nach wie vor internationale Richter und Polizeikräfte?

    Inzko: Die internationalen Richter werden langsam abgebaut. Wir versuchen, die nächsten drei Jahre in einer Übergangsphase die internationalen Richter und Staatsanwälte durch lokale Richter und Staatsanwälte zu ersetzen. Das ist das eine. Auch bei der Polizei bauen wir ab. Was die internationale militärische Präsenz betrifft, so gab es nach dem Krieg dort über 60.000 Soldaten. Im Moment sind es nurmehr etwas über 2000 und diese 2000 sind aber sehr wichtig wegen der Abschreckung, als Abschreckungsfaktor, wegen der Symbolik. Und außerdem sollen wir auch nicht zu bescheiden sein. Diese militärische Präsenz war ein gigantischer Erfolg, das ist eine wirkliche große Erfolgsgeschichte und wir sollen diesen Frieden mit diesen paar Soldaten, die es dort noch gibt, weiter sichern, die sollen weiter bleiben. Dadurch sichern wir europäischen Frieden und ich würde meinen, solange es möglich ist, sollen die Soldaten bleiben.
    Dazu muss ich noch sagen, diese Soldaten genießen ein wahnsinnig großes Ansehen bei der Bevölkerung. Für die Bevölkerung ist es sehr, sehr wichtig, diese Präsenz zu haben, obwohl es keine militärische Notwendigkeit mehr direkt gibt.

    Herter: Ist Bosnien inzwischen ein richtiges Land, oder immer noch ein internationales Protektorat? Wenn man auch gerade Ihre Befugnisse betrachtet, könnte man auf diese Idee kommen.

    Inzko: Das ist interessant, was Sie sagen. "Richtiges Land", diese Formulierung hat auch Chris Patten, der Außenkommissar, vor einiger Zeit verwendet, sogar im Deutschen Bundestag. Das ist natürlich noch keine Westminster-Demokratie, aber wir müssen nicht unfair sein. Auch bei uns hat es eine lange Zeit gedauert.

    Herter: Ist die internationale Gemeinschaft dabei, Bosnien zu vergessen?

    Inzko: Es gibt eine gewisse Bosnien-Müdigkeit, es gibt eine gewisse Erweiterungsmüdigkeit, aber ich glaube, in letzter Zeit haben wir wieder ein verstärktes Interesse an Bosnien feststellen können. Ich erinnere da an einen Artikel, der vor zwei, drei Tagen erschienen ist, in der Financial Times, von Lord Ashdown, einer meiner Vorgänger, und darin gibt es auch eine neue Beauftragte, Hohe Beauftragte für Außenpolitik in der EU, die Katherine Baroness Ashton, die hat großes Interesse an Bosnien bekundet. Außerdem ist es auch so: wenn wir uns anschauen, dass Serbien jetzt den Brief abgeschickt hat, um Kandidat zu werden für die EU, und andere Länder auch Fortschritte machen in der Region wie Kroatien, dann wird, glaube ich, auch ein Sog entstehen, wo auch dann Bosnien mit dabei sein wird auf diesem Weg von Dayton nach Brüssel.

    Herter: Valentin Inzko, der Hohe Beauftragte der internationalen Gemeinschaft in Sarajevo, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk über die Zukunft von Bosnien. Herr Inzko, vielen Dank. Dieses Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.